Dienstag, 11. Oktober 2011

Die Gen-Kultur-Koevolution in Ungarn

Am Beispiel der angeborenen Fähigkeit/Unfähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können

Um 850 n. Ztr. eroberten sieben ungarische Stämme die heutige ungarische Tiefebene und brachten - wahrscheinlich - die heutige Sprache der Ungarn mit. Ebenso viele bis heute fortbestehende Kulturelemente. Ihre an einer bestimmter Stelle im Genom verschaltete genetische Unfähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können, weist sie auch auf genetischem Gebiet als eine klar von der unterworfenen einheimischen Bevölkerung unterschiedene Gruppierung aus, wie eine neue Studie ans Licht gebracht hat (1). Darüber, wie sich ihre Nachkommen und damit ihre Gene anteilsmäßig bis heute im ungarischen Volk ausbreiteten oder zurückgingen, läßt sich anhand dieser Studie noch nicht sehr viel sagen.  

Abb. 1: Ungarischer Bogenreiter
In der Studie (1) wurden Knochenüberreste der damaligen Eroberer und Knochenreste der von ihnen damals unterworfenen Bevölkerung auf die Häufigkeit einer bestimmten genetischen Sequenz für die angeborenene Fähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können, untersucht. Die Ergebnisse wurden mit der Häufigkeit in den heutigen Bevölkerungen in diesem Raum und in weiter östlich lebenden Völkern verglichen.

- Die Gräber der Unterworfenen sind archäologisch laut dieser Studie gut unterscheidbar von denen der ungarischen Eroberer aufgrund der einfachen Grabausstattung. Die ungarischen Kriegergräber hatten alle aufwendige Grabbeigaben, einen Pferdekopf und ähnliches. -

Das Ergebnis 


Nun ist das klare Ergebnis der Studie, daß die damals unterworfene Bevölkerung eine annähernd ähnliche Häufigkeit von Erwachsenenrohmilchverdauung aufweist wie die heutige Bevölkerung in diesem Raum - und wie sie die dortigen Bevölkerungen wohl auch schon lange Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor aufwiesen (allerdings frühestens nach der Linearbandkeramik, nach 4.900 v. Ztr., siehe frühere Beiträge). Nur die ungarischen Eroberer weichen davon ab, insofern sie diese Fähigkeit ebensowenig aufweisen, wie sie damals und heute in der Regel in den östlichen, finno-ugrischen und asiatischen Völkern vorkommt, mit denen die ungarischen Eroberer noch am ehesten als genetisch verwandt erachtet werden.

Laut Tabelle 1 sind von den 9 untersuchten Unterworfenen sechs monozygot für die hier verschaltete Unfähigkeit (CC), einer dizygot und zwei monozygot für die an dieser Stelle verschaltete Fähigkeit (TC, TT) als Erwachsener Rohmilch verdauuen zu können, also:
- 67 Prozent CC - 11 Prozent TC - 22 Prozent TT. 

Alle von den 13 untersuchten Eroberern sind monozygot für die an dieser Stelle (C/T-13910) genetisch verschaltete Unfähigkeit als Erwachsener Rohmilchverdauen zu können, also:
- 100 Prozent CC - 0 Prozent CT - 0 Prozent TT.
In der heutigen ungarischen Bevölkerung sind für die an dieser Stelle verschaltete Fähigkeit/Unfähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können:

- 39 Prozent CC - 50 Prozent TC - 11 Prozent TT.

Erörterung


Läßt sich nun aus diesem Ergebnis der Einfluß der Eroberer auf die genetische Zusammensetzung des heutigen ungarischen Volkes ablesen?*) Wohl kaum.

Abb. 2: Ungarische Husarenmütze (Kalpak)
Aufgrund der kleinen frühmittelalterlichen Stichprobengröße wird es wohl zur Zeit noch wenig Sinn machen, über die Art der Selektionstrends vom Frühmittelalter bis heute großartige Aussagen zu machen. Insbesondere auch deshalb, weil es ja in Ungarn - wie auch sonst - seit dem Frühmittelalter eine Vervielfachung der Bevölkerung gegeben hat. So könnte sich beispielsweise auch die Nachkommenschaft der Eroberer gegenüber ihrer eigenen Ausgangspopulation vervielfacht haben, obwohl der Anteil der an dieser Stelle monozygot Rohmilch-Unverträglichen - auch von der Gruppe der Unterworfenen ausgehend - seither in Ungarn deutlich zurückgegangen ist.

Ebenso drängt sich ja auch der Eindruck auf, daß die Eroberer zu dem deutlich angestiegenen Anteil der Dizygoten beitragen haben könnten.

Oder spiegelt sich in der "weniger vermischten" Gruppe der Unterworfenen (gegenüber der heutigen) noch ein früheres Völkerwanderungs-Ereignis wieder? So daß der heutige Stand der Vermischung allein aufgrund der Zeitdauer auch ohne die Schicht der ungarischen Eroberer, die von der Geschichtswissenschaft in der Regel als eine sehr dünne angesehen wird, zustande gekommen wäre? Vieles muß offen bleiben, außer der Tatsache, daß hier eine genetisch sehr deutlich von der einheimischen Bevölkerung unterschiedene Bevölkerung als Eroberer und als Reiterkrieger aufgetreten ist.

Noch einige Auszüge aus der Studie (Hervorhebung nicht im Original):
181 present-day Hungarian, 65 present-day Sekler, and 23 ancient samples were successfully genotyped for the C/T-13910 SNP. (...)
The population we are concerned with here, Hungarian pastoralist nomads, after a period of migration from much further east, entered Europe as seven major tribes that invaded the Carpathian basin from across the encircling mountains around 895 AD. (...)
During the migration they might have been in contact with Finno-Ugric populations, Kazars, Petchenegs, Bolgars, Savirs, Kabars, and Alans living in the northwestern and southwestern regions of the Ural and in the Caucasus. The Carpathian basin had been settled for thousands of years before the arrival of the Hungarians, by Dacians, Romans, Sarmatians, Goths, Huns, Avars, Slavs, and many others. (...)
The samples, provided by the Archeological Institute of the Hungarian Academy of Sciences, had been excavated in cemeteries from the 10th–11th centuries from different regions of the Carpathian basin. Both the burial sites and the bones were archaeologically and anthropomorphologically well-defined. The groups we have called classical conquerors and commoners were distinguished on the basis of the grave findings. Classical Hungarian conquerors were those excavated from rich graves, containing a horse skull, harness, arrow- or spear-heads, mounted belts, braided ornaments and earrings. Commoners were found in graves with impoverished burial remains. (...)
The genotyping of the C/T213910 autosomal SNP was successful in 23 ancient bone samples (13 classical conquerors, nine commoners, and one not determined). (...)
The three ancient samples with a lactase persistent genotype were all commoners and all displayed haplogroup H, which is the most common in Europe. (...)
The prevalence of the T213910 allele (lactose tolerance) in the subgroup of ancient commoners was similar to that of the present-day Hungarians, North-west Russians, Austrians, Slovaians, Chechs, and Germans; in the subgroup of classical conquerors it corresponded well with the prevalence of Ob-Ugric present-day populations, such as Khantys, or Maris, and certain Central-Asian and Turkish populations. (...)
Significant difference was found in the C/T213910 genotypes and allele frequencies between the ancient Hungarian conquerors and the present-day Hungarianspeaking populations. (...)
In ancient Hungarians, the T-13910 allele (lactose tolerance) was present only in 11% of the population, and exclusively in commoners of European mitochondrial haplogroups who may have been of pre-Hungarian indigenous ancestry. This is despite animal domestication and dairy products having been introduced into the Carpathian basin early in the Neolithic Age. This anomaly may be explained by the Hungarian use of fermented milk products, their greater consumption of ruminant meat than milk, cultural differences, or by their having other lactase-regulating genetic polymorphisms than C/T-13910. The low prevalence of lactase persistence provides additional information on the Asian origin of Hungarians. 
Present-day Hungarians have been assimilated with the surrounding European populations, since they do not differ significantly from the neighboring populations in their possession of mtDNA and C/T-13910 variants.
Abschließend weisen die Autoren noch darauf hin, daß es sein könnte, daß die Fähigkeit zur Erwachsenen-Rohmilchverdauung - wie in anderen asiatischen (und afrikanischen) Völkern auch - noch an anderer Stelle genetisch verschaltet ist, als bei der hier und auch sonst zumeist erforschten "klassischen" ("europäischen") Stelle im Genom.

Neue archäogenetische Studie, Juli 2020


Abb. 3: Herkunft der Ungarn nach neuesten archäogenetischen Daten in Abgleich mit dem archäologischen Kenntnisstand (aus: 3)
Ergänzung, Juli 2020: Neue archäogenetische Untersuchungen können die Herkunft der Ungarn aus dem Ural deutlich genauer eingrenzen, ebenso Teile ihrer Wanderungsbewegungen (Abb. 3) (3). Auffallend ist ja auch, daß diese Zuwanderung der Ungarn in das Donaubecken auf dem Höhepunkt der Wikingerzeit stattfand und im Zusammenhang mit dem Khasaren-Reich stand. Hier könnte also die nun besser verstandene Frühgeschichte der Ungarn auch neue Erkenntnisse hinsichtlich der Geschichte der Wikinger und der Khasaren im heutigen russischen Raum mit sich bringen.

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ResearchBlogging.org*) Ob nicht allerdings auch bei den Eroberern Menschen mitgezogen sein dürften (z.B. Sklaven, Abhängige), die in einfachen Gräbern bestattet worden sind, wird nicht erörtert. Diese könnten vielleicht auch den Anteil der monozygot Rohmilch-Unverträglichen unter den Unterworfenen vergrößert haben. Allerdings dürften ihre gleichzeitig untersuchten, wenn auch wenig erörterten europäischen genetisch-mitochondrialen oder auch physisch-anthropologischen Merkmale einige Sicherheit geben. - ?

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  1. Nagy D, Tömöry G, Csányi B, Bogácsi-Szabó E, Czibula Á, Priskin K, Bede O, Bartosiewicz L, Downes CS, & Raskó I (2011). Comparison of lactase persistence polymorphism in ancient and present-day Hungarian populations. American journal of physical anthropology, 145 (2), 262-9 PMID: 21365615
  2. Dienekes: Scarcity of lactase persistence in medieval Hungarians. 1.3.2011, http://dienekes.blogspot.com/2011/03/scarcity-of-lactase-persistence-in.html
  3. Early Medieval Genetic Data from Ural Region Evaluated in the Light of Archaeological Evidence of Ancient Hungarians. Veronika Csaky, Daniel Gerber, Bea Szeifert, Balazs Egyed, Balazs Stegmar, Sergej Gennad'evich Botalov, Ivan Valer'evich Grudochko, Natalja Petrovna Matvejeva, Alexander Sergejevich Zelenkov, Anastasija Viktorovna Slepcova, Rimma D. Goldina, Andrey V. Danich, Balazs G. Mende, Attila Turk, Anna Szecsenyi-Nagy. Preprint, bioRxiv ,13.7.2020; doi: https://doi.org/10.1101/2020.07.13.200154

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