Samstag, 21. September 2019

Über Absicht

Schon oft hat der Blogautor in Beiträgen daran erinnert, daß es im Nachdenken über Evolution einen völligen Umschwung gegeben hat, seit der britische Paläontologe Simon Conway Morris mit seinem Buch "Life's Solution" von 2003 gegen Stephen Jay Gould's Buch "Zufall Mensch" Stellung genommen hat und das biologische und auch philosophische Denken der Menschheit damit auf völlig neue Bahnen gebracht hat. Es geschah das mit einem Buch voller wissenschaftlicher Fakten. Selten genug wird dieser Umstand mit ausreichender gedanklicher Tiefe erörtert.

Herausgegeben von Michael Ruse, 2007
Aber das ist auch der Grund dafür, daß immer mehr Christen immer weniger theologische Argumente, sondern (fast) nur noch rein wissenschaftliche und entsprechende philosophische Argumente vorbringen, um - in letzter Instanz - eine Lanze für den monotheistischen Irrwahn zu brechen. (Das tat übrigens auch Stephen Jay Gould, allerdings auf seine Weise.) Und das ist heute auch die Rolle des populären - und populär gemachten - kanadischen Psychologie-Professors Jordan B. Peterson. Aber Weniger "populär" und mit viel größerer gedanklicher Tiefe kann das schon seit vielen Jahrzehnten auch bei dem britischen Wissenschafts-Philosophen Michael Ruse (geb. 1940) (Wiki) beobachtet werden. Ihn konnte man deshalb immer schon eher positiv als negativ wahrnehmen.*) Ruse scheint aber mit dem Alter sogar noch besser zu werden als er jemals war und noch weniger Theologie-geleitet zu denken als er das früher schon getan hat. Kann eigentlich mehr erwartet werden?

Jedenfalls ist ein neues Buch von Ruse mit dem Titel "Über Absicht" ("On Purpose") erschienen und wird in angesehenen Zeitschriften besprochen (1). Es geht natürlich um nichts geringes als um die These, daß alles, was ist, "beabsichtigt" sein könnte, "gewollt" sein könnte, sprich, auch einen "Sinn", ein "Ziel", einen "Zweck" haben könnte, und zwar - was hier von besonderer Bedeutung ist - ohne daß zunächst auf monotheistischen Gotteswahn rekuriert würde oder gar zu plump auf ihn hingesteuert würde, sondern indem vor allem erst einmal einfach nur auf die Tradition philosophischen Denkens seit der Antike rekuriert wird (1):
Hier ist ein Autor mit der bedeutendsten Arbeit befaßt, mit der Philosophen befaßt sein können. Er konzentriert sich darauf zu verstehen und dadurch auch seinen Lesern beim Verständnis zu helfen, welches die Rolle einer bestimmten Idee in der Entstehung, im Verständnis und in der Anwendung der Evolutionstheorie war und ist. Diese Idee ist (...) 'Teleologie', bzw. 'Absicht'. Ruse argumentiert, daß seit den Berichten über die klassischen griechischen Philosophen, insbesondere Platon und Aristoteles und weiter über die Vertiefungen und die Argumente der Aufklärung, in der Ära Darwins und in der industriellen Revolution Vorstellungen über Absicht und Fortschritt Schlüssel für das Verständnis der Natur gewesen sind. Er schlägt im weiteren vor, daß obwohl dies Herausforderungen für den Naturforscher des 19. (und des 21.) Jahrhunderts sind, wir diese Herausforderungen dennoch annehmen sollten, die Bedeutung dieses Gedankens anerkennen sollten und damit dann weiter gehen sollten.
Original: Here, the author is engaging in what, to my mind, is the most important work philosophers can do. He is focused on understanding, and thereby helping his readers understand, the role of a particular idea in the formation, understanding, and application of evolutionary theory. The idea under his philosophical and historical lens is “teleology” or purpose. Ruse argues that from the accounts of the classical Greek philosophers, particularly Plato and Aristotle, through the refinements and the arguments of the Enlightenment, and into Darwin’s era and the industrial revolution, notions of purpose and progress have been key to our understanding of nature. He goes on to suggest that although this presents challenges for the 19th-century student of nature (and the 21st), we should embrace these challenges, recognize the importance of this idea, and carry on.
Genau dieselben Gedanken hätten auch von der deutschen Philosophin Mathilde Ludendorff formuliert worden sein können. bzw. könnten im Sinne ihrer Philosophie genau so formuliert werden. Der Rezensent schließt seine Rezenension ab mit den Worten (1):
Warum singen Vögel? Was ist der Ursprung der Moral? Was ist der Ursprung von Religion? Für den Autor sind diese Fragen wert, sorgfältig überdacht zu werden. Mehr noch, das Nachdenken über diese Fragen gibt dem Leben Sinn. Obwohl moderne Biologen und Philosophen oft daran gearbeitet haben, das Konzept der Absicht in der biologischen Forschung zu eliminieren, schreibt Ruse in seinem letzten Kapitel: "All das heißt, das Gespräch über Absicht ist angemessen und bedeutungsvoll". Obwohl ich nicht vollständig mit seinen Schlußfolgerungen übereinstimmen kann, so ist doch der Weg, den er geht, um zu ihnen zu gelangen, immer erhellend.
Original: Why do birds sing? What is the source of morality? What is origin of religious belief? For the author, these are questions that are worthy of careful contemplation. Further, the contemplation of these questions gives purpose to life. Although modern biologists and philosophers have often worked to expunge the concept of purpose from biological inquiry, Ruse writes in his last chapter: “All of this means that purpose talk is proper and meaningful” (p. 223). Although I may not completely agree with his conclusions, I am always enlightened by the journey to reach them.
Wenn man möchte, kann man das als einen neuen Tonfall in der Debatte erachten. Und all das ist erschienen in der angesehenen Rezensions-Zeitschrift "The Quarterly Review of Biology", in der man wieder und wieder Perlen des Geisteslebens findet, die offenbar zu großen Teilen unabhängig von den sonstigen geistigen Entwicklungen der Menschheit im Verborgenen "wachsen" sollen.

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*) Auch wenn er - schon vor Jahren - von "Darwins Bulldogge" Richard Dawkins als "Neville Chamberlain" naturwissenschaftlichen Denkens gegenüber theologischem Irrwahn gekennzeichnet worden war. Dawkins selbst hat sich nach der Lektüre von Simon Conway Morris gedanklich stark auf Ruse zu bewegt.
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  1. Mark E. Borrello, "On Purpose by Michael Ruse," The Quarterly Review of Biology 94, no. 2 (June 2019): 209-210.  https://doi.org/10.1086/703583  

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