Montag, 30. März 2020

Was geschieht im heranreifenden Embryo mit der Epigenetik?

Neueste Erkenntnisse zur epigentischen Vererbung an nachfolgende Generationen

Das folgende Video elektrisiert. Und zwar jedes mal aufs Neue, wenn man es sieht (1).





Vor allem ist es die Begeisterung, mit der dieser Forscher von seinen Forschungen berichtet. Aber es ist mehr. Er ist zugleich mit sehr grundlegenden Fragestellungen befaßt. Nämlich - letztlich - mit der Frage, wie Evolution eigentlich funktioniert, funktionieren kann, wie - vielleicht - neue Arten entstehen können. Leider gibt es zu diesem Video (noch) keine deutschen Untertitel.

Seit Jahrzehnten gibt es in der Wissenschaft Hinweise darauf, daß erworbene Eigenschaften - auch Erinnerungen, insbesondere traumatischer Art - an nachfolgende Generationen weiter gegeben werden können. Dabei handelt es sich um die berühmte "Vererbung erworbener Eigenschaften", die seit dem berühmten Evolutionsforscher Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) immer wieder erneut anerkannt und verworfen worden sind. Ihre Existenz ist aber inzwischen längst gesichert. Der am besten bekannte und erforschte Mechanismus diesbezüglich ist der Umstand, daß an den DNA-Strang sogenannte "Methyl"-Gruppen angehängt sind. Diese bestimmen, ob ein bestimmter Abschnitt der DNA abgelesen werden soll oder nicht, bzw. in welchem Umfang das geschehen soll. Das wird auch als Methylisierung bezeichnet. Der Methylisierungszustand bestimmt zunächst, ob innerhalb eines Körpers aus einer undifferenzierten Körperzelle eine Leberzelle, eine Nervenzelle oder eine Darmepithelzelle wird. Denn alle diese Zellen haben ja denselben Genomsatz, der aber in jeder Zelle unterschiedlich abgelesen werden muß. Und genau das geschieht über die Methylisierung, die der wichtigste Aspekt des Themas Epigenetik bildet. Aber es gibt nun viele Hinweise darauf, daß bestimmte Arten der Steuerung dieser Methylisierung von einer Generation zur anderen weiter gegeben werden kann, wodurch man eben dann die "Vererbung erworbener Eigenschaften" hat.

Wenn man nun zum Beispiel eine untersuchte Person hat, die (wie der Autor dieser Zeilen) zwei Großväter gehabt hat, die beide starke Raucher gewesen sind und die (vermutlich) stark geraucht haben sowohl
a) vor der Zeugung ihrer Kinder (also vor der Zeugung der Eltern der untersuchten Person), bzw.
b) in der Nähe ihrer schwangeren Ehefrauen, bzw.
c) in der Nähe ihrer Kinder,
dann kann sich das noch nachteilig auswirken auf den Gesundheitszustand bis auf die Enkelgeneration (also bis auf die untersuchte Person hin). Wenn Großeltern längere Zeit gehungert haben, sind ebenfalls solche Auswirkungen festgetellt worden. Ebenso gibt es Hinweise, daß auf diese Weise die Auswirkungen von Traumatisierungen an nachfolgende Generationen weiter gegeben werden können.


Abb. 1: Epigenetische Reprogammierungen während der Embryo-Entwicklung (obere Reihe), sowie die Blut-Hoden-Schranke, die wichtig ist bei der Heranreifung der männlichen Samenzellen (untere Reihe) (aus: 1)

Die Mechanismen allerdings, über die das geschieht, sind im einzelnen noch keineswegs besonders gut verstanden. Kürzlich ist ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand erschienen (2). Er behandelt den Forschungsstand bezüglich von Menschen und nichtmenschlichen Säugetieren, hat also nicht solche Organismen im Blick, über die im einleitenden Video dieses Blogartikels so begeistert und mitreißend berichtet wird.

Dennoch wollen wir ihn im folgenden auswerten. Dieser Überblicksartikel enthält eine solche Fülle an Neuerkenntnissen (für uns), die insgesamt von Bedeutung sind, wenn man sich in diesem Forschungsgebiet zurecht finden will. Dieser Überblick enthält also ebenso wie das Video viele Erkenntnisse, über die man erst in den letzten zehn Jahren angefangen hat, Klarheit zu gewinnen. Deshalb erfährt auch der Autor dieser Zeilen (dessen Biologiestudium 25 Jahre zurück liegt) bei diesen Gelegenheiten zum ersten mal von ihnen. Es wird inzwischen viel genauer der Frage nachgegangen, über welche Wege epigenetische Programmierungen eines erwachsenen Menschen oder eines erwachsenen Tieres an die Nachkommenschaft weiter gegeben werden können und in welchen Lebensphasen das geschiehen könnte (Abb. 1).

Die Einsichten sind zugleich auch in der Grafik, die dieser Studie entnommen wurde, übersichtlich zusammengefaßt (Abb. 1).

Was geschieht vor der Zeugung, was während der Zeugung, was in den Tagen und Wochen danach?


Es gibt vieles, was einem auch als biologisch hinreichend gebildeten Menschen hier zum ersten mal klar werden kann. Dazu gehört zum Beispiel der Umstand, daß auch voll entwickelte Samen- oder Eizellen eines Menschen oder Säugetieres ausdifferenzierte, spezialisierte Zellen sind. Und zwar so wie (fast) jede andere Zellart des Körpers auch. Denn sie weisen eine ähnlichen Methylisierungsgrad auf wie die sonstigen Körperzellen. Allerdings: Es stehen dabei die (männlichen) Samenzellen dem typischen epigenetischen Methylisierungsgrad ausdifferenzierter Körpergewebe (etwa 80 %) deutlich näher als die (weiblichen) Eizellen. Der epigenetische Methylisierungsgrad liegt bei diesen nur bei etwa 50 % liegt (Abb. 1). Ohne dem vorläufig weiter nachzugehen, schreiben wir erst mal hin: Der Grund dürfte vielleicht einfach nur sein, daß Samenzellen - wie andere Körperzellen auch - eine ganze Menge mehr "leisten" müssen auf ihrem Weg zur Eizelle als die Eizelle "leisten" muß, um sich befruchten zu lassen und in die Gebärmutter zu gelangen. (Das mag jetzt eine laienhafte Annahme sein. Wenn jemand unter Lesern dazu etwas Genaueres weiß, bitte mitteilen.)

In der Samenzelle wird der Methylisierungsgrad, der für ausdifferenzierte Körperzellen typisch ist, auf dem Weg hin zur Eizelle schon abgebaut (Abb. 1), so daß bei der Vereinigung der beiden Zellen beide in etwa den gleichen Methylisierungsgrad aufweisen. (Ohne jetzt genaueres zu wissen, könnte ich mir denken, daß dieser Abbau des Methylisierungsgrades innerhalb der Samenzelle vor allem direkt vor der Vereinigung oder unmittelbar danach geschieht.)

In den ersten zwei Wochen der Embryonalentwicklung nun geht der Methylisierungsgrad noch weiter zurück ("Post-Fertilization Reprogramming"), während dann ab der zweiten Woche der Methylisierungsgrad wieder zunimmt.

Aber nun wohlgemerkt: Diese Umstände sind deshalb so wichtig, weil wenn über diese Methylisierung erworbene Eigenschaften an die folgende Generation weiter gegeben werden sollen, muß es ja dafür noch "Restbestände" dieser Methylisierung geben. Und wie groß diese "Restbestände" an Methylisierung in den jeweiligen Lebensphasen der hier wichtigen Zellen sind, das eben wird in dieser Grafik (Abb. 1) dargestellt.

Wobei vorbehaltlich gesagt sein soll, daß Methylisierung nicht zwangsläufig der einzige Weg sein muß, über den erworbene Eigenschaften weiter gegeben werden können. In der hier benutzten Studie wird auch auf mehrere andere Möglichkeiten eingegangen. Aber Methylisierung spielt auf jeden Fall eine sehr wichtige Rolle. Und sichtbar ist eben, daß zu allen Zeiten "Restbestände" von Methylisierung übrig sind, so daß Methylisierung zumindest vom Prinzip her ein Weg sein kann, auf dem erworbene Eigenschaften von einer an die nächste Generation weitergegeben werden können.

Es ist nun auch außerordentlich spannend, sich klar zu machen, daß innerhalb des Embryos schon ab der fünften Schwangerschaftswoche die Heranreifung der Keimzellen (je nach Geschlecht: Ei- oder Samenzellen) beginnt und - was nun den Methylisierungsgrad betrifft, einen ganz anderen Weg einschlagen als das ganze übrige Körpergewebe des Embryos (Abb. 1). Während das übrige Körpergewebe des Embryos schon spätestens ab der achten Schwangerschaftswoche im Durchschnitt wieder das Methylisierungsmuster typischer ausdifferenzierter Körperzellen ausweist, findet in den künftigen Keimzellen des Embryos etwas ganz anderes statt, nämlich - - - erneut eine "Reprogrammierung" der Methylisierung. Die Methylisierung geht dabei auf fast 10 % zurück! Und erst zwischen der 16. und 19. Schwangerschaftswoche wird hier der Methylisierungsgrad wieder erreicht, der dann auch noch im Erwachsenenalter vorliegt.

Auf all diesem ergeben sich zunächst zwei Schlußfolgerungen: Genomische Prägungen können die "Reprogrammierung" nach der Befruchtung womöglich leichter überstehen als bei der Heranreifung der neuen Keimzellen (!). Das heißt, die Tochter-Generation kann - vom Prinzip her - mehr von den "erworbenen Eigenschaften" abkriegen als - zumindest auf direktem Weg (sprich noch während der Schwangerschaft) - die Enkelgeneration. Natürlich kann auch die Tochter während ihres Lebens Eigenschaften erwerben, die sie dann an ihre Kinder weiter gibt und diese können dann die direkt von der Großelteren-Generation weiter gegebenen Eigenschaften verstärken oder abschwächen.

Wohlgemerkt, soweit das über den Methylisierungsgrad geschehen würde. So möchten wir das also alles erst einmal beim ersten Augenschein formulieren. Wobei es in der Studie heißt, daß es für die Vererbung erworbener Eigenschaften, die die Reprogrammierung nach der Befruchtung überstehen, schon mehr empirische Daten gibt, als für die Vererbung erworbener Eigenschaften, die auch noch die Reprogrammierung bei der Heranreifung der neuen Keimzellen überstehen (!). Das sei noch einmal im Originaltext zitiert (2, S. 7):
Das Ausmaß, in dem geprägte Regionen durch die Umwelt verändert werden und später an nachfolgende Generationen weiter gegeben werden können (z.B. über Generationen hinweg, indem sie die Reprogrammierung der heranwachsenden Keimzellen überstehen), ist weniger gut dokumentiert.
The extent to which imprinted regions are modified by the environment, and later transmitted to subsequent generations (i.e., transgenerationally by passing through primordial germ cell reprogramming) is less well documented.
Aber nun kommen noch weitere Umstände hinzu. Im Blut eines jeden Körpers kursiert "nicht kodierende" RNA (in Abb. 1: ncRNA). Dabei handelt es sich um Erbinformation, die zwar nicht zwangsläufig "funktionslos" sein muß, die aber zumindest keine Eiweißmoleküle kodiert. Das ist mit "nichtkodierend" gemeint. Das heißt nicht zwangsläufig, daß sie nicht dennoch auf die Genablesung, bzw. auf dem Methylisierungsgrad Einfluß nehmen könnte. Und diese RNA-Moleküle kursieren nun im Blut innerhalb von sogenannten "Exosomen". Wenn Sie, lieber Leser, noch nie etwas von solchen "Exosomen" gehört haben: Dem Autor dieser Zeilen geht es ebenso! (Wessen Biologiestudium 25 Jahre zurück liegt, muß ganz schön wach bleiben, um alles mitzukriegen und zu verstehen, was an der vordersten Front der Forschung alles so geschieht.) Jedenfalls kann natürlich auch in dieser RNA Information enthalten sein. Und diese könnte ebenfalls modifizierende Einlfüsse der Umwelt als Gedächtnis enthalten und mit dieser Information Einfluß nehmen auf die Reprogrammierung in den heranreifenden Keimzellen im Embryo und auch noch während des Erwachsenenalters - wenn sie denn eine "Schranke" überwinden könnte, von deren Existenz der Autor dieser Zeilen bislang auch nichts wußte, nämlich die "Blut-Hoden-Schranke". Verrückt.

Es gibt wohl schon eine gewisse Durchlässigkeit dieser Blut-Hoden-Schranke. Aber wie sie beschaffen ist, muß noch weiter erforscht werden. So viel sollten hier nur einige Grundkenntnisse zum neuesten Kenntnisstand mitgeteilt werden.

Nun gibt es aber auch noch jenen israelischen Wissenschaftler Oded Rechavi, der im Video eingangs zu Wort gekommen war, und der auch anhand des Modellorganismus Fadenwurm aufgezeigt hat, daß Erinnerungen nicht nur über die DNA, sondern auch über die schon genannte, evolutionär ältere RNA weiter gegeben werden können.

Aber was uns zunächst am bedeutsamsten erscheint: Er hat auch gefunden, daß es im Fadenwurm-Genom eine Uhr dafür gibt, für wie viele Generationen eine solche Erinnerung vererbt wird, eine Uhr, die sogar so eingestellt werden kann, daß die Erinnerung für immer weiter vererbt wird. Und könnte damit dann nicht insgesamt Artbildung erklärt werden vom Prinzip her? Diese Uhr, bzw. diesen Mechanismus hat Rechavi "Motek" genannt, das heißt im Hebräischen "süßes Herz".

Motek ist aber eigentlich die Abkürzung für "MOdified Transgenerational Epigenetic Kinetics" (3). Im Vortrag (Video) übrigens macht er so seine Scherze. Er weist einleitend daraufhin, daß frühere Forscher zu ähnlicher Thematik kein so schönes Lebensende gehabt hatten oder er erwähnt Beschneidungen, die aufzeigen würden, daß August Weismann sich seine berühmten Versuche zur Vererbung erworbener Eigenschaften hätte sparen können. Dieser hatte nämlich generationenlang Mäusen Schwänze abgeschnitten, ohne daß die Eigenschaft kürzere Schwänze dann vererbt worden wäre. Köstlich. Ach ne, ähm: Wissenschaft. ;-)
_________________
  1. Oded Rechavi: Transgenerational Biology - The Biology of Heritable Memories. TEDxVienna, 06.12.2019, auf: TEDx Talk, https://www.the-scientist.com/videos/inheriting-memories-66954.
  2. Calen P Ryan, Christopher W Kuzawa: Germline epigenetic inheritance: Challenges and opportunities for linking human paternal experience with offspring biology and health. In: Evolutionary Anthropology, March 2020, DOI: 10.1002/evan.21828 (Researchgate)
  3. http://www.odedrechavilab.com/research-6/2019/5/28/transgenerational-small-rna-inheritance.

Freitag, 27. März 2020

Die Ethnogenese des chinesischen Volkes

Sie erfolgte offenbar (bis in historische Zeit hinein) autochthon, ohne größere Zuwanderung von auswärts

Am 25. März ist eine neue archäogenetische Studie im Preprint erschienen (1). Versuchen wir, die wesentlichsten Erkenntnisse derselben zusammenzufassen, auch wenn sie in der Studie selbst so deutlich noch nicht in Worte gefaßt sind als wir das im folgenden tun werden.

Die heutigen Mongolen ebenso wie ihre vorgeschichtlichen Vorfahren stehen genetisch auf der Mitte zwischen der Völkergruppe des Amur-Flusses (repräsentiert durch die dortigen Ultschen [2]) einerseits und den Menschen im Hochland von Tibet (Nepal) andererseits. Auf der Mitte dieser Achse - zugleich leicht in Richtung südostasiatische Genetik hin verschoben - siedeln sich nun auch die Vorfahren jener Han-Chinesen an, die um 3.000 v. Ztr. am Mittellauf des Gelben Flusses in einer kargen Steppen-Region lebten, die heute Wüste geworden ist (1) (Abb. 1: die offenen, nach unten stehenden Dreiecke in der Mitte).

Abb. 1: Die Völkerkarte Ostasiens nach der Hauptkomponenten-Analyse ihrer genetischen Verwandtschaft; rot sind alle archäogenetisch erfaßten Völker - dabei die offenen, nach unten zeigenden Dreiecke: Wuzhuangguoliang; andere Farben sind die heutigen Völker, dabei: lila (Mitte): Han-Chinesen, grün (rechts): Südchinesen, hellblau (oben rechts) Ami auf Taiwan; gelb die Ultschen am Amur-Fluß und deren Verwandte (aus: 1)

Wir stellen also zunächst fest, daß die Genetik dieser vier großen, unterscheidbaren nordasiatischen Herkunftsgruppen, also

  • der Tibeter (Abb. 1: braun),
  • der Mongolen (orange),
  • der Amur-Leute (gelb) und
  • der Han-Chinesen (lila)

sehr eng mit dem geographischen (und auch kulturellen) Abstand dieser Gruppen zueinander zu korrelieren scheint. Und dieser auffällige Umstand scheint nicht erst heute vorzuliegen, sondern schon um 3.000 v. Ztr. (1). Was diese vier Großgruppen betrifft, sehen wir also zunächst einmal genetische Kontinuität über viele tausend Jahre hinweg. Eine größere geographische Ausbreitungsbewegung einer dieser vier "einheimischen" nordasiatischen Herkunftsanteile von einer Region in eine andere - wie sie für das Neolithikum Europas festgestellt worden ist von Seiten der Archäogenetik - ist für den Zeitraum bis 3.000 v. Ztr. für bislang China nicht festgestellt worden. Hinweise auf eine solche haben sich - jedenfalls bislang - noch nicht gefunden. Ein außerordentlich auffälliger Befund, der zunächst einmal sehr deutlich in Gegensatz steht zu dem bisherigen Bild, das auch wir selbst uns hier auf dem Blog über die Ethnogenese der Chinesen - sehr vorläufig - aufgrund ihrer heutigen Genetik gemacht hatten (2).

Abb. 1a: Legende zu Abb. 1 (aus: 1)

Natürlich kommt spätestens ab 3.000 v. Ztr. in der Mongolei und an der Westgrenze Chinas und Tibets die indogermanische Steppen-Genetik hinzu. Da wir diese aber in groben Zügen schon in früheren Blogartikeln behandelt und verstanden haben - und diese neue Studie das Bild diesbezüglich nicht wesentlich neu zeichnet -, soll diese Steppen-Genetik im vorliegenden Blogartikel unberücksichtigt bleiben. Es ist bislang jedenfalls nicht erkennbar, daß die damit verbundenen indogermanischen Völker irgendeinen genetischen Einfluß auf die Ethnogenese der Han-Chinesen gehabt hätten (1).

Die älteste, bislang archäogenetisch untersuchte Kultur, aus der das Volk der Chinesen offensichtlich hervorgegangen ist, ist bislang erst auf 3.000 v. Ztr. datiert (1). Und auffälligerweise findet sich um 3.000 v. Ztr. in den Vorfahren der heutigen Chinesen noch nicht jener südostasiatische Herkunftsanteil, der heute in allen Han-Chinesen (allerdings in unterschiedlichen Anteilen) vorhanden ist (Abb. 2). Dieser südostasiatische Herkunftsanteil scheint also - geschichtlich gesehen und entgegen dem Bild, das wir uns bisher auch hier auf dem Blog vorläufig gemacht hatten (2) - in der Entwicklung des chinesischen Volkes erst in der weiteren geschichtlichen Entwicklung dazu gekommen zu sein (vermutlich erst nach 300 v. Ztr.), also vermutlich erst in historischer Zeit, vermutlich spätestens seit dem Spätneolithikum (siehe unten: Ergänzung 2).

Vorläufig also - und überraschenderweise - ein völlig anderes Bild als es für die Archäogenetik Europas in den letzten fünf Jahren erarbeitet worden ist.

Wenn wir nun in den Zeitraum vor 3.000 v. Ztr. hinsichtlich der Ethnogenese der Han-Chinesen zurück extrapolieren, so deutet sich bislang für uns an, daß die Han-Chinesen gar nicht hervorgegangen sind aus irgendwelchen großräumigeren Völkerbewegungen oder aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Herkunftsanteile (wie die neolithischen Kulturen Europas). Vielmehr könnte es so sein, daß sich die Han-Chinesen einfach aus den lokal am Gelben Fluß lebenden Jäger-Sammler-Völkern heraus weiter entwickelt haben und mit ihrer eigenen, gleichbleibenden Genetik zum Ackerbau übergegangen sind. Dann würde unsere erst kürzlich aufgestellte Hypothese, bzw. sehr spekulative Vermutung (2), daß die erfolgreichste Evolution von Intelligenzgenetik der Völker auf der Nordhalbkugel regelmäßig etwas mit "Halb-und-Halb"-Mischungen genetisch sehr unterschiedlicher Herkunftsgruppen zu tun haben könnte, widerlegt sein.

Am Mittelauf des Gelben Flusses (Wiki) im Norden Chinas, wo immer schon die Wiege der chinesischen Zivilisation vermutet worden war, gibt es also einen Ausgrabungsort aus der Zeit um 3.000 v. Ztr. mit den Überresten von 20 Menschen, die sequenziert werden konnten, nämlich in Wuzhuangguoliang (zur Orientierung: Abb. 3 und 4). Die Aufbereitung der Gendaten, gewonnen aus Knochenresten von 20 unterschiedlichen Menschen dieses Ausgrabungsortes steht im Mittelpunkt der ersten, umfassenden archäogenetischen Studie zur Geschichte der Han-Chinesen, die am 25. März im Vorabdruck erschienen ist (1). Diese Studie wertet die archäogenetischen Daten von insgesamt 191 Menschen aus, die zwischen Neolithikum und Eisenzeit in verschiedenen Regionen Ostasiens gelebt haben (Jomon in Japan, Völker auf Taiwan, in Tibet, der Mongolei und so weiter).

Abb. 2: Der Anteil der südostasiatischen Reisbauern-Herkunft (orange) bei den heutigen Han-Chinesen (blau) - der sich nach Nordchina - vermutlich - ab dem Spätneolithikum erst in historischer Zeit ausgebreitet hat (aus 1)

In Abbildung 2 sehen wir nun, was wir in früheren Beiträgen schon grob behandelt hatten: Ein südchinesischer Herkunftsanteil, der vermischt ist mit einem nordchinesischen Herkunftsanteil. Allerdings ist die Vermischung zwischen beiden nicht "Halbe-Halbe", wie wir es bisher angenommen hatten, sondern jener nordchinesische Herkunftsanteil wie er in den Skeletten von Wuzhuangguoliang gefunden wurde (und der - übrigens! - auch keineswegs - wie bislang von uns angenommen - identisch ist mit der Herkunftsgruppe der Leute am Amur-Fluß), beträgt bei den heutigen Han-Chinesen zwischen 77 und 93 % (1) und der südchinesische Herkunftsanteil macht jeweils den Rest.

Dieser Rest hat sich bis zum Gelben Fluß spätestens ab dem Spätneolithikum ausgebreitet (siehe Ergänzung 2). Wenn wir berücksichtigen, daß die heutigen Japaner und Koreaner genetisch - nach dieser Studie - zu  84, bzw. 87 % Han-Genetik in sich tragen und zu 15, bzw. 12 % (einheimische) Jomon-Genetik, aber keinerlei südostasiatische Genetik (1) (haben wir das richtig verstanden?), dann muß der Zufluß der letzteren nach jenem Nordchina, von wo (ab 300 v. Ztr.) die Besiedelung Koreas und Japans durch Reisbauern Han-chinesischer Herkunft ihren Ausgang nahm, noch nicht so weit fortgeschritten gewesen sein (Wiki).

Diese Überlegung wird in der ausgewerteten Studie (1) noch gar nicht formuliert, scheint uns aber doch sehr naheliegend zu sein.

Und wie schon angedeutet, stellt sich nun heraus, daß dieser nordchinesische Herkunftsanteil - wie er sich um 3.000 v. Ztr. so unvermischt in Wuzhuangguoliang am Mittellauf des Gelben Flusses findet - keinesfalls identisch ist mit der Genetik der Ultschen am Amur-Fluß nördlich von Korea, wie wir das bislang wahrgenommen hatten (2). Vielmehr zeigt sich in Abbildung 1, daß die Menschen von Wuzhuangguoliang um 3.000 v. Ztr. genetisch noch sehr viel uneinheitlicher waren ("weiter streuten") als das die Han-Chinesen heute tun (Abb. 1: offene, nach unten stehende Dreiecke). Aber sie stehen genetisch eben sehr deutlich auf der Mitte eines Verwandtschaftsgradienten zwischen den Ultschen am Amur-Fluß einerseits und den Tibetern im Hochland von Tibet andererseits. Und sie weichen auch von den ebenfalls auf dieser Mitte stehenden Mongolen ab. Genetisch sind die Mongolen vom südchinesischen Herkunftsanteil noch weiter entfernt als die Han-Chinesen von Wuzhuangguoliang.

Und damit ergibt sich das Bild, das wir eingangs schon beschrieben haben.

Abb. 3: Der archäologische Fundort Wuzhuangguoliang in der Nähe von Hengshan am Gelben Fluß an der Südgrenze der Inneren Mongolei

Wuzhuangguoliang ist heute Wüste, um 3.000 v. Ztr. war es Steppen-Gebiet. Die Menschen dort haben Rinder und Schweine gehalten, aber auch viel Wild gejagt.

Soweit die uns wesentlichsten Ergebnisse der Studie. Nun noch Detailerkenntnisse zu einigen der genannten Großgruppen, Detailerkenntnisse, die aber nicht mehr das große Bild betreffen, jedoch manche Differenzierungen im Detail erlauben.

Die tibetische Völkergruppe

Die Großgruppe der Tibeter, also das in der Studie erörterte tibetische Cluster, wird von den Forschern in drei Unter-Cluster eingeteilt, in ein "Kern-tibetisches" (dem heutigen Nepal nahestehendes), ein Nord-tibetisches (in das sich indogermanische Steppen-Genetik von der Seidenstraße her kommend eingemischt hat) und ein  "Tibet-Yi Korridor"-Cluster, angesiedelt am östlichen Ende des tibetischen Plateaus, in der Region, die das Hochland von Tibet mit den tiefer gelegenen Regionen verbindet. In dieser Region lebt beispielsweise auch die Volksgruppe der Qiang (Wiki). Außerdem leben hier Volksgruppen, die Tibetisch-sprachig sind, sowie Lolo-Burmesisch-Sprechende. Sie alle tragen heute zu 30 bis 70% südostasiatische Herkunftsanteile in sich. Und es darf wohl vorläufig davon ausgegangen werden, daß diese südostasiatischen Herkunftsanteile sich auch hier ab dem Spätneolithikum und bis erst in historische Zeit eingemischt haben. (Wie gesagt: alles vorläufige Wahrnehmungen.)

Die Völkergruppe am Amur-Fluß

An der Küste südlich von Wladiwostok fand man eine ganze Familie der neolithischen Boisman-Kultur (5.000 v. Ztr.) (Wiki) bestattet, und zwar ein Elternpaar und vier Kinder (1). Diese Boisman-Bauern-Kultur war ein Fischervolk und hat viele Muschelhaufen hinterlassen (1; Suppl Inform.). Und dieses Volk stand nun genetisch dem Fischervolk der Ultschen am Amur-Fluß (und gefundenen Skeletten einer dortigen Teufels-Höhle) vergleichsweise nahe. In der Studie heißt es dazu (1):

Die Individuen der neolithischen Boisman-Kultur (etwa 5.000 v. Ztr.) und der eisenzeitlichen Yankovsky-Kultur (etwa 1.000 v. Ztr.) zusammen mit schon früher publizierten Daten aus der Teufels-Höhle (etwa 6.000 v. Ztr.) sind genetisch untereinander alle sehr ähnlich. Sie dokumentieren das kontinuierliche Bestehen dieses Herkunftsprofils im Tal des Amur-Flusses über 8.000 Jahre hinweg. (...) Die neolithischen Boisman-Individuen teilen Herkunftsanteile mit den Jomon wie dies hatte angenommen werden können aufgrund ihrer Zwischen-Stellung zwischen der Ostmongolei und den Jomon. 
The individuals from the ~5000 BCE Neolithic Boisman culture and the ~1000 BCE Iron Age Yankovsky culture together with the previously published ~6000 BCE data from Devil’s Gate cave are genetically very similar, documenting a continuous presence of this ancestry profile in the Amur River Basin stretching back at least to eight thousand years ago (Figure 2 and Figure S2). The genetic continuity is also evident in the prevailing Y chromosomal haplogroup C2b-F1396 and mitochondrial haplogroups D4 and C5 of the Boisman individuals, which are predominant lineages in present-day Tungusic, Mongolic, and some Turkic-speakers. The Neolithic Boisman individuals shared an affinity with Jomon as suggested by their intermediate positions between Mongolia_East_N and Jomon in the PCA and confirmed by the significantly positive statistic f4 (Mongolia_East_N, Boisman; Mbuti, Jomon).

Hier handelt es sich also um jene Völkergruppe, die wir kurzgefaßt die Amur-Fluß-Leute genannt haben. Und von diesen stammen die heutigen Han-Chinesen eben keinewegs ab, wie wir bislang angenommen hatten (ausgehend von einem Blogartikel von Razib Khan - wenn wir uns recht entsinnen.)

Die südostasiatische Völkergruppe

Auch die südostasiatische Herkunftsgruppe (bislang repräsentiert durch die taiwanesischen "Amis") konnte besser aufgeklärt werden (1):

Die archäogenetisch untersuchten archäologischen Kulturen in Taiwan und die Völker austronesischer Sprache teilen mehr Herkunftsanteile mit Tai-Kadai-sprachigen Volksgruppen im südlichen Festland-China und auf der Hainan-Insel als sie dies mit anderen Ostasiaten tun. Diese Tatsache steht im Einklang mit der Hypothese, daß jene vorgeschichtlichen Populationen, die viel genetische Ähnlichkeit mit den heutigen Tai-Kadai-Sprachigen haben, die Quelle für die Ausbreitung des Ackerbaus nach  Taiwan vor 5000 Jahre waren. 
Ancient Taiwan groups and Austronesian-speakers share significantly more alleles with Tai-Kadai speakers in southern mainland China and in Hainan Island than they do with other East Asians (Table 395S8), consistent with the hypothesis that ancient populations related to present-day Tai-Kadai speakers are the source for the spread of agriculture to Taiwan island around 5000 years ago.

Aber dann natürlich nicht nur für die Ausbreitung des Ackerbaus nach Taiwan, sondern über ganz Südchina, eben die Reisbauern am Jangtse. Etwas später heißt es dementsprechend noch einmal (1):

Fast die gesamte Herkunft der Völker austronesischer und Tai-Kadai-Sprachen besteht aus der Jangtse-Reisbauern-Herkunft. Und die Herkunft einiger austroasiatisch sprechender Völker leitet sich zu zwei Dritteln aus dieser Herkunftgruppe ab.
Original: The Yangtze River farmer related ancestry contributed nearly all the ancestry of Austronesian speakers and Tai-Kadai speakers and about 2/3 of some Austroasiatic speakers.

Darüber hatten wir ja auch schon in früheren Blogartikeln geschrieben. Und hier scheint das große Bild zunächst nicht verändert zu werden durch die neue Studie.

Die Han-Chinesen

Dann eben heißt es über die Herkunft der Han-Chinesen selbst - und zwar unseres Erachtens zunächst etwas irreführend (1):

Die Han-Chinesen dürften in unterschiedlichen Herkunfts-Anteilen eine Mischung sein zwischen Gruppen, die genetisch der neolithischen Wuzhuangguoliang-Kultur nahe stehen und Völkern, die dem südostasiatischen Cluster nahe stehen.
Han Chinese may be admixed in variable proportions between groups related to Neolithic Wuzhuangguoliang and people related to those of the Southeast Asian Cluster.

Diese Aussage wird zutreffen für die Han-Chinesen ab dem Spätneolithikum und zunehmend mehr in historischer Zeit. Dieser Umstand dürfte nicht ganz unbedeutend sein. Weiter heißt es in der Studie, was sich eben wiederum nur auf die Chinesen frühestens ab dem Spätneolithikum beziehen wird (1):

Wir können fast alle heutigen Han-Chinesen modellieren als Mischlinge zweier ursprünglicher Populationen mit 77 bis 93 % genetischer Herkunft, die in Beziehung steht zum neolithischen Wuzhuangguoliang vom Tal des Gelben Flusses, und mit dem Rest von einer Population, die in Beziehung steht zum vorgeschichtlichen Taiwan, von der wir annehmen, daß sie eng mit den Reisbauern des Jangtse-Flusstales verwandt war.
Original: We can model almost all present-day Han Chinese as mixtures of two ancestral populations, in a variety of proportions, with 77-93% related to Neolithic Wuzhuangguoliang from the Yellow River basin, and the remainder from a population related to ancient Taiwan that we hypothesize was closely related to the rice farmers of the Yangtze River Basin.

Die mongolische Völkergruppe

Sehr spannend ist wohl auch noch, daß die Xiongnu und die Mongolen, aus denen zu nicht geringen Anteilen jene zerstörerischen Hunnen hervorgegangen sein werden, die die antiken indogermanischen Reiche Westasiens und des Mittelmeerraumes (Fürstentümer an der Seidenstraße, Sogder, Iraner usw.) mit der Völkerwanderung in der Spätantike zum Einsturz brachten, zu 20 bis 40 % genetischen Herkunftsanteil von Han-Chinesen hatten zusätzlich zu Herkunftsanteilen aus der zweiten Welle der Indogermanen-Ausbreitung (Shintashta/Andronovo) und zusätzlich zu einheimischen mongolischen genetischen Anteilen (1).

Abb. 4: Der Gelbe Fluß, unter anderem mit seinen Nebenflüssen Wuding und Fen (Wiki)

Und auch diese Studie bestätigt wieder, daß sich in der Population von Shirenzigou die Genetik der ersten Indogermanen-Ausbreitung (Yamnaja/Afanasievo) bis 190 n. Ztr. gehalten hat. Diesen Umstand hatten wir ja hier auf dem Blog schon behandelt. Sie tragen zu je einem Drittel als Herkunftsanteile in sich: Turkvolk-Anteil (westsibirische Jäger/Sammler), Mongolen-Anteil und ursprünglicher Indogermanen-Anteil.

Keineswegs kann und soll mit diesem Blogartikel irgend etwas Abschließendes zum Thema gesagt werden. Es dürfte immerhin spannend sein, ob sich die Umrisse des hier gezeichneten Bildes künftig durch weitere Forschungen bestätigen werden oder ob das Bild doch noch einmal ganz anders zu entwerfen ist.

In Tang-Zeit "Replacement" der einheimischen chinesischen Hunde-Rassen

Ergänzung 1, 30.4.2020: Um 5.000 v. Ztr. lebten in Sibirien und in China domestizierte Hunde der mitochondrialen Haplogruppe A1b (4). Von diesen Hunden stammten jene domestizierten Hunde ab, die sich dann über ganz Südostasien verbreiteten, insbesondere auch mit den austronesischen Völkern über die gesamte pazifische Inselwelt (die heute ausgestorbenen "Polynesischen Hunde" [Wiki]). Von ihnen stammen auch die australischen "Dingo" (Wiki) ab.

Interessanterweise hat es aber - offenbar - in den letzten zweitausend Jahren in China selbst ein "genetic Replacement", einen genetischen Austausch der einheimischen domestizierten Hunderassen durch Hunde der mitochondrialen Haplogruppe A1a gegeben, die aus Europa stammen und heute dort ebenso wie in Nordamerika und Afrika verbreitet sind (4). Das würde nahelegen, daß die Sogder der Tang-Zeit über die Seidenstraße hinweg auf ihren Karawanen von Samarkand aus europäische Hunderassen nach China eingeführt haben, die im Laufe der Jahrhunderte die dort einheimischen Hunderassen verdrängt haben. (Und, wir können uns die Nebenbemerkung nicht verkneifen: Vielleicht haben die europäischen Hunderassen ja auch besser geschmeckt, ähem.)

Ergänzung 1a, 28.6.2020: Auch jene chinesischen Ziegen, von denen die berühmte Kaschmir-Wolle gewonnen wird, stammen vom östlichen Rand des Fruchtbaren Halbmonds, sind also wohl ursprünglich von der iranisch-neolithischen Völkergruppe spätestens um 6.500 v. Ztr. domestiziert und Richtung Osten ausgebreitet worden. Sie kamen dann in der Bronzezeit nach China (11).

Der südchinesische genetische Anteil kam schon im Spätneolithikum an den Gelben Fluß

Ergänzung 2, 1.6.2020: In einer neuen archäogenetischen Studie zu China (5, 6) ist ebenfalls von der "Jahrtausende langen genetischen Stabilität der Völker am Amur-Fluß" ("Long-term genetic stability of Amur river populations") die Rede (5). Auch hier findet man, daß die Vorfahren der heute am Amur-Fluß lebenden Tungusen dort grob mit derselben Genetik spätestens seit dem Neolithikum leben, ursprünglich als Fischer, Jäger und Sammler, später zusätzlich als Herdenhalter und mit ein wenig Ackerbau. (Von dieser 8.000 Jahre langen genetischen Kontinuität ist oben im Artikel schon die Rede gewesen.)

Weiter südlich vom Amur-Fluß hat es die schon früh Hirse anbauenden Bauern-Populationen am Westlichen Liao-Fluß gegeben. Diese Region befand sich zunächst unter dem genetischen und kulturellen Einfluß der Menschen am Gelben Fluß, vom Beginn der Bronzezeit an aber unter dem genetischen und kulturellen Einfluß der Menschen am Amur-Fluß. In der Zusammenfassung der Studie heißt es (5):

Im Gegensatz zur genetischen Stabilität der Amur-Menschen, veränderten sich die genetischen Profile der Menschen am Gelben Fluß und am Westlichen Liao-Fluß über die Zeiten hinweg beträchtlich. Die Populationen am Gelben Fluß zeigen einen stetigen Anstieg ihrer genetischen Ähnlichkeit mit heutigen Südchinesen und Südostasiaten. Bei den Menschen am Westlichen Liao-Fluß korreliert die Intensivierung des Ackerbaus im Späten Neolithikum mit einer erhöhten genetischen Ähnlichkeit mit den Menschen am Gelben Fluß, während das Hereinkommen einer Herden-Wirtschaft während der Bronzezeit mit einer erhöhten genetischen Verwandtschaft zu den Leuten am Amur-Fluß einherging.
Original: Contrary to the genetic stability in the AR, the YR and WLR genetic profiles substantially changed over time. The YR populations show a monotonic increase over time in their genetic affinity with present-day southern Chinese and Southeast Asians. In the WLR, intensification of farming in the Late Neolithic is correlated with increased YR affinity while the inclusion of a pastoral economy in the Bronze Age was correlated with increased AR affinity.

Offensichtlich ist also die schon oben erörterte südchinesische Herkunftskomponente der heutigen Han-Chinesen und Ostasiaten schon spätestens ab dem Spätneolithikum über die Jahrtausende hinweg ganz allmählich immer mehr nach Norden "diffundiert" (vielleicht vergleichbar mit dem zeitgleichen gegenseitigen Durchdringen von anatolisch- und iranisch-neolithischer Genetik auf dem breiten Raum zwischen Mittelmeer und Iran) (5):

Die spätneolithischen Menschen der Longshan-Kultur in der Region am Gelben Fluß waren genetisch schon den heutigen südchinesischen und südostasiatischen Menschen ähnlicher als noch die mittelneolithischen Menschen der Yangshao-Kultur.
Original: Late Neolithic Longshan individuals (“YR_LN”) are genetically closer to present-day populations from southern China and Southeast Asia (“SC–SEA”) than earlier Middle Neolithic Yangshao ones (“YR_MN”).

Damit geht einher eine Zunahme des (südchinesischen) Reis-Anbaus in der Region am Gelben Fluß zwischen Mittel- und Spätneolithikum. In der Bronzezeit hat sich der südchinsische genetische Anteil bei den Menschen am Gelben Fluß dann nicht mehr geändert. Da die heutigen Han-Chinesen noch mehr südchinesische genetische Anteile haben als die spätneolithischen Menschen am Gelben Fluß, muß es aber noch einen weiteren, späteren Schub in der Zunahme des südchinesischen Anteils gegeben haben. Der genetische Einfluß der neolithischen Bauernkulturen am Gelben Fluß erstreckte sich schon im Neolithikum bis weit in die Mongolei.

Ein Podcast bestätigt unsere Interpretation der neuen China-Studien

Ergänzung 3, 28.6.2020: In dem Podcast "The Insight" (7) der US-amerikanischen Humangenetiker Razib Khan und Spencer Wells wird - allerdings nur an einer Stelle kurz - von Razib Khan jener wichtige Grundgedanke geäußert, der in diesem Blogbeitrag - und inzwischen mehrfach in Videos von Seiten des Autors dieser Zeilen umsonnen worden ist: Während es in der Werdezeit der heutigen europäischen Völker zwei fast vollständige "genetic replacement", also zweimal einen fast vollständigen Bevölkerungsaustausch gegeben hat (nämlich am Beginn und am Ende des Neolithikums, also 5.500 v. Ztr, sowie 2.800 v. Ztr.), ist die Werdezeit der ostasiatischen Völker gekennzeichnet von durchgehender genetischer Kontinuität vor Ort. Die Vorfahren der Han-Chinesen sind vor Ort - nämlich am Gelben Fluß - zum Ackerbau übergegangen und haben auch vor Ort die ersten (wohl vorauszusetzenden) Staaten des Mittelneolithikums und der Bronzezeit ausgebildet, ohne dabei jemals genetisch "ausgetauscht" worden zu sein.

Es kam nur ab dem Spätneolithikum mit den Reisbauern südchinesische Genetik noch dazu. Und dieser Anteil wuchs unter den Han-Chinesen in nachfolgenden Geschichtsepochen bis heute langsam an. Es dürfte noch interessant sein zu erfahren, welche Eigenschaften mit diesem südchinesischen genetischen Anteil bei den Han-Chinesen dazu kamen. Insgesamt aber wird wohl beim jetzigen Kenntnisstand gesagt werden dürfen, daß die grundlegenden Eigenschaften der Han-Chinesen und damit Ostasiaten autochthon am Gelben Fluß evoluiert sind und ohne umfangreicheren genetischen Zufluß von außen (in Gen-Kultur-Koevolution).

Dieser Umstand wirft tiefe, womöglich auch geschichtsphilosophische Fragen auf, aber auch Fragen in Hinblick auf die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Intelligenz-Evolution. Die erwähnte Podcast-Sendung ist uns an dieser Stelle aber erst einmal nur deshalb wichtig, weil wir hier zum ersten mal unsere eigene Interpretation der neuesten archäogenetischen Studien zur Frühgeschichte Chinas (siehe oben) von kenntnisreicher Seite bestätigt erhalten. Und zwar von Leuten, deren Arbeit wir schon seit 15 Jahren verfolgen und schätzen. Man darf gespannt sein, wann die Forscher selbst, die an den hier ausgewerteten Studien beteiligt sind, die hier erörterten Themen öffentlich erläutern. (Vielleicht ist das schon irgendwo geschehen, uns aber bislang entgangen.)

Die Podcast-Sendung ist aber auch deshalb interessant, weil in ihr einmal erneut die Bedeutung des ostasiatischen EDAR-Gens (8) umsonnen wird, eines "Schlüssel-Gens", das verschiedene ausgeprägte phänotypische Merkmale der Ostasiaten hervorruft, darunter ihre dicken schwarzen Haare, die kleineren Brüste der ostasiatischen Frauen, die Zahnstellung der Ostasiaten. Es tritt in Kombination mit anderen Genen auf (9), die den geringen Körpergeruch der Ostasiaten hervorrufen, ein anderes Ohrenschmalz und diverse andere Dinge. An der vorgeschichtlichen Verbreitung des EDAR-Gens ist auffällig, daß dies auch bei den mesolithischen Fischern, Jägern und Sammlern in Skandinavien anzutreffen war. Ob es - womöglich - mit der Ausbreitung der Keramik von Japan und China aus soweit nach Westen vorgedrungen ist, ist sicher noch einmal gesondert zu klären.

Und im Podcast wird insbesondere auch auf die phänotypische Einheitlichkeit der Ostasiaten aufmerksam gemacht, die ja auch in enger Verbindung steht mit angeborenen psychischen Merkmalen (z.B. Depressions-Neigung) und der dort vorherrschenden konformistischen Kultur. Immer deutlicher schälen sich die Gesetzmäßigkeiten einer Gen-Kultur-Koevolution diesbezüglich heraus.

Indem man diesen Zusammenhängen nachgeht, kann zeitlich allmählich immer besser eingeordnet werden, wann und aufgrund welcher Umstände der "klassische" ostasiatische Menschentyp entstanden ist. Dieselben Vorgänge können - vielleicht dazu zeitlich parallel - an der Mittleren Wolga bei der Entstehung der (urindogermanischen) Chwalynsk-Kultur beobachtet werden, wo jener Menschentypus entstand, von dem die heutigen Europäer - zu einem Großteil - abstammen (zu bis zu 70 Prozent in Nordeuropa).

Die Geschichte der südchinesischen Abstammungsgruppe kann detaillierter zeitlich eingeordnet werden

Ergänzung 4 (12.11.2020): In einer neuen Studie heißt es (12):

Wir stellen fest, daß die als "Südostasiatische" oder "Jangtse-Reisbauern"-Herkunftsgruppe benannte Linie monophyletisch ist - aber nicht homogen. Denn sie setzt sich aus vier regional unterschiedlichen Untergruppen zusammen. Diese Untergruppen sind jeweils verantwortlich für die Weitergabe des Austronesischen, der Kra-Dai-Sprachen, der Hmong-Mien-Sprachen und der austorasiatischen Sprachen. Ihre ursprünglichen Heimatländer liegen aufeinanderfolgend verteilt von Osten nach Westen im südlichen China. Vielfältige phylogenetische Analysen legen nahe, daß die früheste weiter bestehende Abzweigung von den mit Ostasiaten verwandten Populationen die Ersten Amerikaner sind (etwa 27.700 vor heute), gefolgt von der Aufzweigung vor dem Maximum der letzten Eiszeit zwischen Nord- und Süd-Ostasiaten (etwa 23.400 vor heute) und der vorneolithischen Aufzweigung zwischen den Südostasiaten an der Küste und im Inland (16.400 vor heute). ...
We discover that the previously described ‘Southern East Asian’ or ‘Yangtze River Farmer’ lineage is monophyletic but not homogeneous, comprising four regionally differentiated sub-ancestries. These ancestries are respectively responsible for the transmission of Austronesian, Kra-Dai, Hmong-Mien, and Austroasiatic languages and their original homelands successively distributed from East to West in Southern China. Multiple phylogenetic analyses support that the earliest living branching among East Asian-related populations is First Americans (∼27,700 BP), followed by the pre-LGM differentiation between Northern and Southern East Asians (∼23,400 BP) and the pre-Neolithic split between Coastal and Inland Southern East Asians (∼16,400 BP). In North China, distinct coastal and inland routes of south-to-north gene flow had established by the Holocene, and further migration and admixture formed the genetic profile of Sinitic speakers by ∼4,000 BP. Four subsequent massive migrations finalized the complete genetic structure of present-day Southern Chinese. First, a southward Sinitic migration and the admixture with Kra-Dai speakers formed the ‘Sinitic Cline’. Second, a bi-directional admixture between Hmong-Mien and Kra-Dai speakers gave rise to the ‘Hmong-Mien Cline’ in the interior of South China between ∼2,000 and ∼1,000 BP. Third, a southwestward migration of Kra-Dai speakers in recent ∼2,000 years impacted the genetic profile for the majority of Mainland Southeast Asians. Finally, an admixture between Tibeto-Burman incomers and indigenous Austroasiatic speakers formed the Tibeto-Burman speakers in Southeast Asia by ∼2,000 BP.

________________
  1. The Genomic Formation of Human Populations in East Asia. Chuan-Chao Wang, Hui-Yuan Yeh, Alexander N Popov, (...) Stephan Schiffels, Douglas J Kennett, Li Jin, Hui Li, Johannes Krause, Ron Pinhasi, David Reich bioRxiv 2020.03.25.004606; veröffentlicht 25.3.2020, doi: https://doi.org/10.1101/2020.03.25.004606
  2. Bading, Ingo: Im Jangtse-Delta entstand ein großes, begabtes Volk - Die Entstehung des chinesischen Volkes zwischen Früh- und Spätneolithikum. 23. September 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/09/im-jangtse-delta-dort-entstand-ein.html
  3. Tricia E. Owlett: Finding greener pastures - The local development of Agro-Pastoralism in the Ordos Region, North China. Journal of Indo-Pacific Archaeology 40 (2016):42-53 (pdf)
  4. Zhang, M., Sun, G., Ren, L., Yuan, H., Dong, G., Zhang, L., … Fu, Q. (2020). Ancient DNA evidence from China reveals the expansion of Pacific dogs. Molecular Biology and Evolution. doi:10.1093/molbev/msz311
  5. Chao Ning; Tianjiao Li; Ke Wang; (...) Johannes Krause; Martine Robbeets; Choongwon Jeong; Yinqiu Cui: Ancient genomes from northern China suggest links between subsistence change and human migration. Nature Communications, 1.6.2020, https://www.nature.com/articles/s41467-020-16557-2  
  6. https://www.shh.mpg.de/1715716/ancient-genomes-northern-china
  7. https://insitome.libsyn.com/ancient-dna-and-china 
  8. https://en.wikipedia.org/wiki/Ectodysplasin_A_receptor
  9. https://de.wikipedia.org/wiki/ABCC11
  10. https://ibading.blogspot.com/2015/02/des-tages-auf-wikipedia-als-eingestuft.html
  11. Yudong Cai, Weiwei Fu, Dawei Cai, Rasmus Heller, ... Yulin Chen, Yu Jiang, Xihong Wang: Ancient Genomes Reveal the Evolutionary History and Origin of Cashmere-Producing Goats in China, Molecular Biology and Evolution, Volume 37, Issue 7, July 2020, Pages 2099–2109, https://doi.org/10.1093/molbev/msaa103, Published: 23 April 2020
  12. Genomic Insights into the Demographic History of Southern Chinese Xiufeng Huang, Zi-Yang Xia, Xiaoyun Bin, Guanglin He, Jianxin Guo, Chaowen Lin, Lianfei Yin, Jing Zhao, Zhuofei Ma, Fuwei Ma, Yingxiang Li, Rong Hu, Lan-Hai Wei, Chuan-Chao Wang bioRxiv 2020.11.08.373225; doi: https://doi.org/10.1101/2020.11.08.373225 This article is a preprint and has not been certified by peer review

Samstag, 14. März 2020

"Bamboo ceiling" - Das Weiterwirken ethnischer Mentalitäten in modernen Firmenkulturen

Die Benachteiligung von Ostasiaten in Führungspositionen der USA

Ostasiaten - also Menschen chinesischer, koreanischer und japanischer Abstammung - sind in Bezug auf das Erreichen von Führungspositionen in den USA sehr stark benachteiligt. Dieser Umstand wird gegenwärtig unter dem Stichwort "Bamboo ceiling" (Wiki), also "Bambus-Decke" erörtert. Dieses Wort ist eine Metapher dafür, daß Ostasiaten Führungspositionen oft in unmittelbarer Sichtweite über sich sehen, sie aber dennoch nie erreichen. Dieses Thema belehrt einmal erneut eindrucksvoll über die großen Mentalitäts-Unterschiede zwischen Kulturen und wie diese sich auf das tägliche Leben und auf Firmenkulturen auswirken.

Abb. 1: Fischersmann und Fischersfrau,
 gemalt von dem chinesischen Maler
Huang Shen (1687-1772) (Wiki)

Man hatte bislang bei diesem Thema alle Asiaten in einen Topf gesteckt, es waren also auch die Inder zu dieser benachteiligten Gruppe gezählt worden. Eine neue Studie (1) macht aber nun darauf aufmerksam, daß sogar Weiße gegenüber Indern in Führungspositionen der USA benachteiligt sind (wenn man den jeweiligen Anteil in Führungspositionen in Beziehung setzt zu dem Anteil der jeweiligen Ethnie in der Gesamtbevölkerung). Und die Studie benennt als Ursache für diese starken Unterschiede zwischen Ostasiaten und Indern die Eigenschaft, bzw. das Persönlichkeitsmerkmal "Durchsetzungsvermögen".

Bei dieser Gelegenheit versteht man vielleicht auch zum ersten mal besser die Bedeutung der Inhalte des Buches von Angela Saini "Geek Nation - How Indian Science is Taking Over the World" (2). Saini ist Engländerin indischer Abstammung. Und in England dürften die Inder auch keine geringe Rolle in Führungspositionen spielen.

Die Bedeutung des Themas insgesamt wird an folgendem Umstand erkennbar (Wiki): Asiaten machen nur 5,6 % der Einwohner der USA aus, sie haben aber Anteil an 50 % der Technologie-Industrie im Silicon Valley, also der Zukunftstechnologie.

Die Tatsache, daß es derzeit noch so gut wie keine deutschsprachigen Artikel über das Thema "Bamboo celing" gibt (Ausnahme: 3), zeigt, daß Deutschland offenbar noch nicht in dem Umfang eine multikulturelle Gesellschaft ist oder als solche wahrgenommen wird wie die USA (oder Großbritannien).

Es ist sehr interessant, wie das Verhalten von Ostasiaten innerhalb von Firmenkulturen in diesem Zusammenhang beschrieben wird. Sie werden "als fleißige Arbeitsbienen" wahrgenommen, die nicht auffallen, die sich aber auch nicht zu Wort melden, wenn kontrovers diskutiert wird. Hingegen scheint es auch wieder nicht gut zu laufen, wenn sie sich im Widerspruch zu diesem weit verbreiteten Klischee verhalten (3):

"Einem temperamentvollen Asiaten werde leicht nachgesagt, daß er dazu neigt, die Fassung zu verlieren, sagt Psychologin Kawahara. Eine Studie der Universität Toronto zu Klischees am Arbeitsplatz wies nach: Emotional oder dominant auftretende Asiaten wurden von ihren weißen Kollegen häufig geschnitten. Eine gängige Forderung sei, daß sie sich den Erwartungen entsprechend verhalten und 'da bleiben sollen, wo sie hingehören', schreiben die Autorinnen Jennifer Berdahl und Ji-A Min."

Schlußfolgerung: Der Ethnozentrismus (Wiki) ist in jedem von uns viel tiefer drin als die meisten Menschen wahrhaben oder sich eingestehen wollen. Es tragen viele Faktoren zu ihm bei. 1. Unterschiedliche angeborene Muster in der Wahrnehmung, in emotionalen Reaktionen, im Denken, im Handeln, 2. frühkindlich durch Muttersprachenerwerb geprägte ebensolche Muster in der Wahrnehmung, in den Emotionen, im Denken und im Handeln, sowie 3. durch Religionen wie Stammesreligionen oder Konfuzianismus, Buddhismus oder Christentum seit Jahrhunderten gebahnte Muster und 4. schließlich alle mehr bewußter in der Peer-Group, in Schule und Ausbildung in der Gegenwart gebahnte, eingeübte, gelernte und antrainierten entsprechenden Muster. Es können zwischen diesen Ebenen durchaus Widersprüche bestehen, also Widersprüche zwischen dem in oberen Bewußtseinsschichten verschalteten Mustern zu Muster, die in tieferen Bewußtseinsschichten verschaltet sind. Sehr unterschätzt wird in dieser Hinsicht auch noch die Prägung der Kinder durch die vorherrschenden Rhythmen, bzw. durch den "Geist" der vorherrschenden Musikkultur, sprich, heute, der (außergewöhnlich unernsten, infantilisierten) "Pop-Kultur".

Ethnozentrismus ist auch durch multikulturelle Gesellschafts-Experimente nicht aus der Welt zu schaffen

Man versteht jedenfalls insgesamt, was für ein großer emotionaler Aufwand von Seiten der großen Medienanstalten betrieben werden muß, um einerseits neue, fast künstlich erdachte, gesellschaftliche Leitbilder zu kreieren und diese dann auch noch weltweit durchzusetzen zu wollen und dabei einheitlichere Ethnien und Nationen zu multikulturellen Nationen umzugestalten zu wollen und andererseits dabei auch noch ethnozentrisch verursachte Benachteiligungen einzelner Ethnien vermeiden zu wollen.

Es wird nachvollziehbar: Man braucht starke Feindbilder und muß über ausgebaute Machtpositionen - in Medienanstalten und anderwärts - verfügen, muß - zum Beispiel über Pop-Kultur - ganze Völker denkunfähig gemacht haben, um es sich zuzutrauen, das Widerstreben von Gesellschaften gegenüber solchen riesigen, gesellschaftlichen Umformungsprozessen überwinden zu können. Dieses Überwinden geschieht gegenwärtig dadurch, daß sie emotional außergewöhnlich stark polarisiert werden und dadurch über kurz oder lang zur Unterwerfung unter das neue Leitbild gezwungen werden. Es erscheint sehr zweifelhaft, daß solches Wollen, solche neuen, künstlichen und polarisierenden Leitbilder aus "der Mitte der Gesellschaft" heraus entstanden und kreiert worden sind. Dazu sind sie wohl doch viel zu künstlich und dazu ist der Besitz von Medienanstalten heute viel zu monopolisiert.

Vielmehr macht die weltweite Geschichte der letzten hundert Jahre ja ausreichend erkennbar: Man schreckt zur Erreichung solcher Ziele ja auch nicht vor Kriegen, Bürgerkriegen, Völkermorden und Atombomben zurück. Die Geschichte und Gegenwart erweisen dies zur Genüge.

Die Inder - Spielen sie eine besondere Rolle in der Weltgeschichte?

Das "Konzert der Nationen": Die Weltgeschichte hat bei der Schaffung von Hochkulturen viele Möglichkeiten bereit gestellt, komplexe arbeitsteilige Gesellschaft zu leben. Mit der hier behandelten Studie sehen wir die ostasiatische Möglichkeit, die indische Möglichkeit und die europäische Möglichkeit. Wenn es um IQ-starke Ethnien ging, sind die Inder bislang vielleicht nicht genügend als solche wahrgenommen worden, weil man ihre eigentümlichen Leistungen innerhalb der USA oder Großbritanniens nicht ausreichend für sich in den Blick genommen haben mag.

Diese neue Studie macht aber nun auf diese aufmerksam. Wenn es um wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg geht, kommt es eben nicht nur auf Intelligenz an, sondern auch auf angeborene und kulturell geformte Verhaltensdispositionen. Während Europäer hinsichtlich ihres Verhaltens zu sehr viel Exzentrizität neigen, neigen Ostasiaten im Alltag hingegen - aufgrund ihrer an eine Konsens-Kultur angepaßte Mentalität - zu sehr viel weniger Exzentrizität. Womöglich halten die Inder diesbezüglich eine "günstige Mitte" inne? Besitzt ihre Mentalität damit womöglich eine Zukunftsfähigkeit, die die beiden anderen genannten großen Herkunftsgruppen der Menschheit nicht besitzen? Das mag zunächst nur eine vage Vermutung sein. Ihr kann und sollte aber womöglich weiter nachgegangen werden.

- Und soeben ist auch ein Artikel erschienen darüber, daß auch in Indien nicht alle Ethnien in gleichem Maße in der Wissenschaft Karriere machen, sondern daß dort die Jahrhunderte alte Ethnien der Brahminen die Wissenschaft dominieren. Das läge daran, daß die Brahminen schon seit Jahrhunderten mehr Geduld aufweisen würden für den Wissenserwerb und nicht auf das "schnelle Geld" aus wären (5). Auch wieder sehr interessant. Ein außergewöhnlicher Beitrag indischer Wissenschaftler zur Wissenschaft allgemein ist einem allerdings bislang wohl auch noch nicht aufgefallen. 

[26.5.2022] Das mangelnde verbale Durchsetzungsvermögen ("assertitiveness") von Ostasiaten führt auch dazu, daß sie in rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten weniger erfolgreich sind als dies in andere Wissenschaftsbereichen der Fall ist. Wiederum gilt dies nicht für Inder (6, 7).

_______ 
  1. Why East Asians but not South Asians are underrepresented in leadership positions in the United States Jackson G. Lu, Richard E. Nisbett, and Michael W. Morris PNAS March 3, 2020 117 (9) 4590-4600; first published February 18, 2020, https://www.pnas.org/content/117/9/4590
  2. Angela Saini: Geek Nation: How Indian Science is Taking Over the World. 2011
  3. https://www.merckgroup.com/de/pro/articles/beyond-the-bamboo-ceiling.html
  4. https://www.pnas.org/content/117/10/5100
  5. Renny Thomas: Brahmins on India’s elite campuses say studying science is natural to upper castes: Study I researched Brahmin domination in science in India. 13 March, 2020, https://theprint.in/opinion/brahmins-on-india-campuses-studying-science-is-natural-to-upper-castes/378901/
  6. Lu, Jackson G., Richard E. Nisbett, and Michael W. Morris. "The surprising underperformance of East Asians in US law and business schools: The liability of low assertiveness and the ameliorative potential of online classrooms." Proceedings of the National Academy of Sciences 119.13 (2022): e2118244119, https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2118244119 
  7. Xie, Yu. "A bamboo ceiling in the classroom?." Proceedings of the National Academy of Sciences 119.22 (2022): e2203850119; https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2203850119

Samstag, 7. März 2020

Die Toten aus der Schlacht bei Himera auf Sizilien, 480 v. Ztr.

Ausgegraben 2008 bis 2011

Da liegen sie, die gefallenenen Helden der Schlacht (Abb. 1), die gefallenenen Helden der Schlacht von Himera (Wiki, engl). Geschlagen an der Nordküste Siziliens im Jahr 480 v. Ztr.. Die gefallenen Helden einer Schlacht, die am gleichen Tage geschlagen wurde - gegen Karthago - wie die Seeschlacht von Salamis vor den Toren Athens - gegen die Perser (1). 

Und da liegen sie (2, 3). 

Der Sieg in der Seeschlacht von Salamis gegen die riesige Flotte der Perser ermöglichte das Aufblühen der klassischen griechischen Kunst, der Kultur, der Philosophie und des vielfältigen politischen Lebens der Griechen in der Ägäis. Der Sieg in der Landschlacht der Griechen auf Sizilien bei Himera am gleichen Tag ermöglichte das Fortbestehen und Aufblühen der selben griechischen Kultur auf Sizilien und im westlichen Mittelmeerraum - im Angesicht der Bedrohung durch das aufsteigende karthagische Weltreich.

Da liegen sie, die Gefallenen.

Abb. 1: Die Gefallenen aus der Schlacht von Himera, 480 v. Ztr. auf Sizilien

Welche Worte wohl mögen an ihrem Grabe, an dem Grabe von Gefallenen solcher weltgeschichtlich entscheidender Schlachten gesprochen worden sein? So ganz im Dunkeln tappen wir darüber gar nicht. Denn so völlig unähnlich werden sie nicht gewesen sein den Worten, die der berühmte athenische Politiker Perikles in seiner Grabrede auf die gefallenen Athener des Jahres 431 v. Ztr. (Wiki) wählte. Über den griechischen Historiker Thukydides sind diese Worte auf uns gekommen. Thukydides schilderte zunächst die Feierlichkeiten, die die Athener bei solchen Staatsbegräbnissen durchführten und hat dann die Rede des Perikles wörtlich zitiert. In ihr rühmt Perikles die Lebensweise der Athener, ihre Erfolge im Krieg wie im Frieden. Er sagt dann (Text):

Soll ich nun alles in wenigen Worten zusammenfassen, so ist einerseits die gesamte Stadt eine Bildungsstätte für Griechenland, andererseits wird, wie mir scheint, von unserem Geist beseelt der einzelne seine Person zugleich in größter Vielseitigkeit und anmutiger Gewandtheit tüchtig zeigen. (...) Für eine solche Stadt nun sind diese hier, um ihrer nicht beraubt zu werden, mannhaft im Kampf gefallen; für eine solche Stadt muß auch jeder der Zurückbleibenden bereit sein, sein Leben einzusetzen. (...) Ihr dürft nun die Macht der Stadt, wie sie euch täglich vor Augen steht, betrachten und ihr werdet von selbst in Liebe zu ihr erglühen.

Solche Gedanken haben ohne Frage auch jene beseelt, die die Gefallenen der Schlacht bei Himera bestatteten. 

Perikles war ein Zeitgenosse und zumindest auch Bekannter des Begründers der abendländischen Philosophie, des Philosophen Sokrates. Und dieser Sokrates hatte zu eben jener Zeit, als Perikles diese Rede hielt, selbst als Hoplit an mehreren Feldzügen der Stadt Athen teilgenommen. Sokrates dachte nicht anders als Perikles. 

In solchen Zusammenhängen also wurzelt die abendländische Kultur. Wo solche Gefallenen begraben sind, da ist noch heute, so darf man sagen, heiliger Boden. Falls uns noch etwas heilig ist in unserem Leben.

Sie liegen vor uns, die Gefallenen. die Gefallen gleich zweier Schlachten vor Himera, nämlich der von 480 v. Ztr. und der von 409 v. Ztr.. Ausgegraben wurden sie zwischen 2008 und 2011, nachdem ihr Gräberfeld entdeckt worden war beim Bau einer neuen Bahnlinie entlang der Nordküste Siziliens. 

Auch sie gefallen aus Liebe für ihre Stadt. Und aus Liebe zu ihrer Lebensweise, zu ihrer Kultur.

Abb. 2: Die Schlacht bei Himera, 480 v. Ztr. - Grafik aus dem Buch "History of Sicily" von Edward A. Freeman (Wiki)

Das "ionische Lächeln" noch ihrer Väter, der archaischen Griechen (UniGött), es war ihnen - womöglich - vergangen in diesen Schlachten zwischen 490 und 480 v. Ztr., die geschlagen wurden wiederum von der Vätergeneration der Generation des Perikles und des Sokrates. In jenen Schlachten, in denen alles "Spitz auf Knopf" stand. 

Das Aufblühen der Kultur des klassischen Griechenland, seiner Kunst, seiner Philosophie, seines vielfältigen politischen Lebens - oder das Ersticken dieses Aufblühens im Keim. Darum ging es damals bei  der Abwehr des Versuchs der Eroberung der griechischen Poliswelt - im Osten durch das persische Weltreich (Wiki) und im Westen durch das karthagische Weltreich. Die Abwehr erfolgte in so berühmten Schlachten wie denen

  • bei Marathon - am 12. August oder September 490 v. Ztr.,
  • an den Thermophylen - um den 11. August 480 v. Ztr. herum,
  • in der Seeschlacht bei Salamis - am 29. September 480 v. Ztr.,
  • in der Schlacht bei Plataiai - 479 v. Ztr..

Es war dies die Zeit, "als den Griechen das Lächeln verging" (Uni Göttingen), als auch in der Kunst der strenge und "ernste Stil" (Wiki) einkehrte, als die klassische Epoche anhob, als in Theaterstücken wie "Die Perser" von Aischylos (Wiki) die Erschütterung, die damals durch die griechische Welt ging, Ausdruck fand und bis heute nachklingt.

Die Grabbräuche Athens waren solcherart, daß sonst die gefallenen athenischen Krieger auf dem Keramikos vor den Mauern der Stadt bestatten wurden, dort, wo auch Perikles seine berühmte Rede hielt. Dies aber galt für die 192 in der Schlacht bei Marathon gefallenen Athener nicht. Sie wurden direkt auf dem Schlachtfeld in einem Grabhügel bestattet (Wiki a, b).

Mit ihnen wurden in diesem Grabhügel Vasen niedergelegt, deren Maler nach ihrer Wiederausgrabung am Ende des 19. Jahrhunderts sogar Berühmtheit erlangen sollten (Wiki). Denn mit ihnen war das exakte zeitliche Datieren eines Keramik-Malstiles möglich geworden.

Ein weiterer Grabhügel war für die 11 Gefallenen der verbündeten Plataier errichtet worden. Auf dem Schlachtfeld von Marathon stellten die Sieger außerdem eine Siegessäule auf (Wiki). Für heutige Verhältnisse handelte es sich um eine vergleichsweise bescheidene. Bei solchen in Marathon aufgeschütteten Grabhügeln handelte sich übrigens immer noch um den Typus des "Homerischen Heroengrabes", wie solche seit dem 10. Jahrhundert bis zum Königsgrab von Seddin in Deutschland und bis hinauf nach Dänemark verbreitet gewesen sind (4-6). Von diesem Typ sind in Attika für das 8. Jahrhundert v. Ztr. mindestens zehn Gräber, für das 7. und 6. Jahrhundert jeweils zwei, im 5. und 4. Jahrhundert noch einmal zwei Gräber nachgewiesen (6).

Es gibt die Vermutung, daß auch der athenische Politiker Alkibiades (450-404 v. Ztr.) (Wiki) am Ende des 5. Jahrhunderts auf dem Keramikos in Athen noch in einem solchen Grab bestattet worden ist (6). Hinsichtlich der beiden Grabhügel auf dem Schlachtfeld von Marathon erfahren wir (Wiki):

Einige Forscher haben aber vermutet, daß die Athener und ihre Verbündeten beim Aufrichten der Grabhügel an Homer erinnern wollten.
Some scholars have suggested that the raising of the tumuli was a deliberate attempt to evoke Homer by the Athenians and their allies.

Was den zeitgenössischen Griechen selbst nun noch allzu deutlich bewußt war, daran müssen wir Nachlebende erst durch Ausgrabungen erinnert werden (1). Nämlich daß zeitgleich zu den Perserkriegen in der östlichen Ägäis im Westen auf Sizilien die griechische Welt ganz ebenso bedroht war, nämlich von Norden her durch die Etrusker und von Westen her durch die Karthager.

Auf Sizilien gab es an der Nordküste unter vielen anderen griechischen und karthagischen Kolonialstädten die Stadt Himera (Wiki, engl). Und in ihrer Nähe fanden nun eben zwei große, bedeutende Schlachten statt, diesmal der Griechen auf Sizilien gegen die Karthager von Nordafrika, die Sizilien erobern wollten. Die Schlachten fanden 480 v. Ztr. (Wiki, engl) und 409 v. Ztr. (Wiki) statt. Die erstgenannte Schlacht ging erfolgreich für die Griechen aus, die zweitgenannte Schlacht - auf karthagischer Seite geführt von dem berühtem Feldherrn Hannibal - ging erfolgreich für die Kartharger aus.

Die Stadt Himera wurde 409 v. Ztr. in der Folge von den Karthagern dem Erdboden gleich gemacht.

Jüngst, im November 2019 wurde auf einer wissenschaftlichen Tagung in Boston zum Thema "Was an Homer ist historisch? - Jüngste Ergebnisse von Forschungen zur Bronzezeit" (1) auf diese neuen Forschungen zu der Schlacht bei Himera hingewiesen (Minute 14'33ff):


Wenn man dem Historiker Michael McCormick in diesem Video in seinen abschließenden, zusammenfassenden Worten der Tagung richtig versteht, haben jüngste Forschungen bestätigt, was schon von den zeitgenössischen griechischen Quellen so berichtet worden war, nämlich daß die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht von Himera im Jahr 480 v. Ztr. am selben Tag stattgefunden haben, am 29. September.  (Leider werden in dem Video keine Literaturhinweise mitgeliefert.)

Durch diesen Hinweis erst wurden wir dazu angeregt, den vorliegenden Blogbeitrag zu erarbeiten, wurden wir also darauf gestoßen, daß 2007 bis 2011 unter einer Erdschicht von drei Metern vor den Westtoren von Himera neun Massengräber von diesen beiden Schlachten entdeckt worden sind, davon sieben aus dem Jahr 480 und zwei aus dem Jahr 409 (2). Aus dem Jahr 480 fanden sich außerdem 30 Pferde-Gräber (3):

Bemerkenswert und zugleich selten ist auch die Beisetzung von über 20 Pferden unweit der Massengräber. Gut möglich, daß es sich dabei um die in der Schlacht gefallenen Tiere der griechischen Reiterei handelt, die gemäß Diodor entscheidenden Anteil am siegreichen Ausgang der Schlacht gegen die Karthager von 480 v. Chr. hatte.

Unter den Bestatteten von 480 v. Ztr. befanden sich auch Männer mit iberischen Beinschienen. Es handelte sich dabei sicherlich um Verbündete der Karthager aus dem heutigen Spanien. Diese wurden offenbar ebenso ehrenvoll bestattet wie die eigenen Gefallenen (2). Insgesamt handelte es sich in den Gräbern um Männer im Alter zwischen 15 und 57 Jahren, nicht selten mit Anzeichen von tiefen Wunden, die durch schneidende oder schlagende Waffen verursacht worden waren. Von diesen Waffen steckten sogar noch einige - wie Pfeile, Speerspitzen, Schwerter und Dolche - in den gefundenen Skeletten. Vor der Bestattung waren sie nicht mehr herausgezogen worden (2). 

Wenn man McCormick recht versteht (1), wird man bald mit den Ergebnissen der Sequenzierung gewonnener alter DNA aus diesen Skeletten rechnen dürfen. In einem englischsprachigen Video ist nun das dramatische Geschehen der Schlacht bei Himera 480 v. Ztr. sehr gut eingefangen worden (4):


Und wichtig zu wissen ist außerdem: In den Massengräbern von 409 v. Ztr., angelegt dicht unter den Mauern der Stadt, wurden in den oberen Schichten in chaotischer Weise auch viele Männer und Frauen jeden Alters bestattet (2). Mit diesen Funden wird das grausame und blutige Ende der Stadt "greifbar". Es sind dies die Zeitgenossen des Philosophen Sokrates (der 399 v. Ztr. mit 70 Lebensjahren zum Tode verurteilt wurde). Und es sind dies die Zeitgenossen seines Schülers, des Philosophen Platon.

Die Griechen selbst sind mit besiegen Städten nicht anders umgegangen als hier von Seiten der Karthager mit ihnen umgegangen worden ist. Es ist das ein Umstand, der immer neu zum Verwunderung Anlaß gibt (12).

"Hellas ziehend aus tiefer  Knechtschaft"

Dieses Ende der Stadt Himera 409 v. Ztr. war natürlich in den 470er Jahren noch nicht vorauszusehen. In ihnen hat vielmehr der griechische Dichterphilosoph Pindar in der ersten seiner "Pythischen Oden", verfaßt aus Anlaß eines Wagensieges des Hieron von Syrakus (Wiki) in den Wettkämpfen bei Delphi 474 v. Ztr., noch einmal - kurz - an die die Menschen erschütternden Ereignisse der letzten Jahre erinnert.

Er erinnerte daran, daß die Etrusker von den Griechen auf Sizilien unter Hieron in der Seeschlacht von Cumä besiegt worden waren, die Karthager in der Schlacht von Himera, die Perser in den Schlachten von Salamis und Plataiai (beim "Kithäron"). Und Pindar wünschte, daß in den Städten auf Sizilien, in denen Hieron regierte, immer die dorische Staatsverfassung aufrecht erhalten bliebe, und daß weder die Karthager ("Phönizier"), noch die Etrusker ("Tyrrhener") erneutes Kriegsgeschrei nach Sizilien bringen würden. 

Der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin hat sich um 1800 herum intensiv um Übersetzungen der Dichtungen des Pindar bemüht. In Werkstatt-Versuchen hat er diese erste Pythische Ode ganz wörtlich übersetzt, oft ohne den eigentlichen Sinnzusammenhang kenntlich zu machen, der aber erahnbar bleibt:

Ich bitte, winke, Kronion, das stille,
Daß das Haus der Phönizier
Und der Tirrhenier Kriegsgeschrei hüte,
Den frechen Schiffbruch sehend,
Den vor Kuma;
Wie, durch der Syrakusier Fürsten
Bezähmt, sie gelitten,
Von schnellewandelnden Schiffen
Welcher ihnen ins Meer warf die Jugend,
Hellas ziehend aus tiefer
Knechtschaft. Ich suche
Bei Salamis der Athener Dank
Und Lohn; in Sparta nenn ich
Vor Kithäron die Schlacht,
In denen die Meder sich abgemüht die krummgebogten;
Doch bei dem wohlumwässerten Ufer
Himera, den Kindern den Hymnos
Dinomenens vollbringend,
Den sie empfingen zur Tugend
Kriegrischer Männer, kämpfender.
In den weiteren Worten seiner Ode entschuldigt sich Pindar dann quasi für die Kürze dieser Schlachten-Aufzählung. Er sagt sinngemäß (entnommen einem Kommentar zur Hölderlin-Übersetzung):
"Sprichst du das Rechte zur rechten Zeit, vieler Dinge Enden zusammenknüpfend in Kürze, so folgt geringerer Tadel der Menschen, denn lästiges Übermaß stumpft ab die regen Erwartungen. Bei den Menschen lastet heimlich auf den Seelen am meisten das Hören von fremdem Ruhm."

Sechs Jahre nach diesen Schlachten waren die Griechen immer noch ergriffen von dem Geschehenen. Auf den größten, in diesen Schlachten erworbenen Ruhm verwendete Pindar die sparsamsten Worte, um die Seelen seiner Zuhörer nicht zu sehr zu "belasten", die sich nicht zuletzt auch bedrückt fühlten durch den sagenhaften Ruhm, den sich jeweils die eigenen Feldherren errungen hatten.

Diese eigenen Feldherren haben die Griechen ja deshalb im Nachhinein oft auch gar nicht besonders gut behandelt. In der Regel war es ja zu den Kriegen überhaupt erst gekommen, weil sich die Griechen in den Städten selbst uneins waren und Perser- und Karthager-freundliche Regierungen von ihnen feindlichen Regierungen wechselweise abgelöst wurden.

Abschließend sei nach diesem Ausflug in die große Weltgeschichte ein kurzer Ausschnitt gebracht aus der Dichtung "Der Archipelagus" (Wiki) von Friedrich Hölderlin. In dieser steht die Schlacht bei Salamis im Mittelpunkt. Hölderlin hat das geschichtliche Geschehen - aus einem geschichtsphilosophischen Denken heraus, das viele Gemeinsamkeiten aufweist mit dem seines Jugendfreundes G.F.W. Hegel - tiefer gefaßt als das die Dichter und Philosophen in den Jahrhunderten vor ihm und nach ihm getan haben:

Denn des Genius Feind, der vielgebietende Perse,
Jahrlang zählt' er sie schon, der Waffen Menge, der Knechte,
Spottend des griechischen Lands und seiner wenigen Inseln,
Und sie deuchten dem Herrscher ein Spiel, und noch, wie ein Traum, war
Ihm das innige Volk, vom Göttergeiste gerüstet.
Leicht aus spricht er das Wort und schnell, wie der flammende Bergquell,
Wenn er, furchtbar umher vom gärenden Aetna gegossen,
Städte begräbt in der purpurnen Flut und blühende Gärten,
Bis der brennende Strom im heiligen Meere sich kühlet,
So mit dem Könige nun, versengend, städteverwüstend,
Stürzt von Ekbatana daher sein prächtig Getümmel;
Weh! und Athene, die herrliche, fällt; wohl schauen und ringen
Vom Gebirg, wo das Wild ihr Geschrei hört, fliehende Greise
Nach den Wohnungen dort zurück und den rauchenden Tempeln;
Aber es weckt der Söhne Gebet die heilige Asche
Nun nicht mehr, im Tal ist der Tod, und die Wolke des Brandes
Schwindet am Himmel dahin, und weiter im Lande zu ernten,
Zieht, vom Frevel erhitzt, mit der Beute der Perse vorüber.

Aber an Salamis Ufern, o Tag an Salamis Ufern! ...
 _________________
  1. Michael McCormick: Concluding Remarks. Zu der Tagung "From Homer to History - Recent Results from Bronze Age Investigations" des Max Planck Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranea (MHHAM) an der Universität Harvard, 1. November 2019, https://youtu.be/eQEhDFp7nH8.
  2. Himera: One of the greatest archaeological discoveries of recent decades emerges from oblivion. 11/21/2018, https://archaeologynewsnetwork.blogspot.com/2018/11/himera-one-of-greatest-archaeological.html
  3. Elena Mango: Himera - Kolonie am Kreuzweg der Kulturen. UniPress der Universität Bern 2013 (pdf)  
  4. Hansen, Svend: Seddin - ein „homerisches Begräbnis“. In: Svend Hansen u. F. Schopper (Hrsg.): Der Grabhügel von Seddin im norddeutschen und südskandinavischen Kontext. Internationale Konferenz 16. bis 20. Juni 2014, Brandenburg an der Havel. Gemeinsame Veranstaltung des Excellence Clusters TOPOI, des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseums und der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts. In: Arbeitsberichte zur Bodendenkmalpflege in Brandenburg 33, 2018, (Academia.edu).
  5. Bading, Ingo: Das Königsgrab von Seddin, 830 v. Ztr., 29.07.2019, https://youtu.be/13WSEl5tkx0. 
  6. Guggisberg, Martin A.: Gräber von Bürgern und Heroen: "Homerische"Bestattungen im klassischen Athen. Sonderdruck (S. 287-317) aus: Körperinszenierung - Objektsammlung - Monumentalisierung: Totenritual und Grabkult in frühen Gesellschaften. Archäologische Quellen in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. v. C. Kümmel, B. Schweizer, U. Veit u. Mitarbeit v. M. Augstein. Tübinger Archäologische Taschenbücher, Band 6 Waxmann Verlag GmbH  Münster u.a. 2008 (Academia.edu).
  7. The Battle of Himera (480 BCE) - First Sicilian War. Battles in History, 17.09.2017, https://youtu.be/vzGmF3qCdnA.
  8. How the Battle of Himera Started the Sicilian Wars, 08.01.2019, Battles of the Ancients
  9. I resti della battaglia di Himera (480 a.c.), 20.9.2011, https://youtu.be/KfH22ssDdtk
  10. Felix: Great Battle of History: Himera, 409 B.C., 16.02.2015, https://youtu.be/odJ2jOdtmEs
  11. Serena Viva, Norma Lonoce, Giorgia Vincenti ... Pier Francesco Fabbri: The mass burials from the western necropolis of the Greek colony of Himera (Sicily) related to the battles of 480 and 409 BCE. In: International Journal of Osteoarchaeology, January 2020, DOI: 10.1002/oa.2858 (Researchgate)
  12. Bading, Ingo: "Im ruhigen Ton der klassischen griechischen Tragödie ..." In der antik-griechischen Kultur galt der Mord an Wehrlosen noch nicht per se als moralisch minderwertig. 23. November 2013, https://studgendeutsch.blogspot.com/2013/11/im-ruhigen-ton-der-klassischen.html.
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