Titel: "Der evolutionäre Ursprung eines Altruismus-Gens". Und der Aufsatz scheint exakt das zu halten, was sein Titel verspricht. In der Zusammenfassung heißt es:
"So weit es uns bekannt ist, ist dies das erste Beispiel eines spezifisch sozialen, mit Fortpflanzungs-Altruismus gekoppelten Gens, dessen Ursprung zurückgeführt werden kann auf einen einzelligen Vorfahren."Es wird nämlich ein sehr urtümlicher Organismus untersucht, der schon in den berühmten "Vorträgen über Deszendenztheorie" von August Weismann eine wichtige Rolle spielte als Repräsentant einer wesentlichen Stufe der Evolution. Damit bekam dieser "Modellorganismus" auch in der Philosophie der Biologie des 20. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle. Es handelt sich um einen der ursprünglichsten Mehrzeller, um die Grünalge "Volvox". (Später trat an ihre Seite der Schleimpilz Dictyostelium als Modellorganismus.)
Volvox stellt einen der ursprünglichsten Mehrzeller dar, der arbeitsteilig strukturiert ist und damit den zwangsläufigen Alterstod kennt. Arbeisteilig heißt hier: Die Zellen teilen sich auf in Keimbahn (Fortpflanzungszellen) und Soma (sterbliche Körperzellen). Einzeller (z.B. Bakterien, einzellige Algen etc.) gelten in der Regel als "potentiell unsterblich", sie kennen höchstwahrscheinlich den gesetzmäßigen Alterstod nicht, ebensowenig wie die Fortpflanzungszellen aller Vielzeller (also die "Keimbahn"). Der gesetzmäßige, programmäßige Alterstod kommt mit dem Absterben der Zellhülle des Vielzellers Volvox erstmals in die Welt. Diese Zellhülle (das Soma), die die Fortpflanzungszellen (die Keimbahn) schützt, und die eine koordinierte Fortbewegung der "Zellkolonie", des Gesamtorganismus ermöglicht, stirbt nämlich dann, wenn sie platzt und die herangewachsenen Fortpflanzungszellen aus der Zellhülle heraus "ausschwärmen", um zu neuen Volvox-Individuen heranzuwachsen.
Diese Zellen der Zellhülle verhalten sich also außerordentlich altruistisch. Sie verzichten auf Weiterleben, auf Unsterblichkeit zugunsten der Fortpflanzungszellen, die sie schützen und in nahrungsreiche Umwelt befördern, zugunsten also einer arbeitsteiligen Strukturierung eines neu entstehenden, komplexeren Gesamtorganismus. Die Trennung, das heißt Differenzierung zwischen Keimbahn- und Somazellen während des Heranwachsens der Zellkolonie durch Zellteilungen wird schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der "Individual-Entwicklung" der jungen Zellkolonie durch das Entwicklungs-Gen "regA" gesteuert. In der Arbeit heißt es:
"... regA—a master regulatory gene that encodes a transcriptional repressor (Kirk et al. 1999) thought to suppress several nuclear genes coding for chloroplast proteins (Meissner et al. 1999). Consequently, the cell growth (dependent on photosynthesis) and division (dependent on cell growth) of somatic cells are suppressed. Because they cannot divide, they do not participate directly in the offspring but contribute to the survival and reproduction of the colony (Kirk 1998, p 62–4; Solari, Kessler, and Michod 2006; Solari et al. 2006)—in the same way that sterile workers do in a social insect colony. In other words, the somatic cells express an altruistic behavior , and regA (whose expression is necessary and sufficient for this behavior; Kirk et al. 1999) is an altruistic gene."Also dieses Gen schaltet offenbar die Bildung von Proteinen ab, die zur Photosynthese in den Grünalgen-Zellen notwendig sind. Diese Zellen verzichten dadurch auf eigenes Fortleben als unsterbliche, einzellige, unabhängige, selbstgenügsame Grünalgen-Zellen, um durch die dadurch gewonnene Spezialisierung einem Gesamtorganismus dienlich sein zu können.
"Which cells do not express regA and differentiate into germ cells" (also Keimzellen) "is determined early during embryonic development through a series of asymmetric cell divisions."Hier ein Foto mit mehreren Volvox-Kolonien (= einzelnen Volvox-Organismen). Eine Volvox enthält bis zu 16 Chlamydomonas-ähnliche (unsterbliche) Einzeller als Fortpflanzungszellen in seiner (sterblichen) Hülle. (Die Hülle besteht aus bis zu 2000 Einzelzellen.) Und die Forscher haben nun geschaut, ob schon der evolutionäre Vorgänger-Organismus, die einzellige Grünalge Chlamydomonas reinhardtii (siehe zweites Foto) (ebenfalls ein Modellorganismus) das genannte Gen besitzt.
Sie stellten fest, daß dieses Gen überraschenderweise auch hier schon vorliegt! Aber die Gen-Sequenzen unterscheiden sich sehr stark zu denen von Volvox. Dennoch stellte sich natürlich die Frage:
"The presence of regA-like sequences in C. reinhardtii is puzzling at first; why would a unicellular individual suppress its own reproduction?"Also warum sollte ein einzelliges Individuum (durch dieses Gen) seine eigene Fortpflanzung unterdrücken? Sie stellten dann fest: In der normalen Entwicklung wird dieses Gen bei Chlamydomonas gar nicht abgelesen. Dann machten sie aber den entscheidenden Versuch, indem sie sie bei Dunkelheit leben ließen. Leben diese einzelligen Grünalgen bei Dunkelheit, so stellten sie nun fest, dann wird dieses Gen auch bei ihnen abgelesen, um die Bildung von Chloroplasten zu verhindern. Chloroplasten sind ja jene Zellorganellen, in denen die Photosynthese stattfindet. Sie sind ja bei Dunkelheit nutzlos und überflüssig.
Um es also allgemeiner auszudrücken: Altruismus heißt bei Volvox, auch dann auf Photosynthese zu verzichten, wenn Licht da ist. Das ist ein ganz erstaunliches Ergebnis. Insbesondere vor dem Hintergrund, daß offenbar schon vorhergehende Forschungen es haben klar werden lassen, daß dieses Gen allein ausreichend ist, um die Zelldifferenzierung bei Volvox in Gang zu setzen. Natürlich muß Volvox dann noch zahlreiche andere Gene ablesen, um die koordinierte Bewegung seines Zellverbandes zu steuern.
Aber dennoch: Es scheint, als wäre dies das erste mal, daß ein so grundlegender pflanzen-physiologischer Vorgang wie die Photosynthese mit einem so grundlegenden verhaltensbiologischen Konzept wie dem des Altruismus in einen so unmittelbaren und engen Zusammenhang hat gebracht werden können.
Erstaunlich, daß die allgemeinere Wissenschafts-Berichterstattung es (wieder einmal?) versäumt hat, auf dieses Forschungsergebnis aufmerksam zu machen. Außerdem findet sich am Ende des Aufsatzes der Hinweis auf eine neue Fachrichtung, die sich "Soziogenetik" nennt (Sociogenomics) (Untertitel: "Sozialverhalten aus molekularer Sicht").
1. Nedelcu, A. (2006). The Evolutionary Origin of an Altruistic Gene Molecular Biology and Evolution, 23 (8), 1460-1464 DOI: 10.1093/molbev/msl016