Die Entdeckung des asiatischen "Bruders" des Neandertalers, des "Denisova-Menschen" (2010 - 2012)
Die Geschichte von der Entdeckung einer neuen Menschenart in den letzten zwei Jahren liest sich unglaublich spannend (1). Es gibt darüber auch schon einen guten deutschsprachigen
Wikipedia-Artikel.*)
Diese Geschichte ist einmal mehr ein Zeugnis dafür, in was für aufregenden Zeiten wir leben. Während man sich im 19. und 20. Jahrhundert noch (allein) um Schädel-Kalotten gestritten hat bei der Entdeckung neuer Menschenarten (es sei etwa erinnert an die legendäre Entdeckung des Neandertalers und die zunächst irrtümliche Stellungnahme Rudolf Virchows zu ihr), werden heute im Max Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig neue Menschenarten mal eben in 300 Milligramm Knochenmehl gefunden. Die reinste "Kaffeesatz-Leserei"! Ist das nicht verrückt?! Wen das nicht von der Faszination Wissenschaft und von der Faszination Humangenetik überzeugt - was dann?
Die Einzelheiten dieser Geschichte können den zahlreichen derzeit darüber erscheinenden Publikationen entnommen werden (siehe vor allem: 1). Sie sollen hier nicht noch ein weiteres mal referiert werden. Aber nicht nur die Art selbst ist durch die moderne Humangenetik gefunden worden, sondern es konnte zugleich auch ihr grobes Verbreitungsgebiet und die Art und der Umfang ihres genetischen Fortbestehens innerhalb der heutigen Menschheit bestimmt werden. Das ist auf Wikipedia derzeit folgendermaßen zusammengefaßt:
Bereits im Mai 2010 war eine Studie veröffentlicht worden, die einen Genfluss von den Vindija-Neandertalern zu Homo sapiens belegte. Daher wurde auch die genetische Distanz des Denisova-Fossils zu heute lebenden Ethnien analysiert, wobei auf Daten von 938 Menschen aus 53 Populationen zurückgegriffen wurde. Den Befunden zufolge steht das Denisova-Fossil den heute lebenden europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen ferner als die Neandertaler. Hingegen wurde eine signifikante Nähe zur DNA von Menschen aus Melanesien (Papua und Bougainville-Bewohner) festgestellt. Dies führte zur Aussage, dass das Genom der Melanesier – wie das aller modernen Menschen – zu 2,5 ± 0,6 Prozent vom Neandertaler stammt, zusätzlich aber weitere 4,8 ± 0,5 Prozent vom Denisova-Menschen beigesteuert wurden; zusammengerechnet wären dies laut Studie 7,4 ± 0,8 Prozent des Genoms der Melanesier, die von einer früheren Vermischung mit archaischen Homininen stammen.
Im September 2011 wurden weitere genetische Befunde publiziert, die nunmehr auf einem Vergleich der DNA von 33 heute lebenden Populationen aus Asien und Ozeanien mit denen der Denisova-Fossilien beruhten. Demnach konnten DNA-Spuren der Denisova-Menschen auch bei den Aborigines in Australien, bei den Mamanwas auf den Philippinen sowie im Osten von Indonesien nachgewiesen werden, nicht aber im Westen von Indonesien, bei den Onge auf den Andamanen, bei den Jehai in Malaysia und bei Bevölkerungsgruppen in Ostasien. Die Autoren dieser Studie interpretierten den Nachweis von Denisova-DNA in Ost-Indonesien, Australien, Papua-Neuguinea, Fidschi und Polynesien als Beleg dafür, dass die genetische Vermischung in Südostasien stattgefunden habe, was bedeuten würde, dass die Denisova-Menschen ein Gebiet zwischen Sibirien und den Tropen besiedelt hätten. Diese Deutung ist jedoch umstritten, da frühe Wanderungen von Vorfahren der untersuchten Volksgruppen nicht ausgeschlossen werden und die sexuellen Kontakte daher auch weiter nördlich – im asiatischen Kernland – stattgefunden haben könnten.
Nun gut, das sind Detailfragen. Aber: Kein Wunder also, daß die Physische Anthropologie schon seit mehr als hundert Jahren sagt, daß die australischen Ureinwohner und die Negritos Südostasiens archaischeren Menschenarten mehr ähneln als andere Menschengruppen. (Was ja auch jedem Laien sehr schwer fällt zu übersehen.)
Aber mehr noch: Was für Erkenntnispotentiale stecken in der modernen Humangenetik, wenn sie aus wenigen hundert Milligramm Knochenmehl eine solche Geschichte herauslesen kann, die vielhunderttausendjährige Humangeschichte eines ganzen Kontinents, nämlich des asiatischen.
Man kann auch sagen, daß die Naturwissenschaft heute die Menschheit gerne auch mal "um den kleinen Finger wickelt", in diesem Falle um das Endglied jenes kleinen Fingers, dem die wenigen hunderte Milligramm Knochenmehl entnommen worden waren ...
Ja, noch mehr: Die Ureinwohner der Philippinen stammen von anderen Denisova-Menschen ab als die Ureinwohner Neuseelands und Australiens (1, S. 27). Ausgerechnet wieder einmal die berühmte "Wallace-Linie" trennt diese beiden Nachfahrengruppen voneinander und man will jetzt in Leipzig wissen, warum es gerade diese Linie ist (1, S. 28).
Begrenzte genetische Vermischungen von "moderneren" Populationen mit "archaischeren" fördert offenbar die genetische Anpassungsfähigkeit
Und jetzt, jetzt entdecken die Physischen Anthropologen auch in China plötzlich "seltsame Schädel", von denen sie jetzt vermuten, daß es sich um Denisovaner handeln könnte (1, S. 28). Möglicherweise eine Peinlichkeit für die chinesische Anthropologie, daß sie das nicht früher gemerkt hat, daß sie es hier mit einer eigenen Menschenart zu tun hat. Der von uns sehr geschätzte Hamburger Anthropologe Günter Bräuer, ein Schüler von Ilse Schwidetzky, hatte übrigens auch hier offenbar schon wieder einmal Pionierarbeit geleistet, der - trotz der nachmaligen humangenetischen Bestätigung seiner ebenfalls frühzeitigen "Out-of-Africa-Hypothese" - offenbar dennoch bis heute in China kaum nachgegangen worden ist. Die Humangenetik treibt die Physischen Anthropologen "zu Paaren". Sie treibt sie vor sich her und klärt einmal aufs Neue viele Fragen, die von ihr viele Jahrzehnte nicht hatten geklärt werden können.
Und noch mehr: Neuerdings wird vermutet, daß sich der anatomisch moderne Mensch noch sehr spät (viele zehntausend Jahre nach seiner Artbildung in Afrika) innerhalb Afrikas selbst mit dort noch weiterlebenden archaischeren Menschenarten vermischt haben könnte. Diese weiterlebende archaischere Menschenart scheint vor allem in Zentralafrika ihre Heimat gehabt zu haben, da genetische Signale derselben derzeit am "dichtesten" bei den Pygmäen gefunden werden (1, S. 33).
Die heutigen Papuas scheinen 95 Prozent ihrer Immungene von dem Denisova-Menschen geerbt zu haben (1, S. 34 - 36), woran ablesbar wird, das Vermischungen einwandernder mit einheimischen Populationen notwendige genetische Anpassungsprozesse der einwandernden Population erleichtert haben könnten in der Evolution. Eine Theorie, die der Humangenetiker John Hawks frühzeitig auf seinem Blog vertreten hat, und die nun zahlreiche Bestätigungen erhält. Man möchte z.B. meinen (das vertreten wir hier auf dem Blog ebenfalls seit Jahren), daß auch die genetische Geschichte des aschkenasischen Judentums und die vermutete Vermischung seiner Gründerpopulation mit deutschen Frauen nicht unbeträchtlich genetische Anpassungsprozesse an den mitteleuropäischen Kulturraum beschleunigt haben und damit zu der großen menschheitsgeschichtlichen Bedeutung des aschkenasischen Judentums mit beigetragen haben werden.
Man kann also vermuten, daß hiermit ein allgemeingültigeres Gesetz der Humanevolution entdeckt worden ist, das auch heute und künftig noch gültig sein wird. Man fragt sich: Welche kulturellen und genetischen Selektionsprozesse sind es heute, die maßgeblich zur genetischen Zusammensetzung jener Populationen beitragen werden, die die künftige Geschichte der Menschheit tragen werden?
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1. Ewe, Thorwald: Denisova-Mensch (der Heft-Titel). In: Bild der Wissenschaft 5/2012, S. 20 - 37