Donnerstag, 19. Mai 2022

Die rasante Zunahme unserer Intelligenz .... damals ......

Intelligenz-Evolution in Europa seit 40.000 Jahren
- Der höhere IQ kam mit dem Ackerbau 
- Der Ackerbau brachte überhaupt eine "allgemeine Beschleunigung des evolutionären Prozesses" beim Menschen
- "Mammutjäger in der Metro?" - Von wegen!

Die kulturelle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft beruht sehr stark auf ihrer durchschnittlichen angeborenen Intelligenzbegabung. Haben intelligente Eltern viele Kinder, wächst die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft an, haben sie wenige Kinder, sinkt sie. Nach neuesten Forschungen hat es zwei Zeitpunkte in der europäischen Geschichte gegeben, in denen die durchschnittliche angeborene Intelligenzbegabung deutlich angestiegen ist:

  1. mit Einführung des Ackerbaus ab 5.700 v. Ztr. 
  2. mit der Entwicklung städtischer Zentren, zeitlich versetzt seit der Eisenzeit, bzw. dem Frühmittelalter. 

Im heutigen Anatolien liegt der durchschnittliche angeborene IQ bei etwa 90 (GNXP). Dieser könnte sich herausgebildet haben infolge des Aussterbens der Intelligenz-Eliten am Ende der Spätantike.  

Abb.: 1: IQ-Steigerung in Europa seit 6.000 v. Ztr., abgelesen an jeweils hundert bis 500 Genomen (aus 1)

Ob sich dieser durchschnittliche IQ in Anatolien in der Geschichte also schon immer auf derselben Höhe bewegt hat, ob die Geschichte der Völkerausbreitungen und des Aussterbens von Völkern, bzw. von Intelligenz-Eliten hier jeweils Veränderungen mit sich gebracht hat, ist noch nicht geklärt. Dasselbe gilt auf feinerer Ebene auch für Europa.

Und bisherige Versuche, aus den archäogenetischen Daten die Intelligenz der Menschen der letzten zehntausend Jahre in Europa abzulesen, waren - soweit wir das übersehen konnten - ebenfalls noch wenig fundiert.

Dieser Umstand hat sich gerade - am 28. März 2022 - geändert (1). Denn da ist eine erste Studie für Europa erschienen. Also noch nicht für Anatolien, nicht für einen Kernraum der frühen Hoch- und Schriftkulturen. Schrift- und Hochkultur wurde Europa ja erst später. 

Aber womöglich enthält dieser neue Versuch einer Gruppe von zehn Forschern, die an Instituten in Hannover, Bonn, den Niederlanden und Spanien arbeiten, schon gültige Ergebnisse (1). Unter den zehn beteiligten Forschern finden sich neben einem Deutschen drei Niederländer, zwei Chinesen, sowie ein oder mehrere Spanier. 

Pro Zeitepoche haben diese Forscher 100 bis 500 Genome ausgewertet aus einer Region grob zwischen dem heutigen England und Ungarn (s. 1; Figure 1). Ihre Forschungen beruhen damit auf einem Datenbestand, der heute schon nicht mehr aktuell ist, da inzwischen viel mehr archäogenetisch gewonnene Genomdaten zur Verfügung stehen (2). Es handelt sich um Genomdaten für folgende Zeitepochen:

  • "vor dem Neolithikum" (27 Genome),
  • "Mesolithikum" (95 Genome),
  • "Neolithikum" (247 Genome),
  • "nach dem Neolithikum" (458 Genome), 
  • "Jetztzeit" (250 Genome). 

"Nach dem Neolithikum" dürfte hier insbesondere die Bronzezeit bedeuten, auf der bisher der Schwerpunkt der archäogenetischen Forschung beruhte. Aber auch schon allerhand eisenzeitliche Genome könnten mit eingeflossen sein.***) Aus diesen Genomen nun wurde die polygenetisch erfaßbare, angeborene IQ-Leistung herausgelesen. 

Kurze Einfügung und Erläuterung: Polygenetisch heißt, daß es - wie wir heute wissen - nicht ein Haupt-Gen oder wenige Haupt-Gene für Intelligenz oder andere Eigenschaften gibt (vormals "Master-Gene" genannt), sondern daß wir seit 2018 wissen, daß viele 100.000e "Small-Effect"-SNP's im Genom gemeinsam zur jeweils angeborenen Intelligenz beitragen. Deshalb müssen sie auch alle gemeinsam zu einer Einschätzung der angeborenen Intelligenz ausgewertet werden. Und das war erst möglich geworden aufgrund der Beschleunigung der modernen Sequenzierungstechniken und aufgrund von Computerprogrammen, die die dabei gewonnenen großen Datenmengen auswerten und in Bezug zueinander setzen können. - Dieser Umstand der polygenetischen Verschaltung von Eigenschaften über hunderttausende von Small-Effect-SNP's über das gesamte Genom hinweg gilt nicht nur für die Intelligenz, sondern für die meisten angeborenen Eigenschaften des Menschen. Diese überraschende Erkenntnis ist erst vor vier Jahren gewonnen worden. 2018 nämlich hat sie der Öffentlichkeit erstmals der US-amerikanische Intelligenz-Genetiker Robert Plomin in seinem Buch "Blueprint" bekannt gemacht. Wir berichteten darüber (Stgen2018).*)


"Beschleunigung des evolutionären Prozesses" - Durch Ackerbau und Stadtkultur

Die grundlegende Erkenntnis dieser neuen Studie ist nun, daß sich die genetische Evolution angeborener Eigenschaften beim Menschen durch die Einführung von Ackerbau und Stadtkultur beschleunigt hat (1):

Nur wenige (genetische) Veränderungen konnten für die Zeit zwischen dem Frühen Jungpaläolithikum und dem Neolithikum festgestellt werden. Stattdessen eine allgemeine Beschleunigung des evolutionären Prozesses danach.
Few changes are seen between the Early Upper Paleolithic until the Neolithic period, with a general acceleration of the evolutionary processes thereafter.

Auf eine so dezidiert ausgesprochene Idee ist - unseres Wissens nach - bislang noch kein Genetiker und Evolutionsforscher gekommen. In der wissenschaftlichen Generation von Konrad Lorenz, in derem geistigen Horizont sich der Autor dieser Zeilen noch in seiner Studenten-Zeit bewegte, ist der Mensch noch als ein (genetischer) "Eiszeitjäger in der Metro" charakterisiert worden, der mit seiner archaischen Verhaltensgenetik der modernen Welt unangepaßt gegenüber stünde. Da man geglaubt hat, daß die Zeit seit der Eiszeit viel zu kurz gewesen sei, als daß der Mensch in dieser Zeit noch umfangreiche genetische Neuanpassungen hätte evolvieren können.

Diese Annahme ändert sich etwa seit dem Jahr 2000 rapide, also seit der vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms. Es schält sich immer mehr die Erkenntnis heraus, daß es tatsächlich auch noch nach der Einführung des Ackerbaus weltweit nicht unbeträchtliche "lokale" und "jüngste" Humanevolution" gegeben hat. Darüber ist in den Jahren um 2005 herum viel geschrieben und nachgedacht worden, in jenem Jahr, in dem auch der Aufsatz "Natural History of Ashkenazi Intelligence" erschienen ist, der erstmals die Möglichkeit einer schnellen Evolution von Intelligenz zur Grundlage weiterer Hypothesenbildungen machte. 

Von diesem Gedanken war auch ein Buch-Entwurf (Themengliederung mit Literaturliste) geleitet, den der Autor dieser Zeilen einmal 2007 zusammen gestellt hat (Res.gate). Aus diesem Gedanken leitet sich auch die Erkenntnis ab, daß die "lokalen", kontinentalen und innerkontinentalen Herkunftsgruppen weltweit im gesamten vererbbaren Merkmalsspektrum sich deutlich stärker voneinander unterscheiden als das aufgrund des ideologisch beeinflußten, einstigen "Fehlschlusses" des US-amerikanischen Genetikers Richard Lewontin der 1960er Jahre über viele Jahrzehnte hinweg angenommen worden war.**)

Wenn wir nun lesen, daß es eine "allgemeine Beschleunigung des evolutionären Prozesses" seit Einführung des Ackerbaus gegeben hat, so ist das noch einmal eine Bestätigung und Bestärkung dieses Gedankens und Kenntnisstandes.

Immunsystem

Dieser Umstand gilt allerdings zunächst nicht für die Genetik des Immunsystems, die sich nämlich auch schon während der Eiszeit ähnlich stark verändert hat wie danach. Damit ist auch aufgezeigt, daß die beobachtete evolutionäre Statis anderer Genombereiche während der Eiszeit nicht auf der geringen Zahl der bislang ausgewerteten vor-neolithischen Genome beruhen wird (nämlich nur 27). So die Forscher.

Körpergröße

Die Körpergröße hat sich über die Zeitepochen hinweg - auch seit Beginn des Neolithikums - auf der genetischen Ebene ebenfalls nicht deutlich verändert in Europa (1). 

Es war schon in früheren Studien festgestellt worden, daß die an den Skeletten erkennbare kleinere Körpergröße der ersten Ackerbauern in Europa (der Bandkeramiker) nicht genetisch bedingt war, sondern durch Umweltbedingungen hervorgerufen worden sein muß. Das stellt auch diese Studie erneut fest.

An dieser Stelle möchten wir als zusätzliche Überlegung anheim stellen, daß Jahrzehnte lange Forschungen der Physischen Anthropologie zur "säkularen Akzeleration", zur Zunahme der Körpergröße in Europa aufgrund des früheren Eintritts in die Pubertät, auch nahe legen, daß unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Sozialdisziplinierung eine unterschiedliche Körpergröße mit sich bringen könnte aufgrund des verzögerten oder beschleunigten Einritts der Pubertät. Wir sehen dementsprechend auch eine Zunahme der Körpergröße in Europa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Ähnliches ist in asiatischen Ländern zu beobachten während des 20. Jahrhunderts (Südkorea, China). Solche Überlegungen würden nahelegen, daß die bandkeramische Kultur Mitteleuropas, die ersten Bauern dieses Raumes - ähnlich wie die europäischen Bevölkerungen der Frühen Neuzeit - eine hohe Sozialdisziplinierung aufgewiesen haben, der einen späten Eintritt in die Pubertät mit sich brachte und dementsprechend ein kürzeres Wachstumsintervall danach.

Dieser Umstand der sehr großen Sozialdisziplinierung findet sich auch in vielen anderen Aspekten der bandkeramischen Kultur wieder, die demographisch und von ihrer Siedlungsdichte her viel fortgeschrittener war als die meisten europäischen, vormittelalterlichen archäologischen Kulturen nach ihr (Stgen2007).

Die Forscher selbst argumentieren aber - wie zumeist diesbezüglich in der Wissenschaft derzeit - mit unterschiedlicher Ernährung. Wie auch immer.

Hautfarbe

Weiter: Die Hautfarbe war vor dem Neolithikum in Europa dunkel, so die Studie (1).

Die helle Hautfarbe kam mit den Bauern anatolischer Herkunft nach Europa. Das ist übrigens zunächst wiederum - eigentlich - ein merkwürdiger und auffallender Umstand. Denn die helle Hautfarbe soll ja - nach bisherigen Annahmen in der Forschung - in den nördlichen Breitengraden evolviert sein - als Anpassung an die dortige geringe Sonneneinstrahlung und den dadurch hervorgerufenen Vitamin D-Mangel. Wie aber konnten dann die Menschen die ganze Eiszeit hindurch - also mehrere zehntausend Jahre - in Europa mit dunkler Hautfarbe leben?

Die Genome mesolithische Jäger und Sammler des heutigen Rußland sind in diese neue Studie nur vereinzelt eingeflossen (s. 1; Figure 1). Im heutigen Rußland und Sibirien ist ja schon nach früheren Studien sehr viel früher helle Haut- und Haar-Pigmentierung aufgetreten (bei den "osteuropäischen Jägern und Sammlern", sowie bei den aus diesen hervorgegangenen Indogermanen und ihrer "Steppengenetik") (Studgen2017). 

Die allgemeine Aussage der neuen Studie gilt also nur für West- und Mitteleuropa und für die dunkle Hautpigmentierung der dortigen "westeuropäischen Jäger und Sammler".

Depression

Nach der neuen Studie hätte es also nun "im Groben" in Europa seit der Einführung des Ackerbaus einen stetigen Anstieg in der durchschnittlichen angeborenen Intelligenz gegeben (s. Abb 1 und 2) (1).

Abb. 2: Intelligenz-Entwicklung in Europa in den letzten 50.000 Jahren abgelesen aus mehren hundert archäogenetisch ausgewerteten Skeletten (aus: 1)

Zeitgleich wäre die Häufigkeit der angeborenen Neigung zu Depression in Europa zurück gegangen (siehe diesbezügliche Grafik in der Studie selbst). 

Dieser Umstand ergibt sich daraus, daß sich in Europa - insbesondere nach dem Untergang der Bandkeramik - individualistische Kulturen ausgebreitet haben, in denen eine angeborene Neigung zu Depression schnell mit Fortpflanzungsnachteilen einhergehen konnte. Die genetische Neigung zu Depression war also hier selektiv nachteilig. 

In Asien hingegen gibt es noch heute viel häufiger angeborene Neigung zu Depression. Und es scheint, als ob diese Häufigkeit den Fortbestand der "kollektiven Kultur" in Asien stabilisiert. Denn diese wird benötigt - als mehr bewußte oder mehr unbewußte Reaktion - zur Vermeidung von häufiger Depression in diesen Gesellschaften, die sich sonst - aufgrund der genetischen Anlagen - ausbilden würden. (So ist es von Verhaltens- und Populationsgenetikern in einer Studie schon vor mehr als 15 Jahren erklärt worden.).

Intelligenz

Auf der zweiten Grafik (hier Abb. 2) wird die Intelligenz-Entwicklung in Europa über den Zeitraum der letzten 50.000 Jahre aufgetragen. Hierbei kommt uns der Gedanke, daß es ja spannend sein könnte herauszubekommen, welcher IQ dem Neandertaler zuzuschreiben wäre, der bis vor 40.000 Jahren in Europa lebte, und dessen Genom doch auch schon vollständig sequenziert worden ist. Da müßte doch inzwischen auch eine Einschätzung möglich geworden sein, ein Vergleich, eine Einordnung. 

Jedenfalls: In den letzten 50.000 Jahren ist zunächst sogar ein leichter Abwärtstrend oder eine Stagnation bezüglich des IQ festzustellen. Seit der Einführung des Ackerbaus geht es aufwärts. Aber um wie viele IQ-Punkte hätten sich die Europäer in den letzten 7000 Jahren verbessert? Man könnte grob vermuten, von einem IQ von 85 oder 90 auf einen IQ von 100. Zwischen Neolithischer Revolution und Spätbronzezeit hätte dieser Anstieg aber eher stagniert. Der Hauptanstieg wäre durch die anatolischen Bauern in Europa herein gebracht worden, nicht durch die Indogermanen. Letztere haben ihn aber auch nicht wieder verschlechtert. 

Der IQ der letzteren wird entstanden sein während der Ethnogenese der Indogermanen selbst (oder später), wobei es zu einer Vermischung von mesolithisch lebenden osteuropäischen Jägern und Sammlern mit Bauern iranisch-neolithischer Herkunft gekommen war (wie oft hier auf dem Blog behandelt worden ist).

Die Forscher schreiben (1):

"Die signifikantesten Unterschiede können beobachtet werden, wenn man die vor-neolithischen und die neolithischen Gruppen miteinander vergleicht, ebenso wenn man die nach-neolithischen und die modernen Gruppen miteinander vergleicht, während der Zeitraum zwischen Neolithikum und Nach-Neolithikum eine ziemlich konstante Verteilung der polygenetischen Intelligenz-Einschätzungen zeigt."
"The most significant differences can be observed comparing the pre-Neolithic and Neolithic groups, as well as the post-Neolithic and modern groups, whereas the period between the Neolithic and post-Neolithic shows a very constant distribution of PRS scores." 

Wenn man es recht versteht, hat sich der IQ also mit Einführung des Ackerbaus und seit der Eisenzeit in Europa jeweils deutlich verbessert - aber nicht jeweils vorher. Und das würde auch heißen, daß der IQ der anatolisch-neolithischen Herkunftsgruppe sich schon während ihrer Ethnogenese in Nordwest-Anatolien, bzw. in der Ägäis und in Griechenland zu dem ausgebildet haben wird als den er sich dann mit den sich demographisch ausbreitenden ersten Bauern in Europa zeigt.

Die neuen Daten haben eine Reihe von Implikationen auch für unsere indogermanischen Vorfahren in der Bronzezeit. Wenn ein PRS ("polygenic risk score") von 0,2 gleichzusetzen wäre mit einem IQ von 100 (heute in Mitteleuropa vorliegt), stellt sich die Frage, was die PRS-Werte von 0 und -0,2 in Abbildung 1 bedeuten. Da gäbe es mehrere Möglichkeiten. Die IQ-Unterschiede zwischen den Epochen könnten 4 IQ-Punkte (A), 7,5 IQ-Punkte (B), 10-IQ-Punkte (C) oder 15 IQ-Punkte (D) betragen:

Möglichkeit A

PRS 0 = IQ 96 (Frühe Bauern / Indogermanen)

PRS -0,2 = IQ 90 (Mesolithiker)

Möglichkeit B

PRS 0 = IQ 92,5 (Frühe Bauern / Indogermanen)

PRS -0,2 = IQ 85 (Mesolithiker)

Möglichkeit C

PRS 0 = IQ 90 (Frühe Bauern / Indogermanen)

PRS -0,2 = IQ 80 (Mesolithiker)

Möglichkeit D

PRS 0 = IQ 85 (Frühe Bauern / Indogermanen)

PRS -0,2 = IQ 70 (Mesolithiker)

Der Autor dieser Zeilen weiß es schlicht nicht. Und er hofft auf Antwort diesbezüglich in den Kommentaren bei Emil Kirkegaard (2).

Hier auf dem Blog waren wir bislang auch schon davon ausgegangen, daß sich ein höherer IQ mit einer jeweiligen Herkunftsgruppe ausbreiten könnte - auch schon in der Vorgeschichte. Bezüglich der anatolisch-neolithischen Herkunftsgruppe hat sich diese Annahme mit dieser Studie voll bestätigt.

Wenn Europäer schon während der Bronzezeit außerhalb von Europa auftreten (z.B. in Afrika), scheint der von ihnen mit gebrachte IQ - nach dieser Studie (1) - aber eher unabhängig davon zu sein, ob er eher von der anatolisch-neolithischen Herkunftsgruppe her stammt oder von der indoeuropäischen Steppengenetik her. Letzteres wäre eine neue Erkenntnis für uns. 

Wie überhaupt dieser sehr klare Intelligenz-Anstieg seit dem Neolithikum und nach der Eisenzeit eine neue, bedeutende Erkenntnis darstellt.  

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*) Die Öffentlichkeit war damals auf dieses Buch hingewiesen worden mit plump-plakativen Überschriften wie ""Genetic determinism rides again" (zu Deutsch: "Er sitzt wieder im Sattel, der genetische Determinismus") (Stgen2018).
**) Dieser Fehlschluß geistert noch heute durch die Wissenschaftslandschaft und ist erst neulich wieder in der Gedenkausgabe einer Zeitschrift geradezu "gefeiert" worden (3) (s.a. Wiki).
***) Soeben erscheint eine erste archäogenetische Studie zu spätmittelalterlichen europäischen Menschen, nämlich zu aschkenasischen Juden in Erfurt (5).  

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  1. Kuijpers, Y., Domínguez-Andrés, J., Bakker, O. B., Gupta, M. K., Grasshoff, M., Xu, C. J., ... & Li, Y. (2022). Evolutionary Trajectories of Complex Traits in European Populations of Modern Humans. Frontiers in genetics, 699, 28.3.2022, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fgene.2022.833190/full
  2. Emil O. W. Kirkegaard: Ancient eugenics confirmed - We got scooped, but that's a good thing [zu Deutsch: "Man ist uns zuvor gekommen - aber das ist gut so"], 17.5.2022, https://kirkegaard.substack.com/p/ancient-eugenics-confirmed 
  3. Celebrating 50 years since Lewontin's apportionment of human diversity. compiled and edited by Michael D. Edge, Sohini Ramachandran and Noah A. Rosenberg, Philosophical Transactions of the Royal Society B 377.1852 (2022): 20200405, 18.4.2022,  https://royalsocietypublishing.org/toc/rstb/2022/377/1852
  4. Radboud University Medical Center. "Neolithic made us taller and more intelligent but more prone to heart disease: How modern European populations have evolved over the past 50,000 years." ScienceDaily. ScienceDaily, 6 April 2022. <www.sciencedaily.com/releases/2022/04/220406101723.htm>.
  5. Genome-wide data from medieval German Jews show that the Ashkenazi founder event pre-dated the 14th century. Shamam Waldman, Daniel Backenroth, Éadaoin Harney, Stefan Flohr, Nadia C. Neff, Gina M. Buckley, Hila Fridman, Ali Akbari, Nadin Rohland, Swapan Mallick, Jorge Cano Nistal, Jin Yu, Nir Barzilai, Inga Peter, Gil Atzmon, Harry Ostrer, Todd Lencz, Yosef E. Maruvka, Maike Lämmerhirt, Leonard V. Rutgers, Virginie Renson, Keith M. Prufer, Stephan Schiffels, Harald Ringbauer, Karin Sczech, Shai Carmi, David Reich, bioRxiv 2022.05.13.491805; doi: https://doi.org/10.1101/2022.05.13.491805, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.05.13.491805v1.full

Dienstag, 17. Mai 2022

Als die Frauen Anatoliens Waffen trugen (3.100-2.000 v. Ztr.)

Die Stadtstaaten Anatoliens in Kriegen miteinander und - gegebenenfalls - mit der Kura-Araxes-Kultur aus dem Kaukasus im 3. Jahrtausend v. Ztr. 
- Parallel-Gesellschaften ähnlich wie zu gleicher Zeit in Europa 

Die monotheistischen Religionen Christentum und Islam haben eine massive Abwertung der Frauen in die Völkerwelt getragen. Der Kampf um die Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann setzte nachhaltig erst Ende des 19. Jahrhunderts ein, als die religiösen Grundlagen des Christentums aufgrund des naturwissenschaftlichen Fortschritts brüchig zu werden begannen. 

Noch heute sind die typisch weiblichen Berufe massiv schlechter bezahlt als die typisch männlichen Berufe. Frauen und Eltern werden sogar für die Erziehung ihrer eigenen Kinder überhaupt nicht bezahlt, obwohl diese Forderung seit Gerhard Mackenroth im Raum steht ("Familienlastenausgleich"), obwohl dies der Sache nach im 4. Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland von 1994 klar gefordert worden ist, und obwohl nichts - angesichts der demographischen Entwicklung in den Völkern der Nordhalbkugel - naheliegender wäre als hier - endlich - eine Gleichstellung herbeizuführen.     

Abb. 1: Speerspitzen und Dolche aus Arslantepe (Melid) aus dem 33. bis 31. Jahrhundert v. Ztr., jetzt im Archäologischen Museum von Malatya im östlichen Zentralanatolien (Tw)

Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben viele wissenschaftsnahe Menschen innerhalb der Frauenbewegung und solche, die sich derselben verbunden gefühlt haben, darauf hingewiesen, daß in Gräbern vorchristlicher, germanischer Frauen Waffen gefunden worden sind. Diese Waffenfunde wurden als Zeichen einer anderen gesellschaftlichen Stellung der Frau gedeutet als sie sich mit der Einführung des Christentums in den Völkern Europas im Mittelalter und in der Neuzeit heraus ausgebildet hatte.*) Denn nun galten Frauen ja als der Urquell aller "Sünde". Sie waren es, die sich von der Schlange im Paradies verführen ließen und dann den Mann verführten. Eine Verteufelung der Frau ging mit diesen Ansichten einher, obwohl die Germanen in den Frauen - nach Tacitus - etwas "Heiliges" gesehen hatten. 

Die Erkenntnis nun des vorchristlichen Waffenbesitzes von Frauen greift heute eine moderne, sogenannte "feministische Archäologie" erneut auf . Und zwar nun mit deutlich erweitertem Erkenntnisstand. Während man in diesem Bereich lange Zeit auf berittene, Waffen tragende Frauen in den skythischen Völkern hingewiesen hat ("Amazonen"), tritt in der Vorgeschichtsforschung nun ein ganz neuer geographischer Bereich in den Kegel der Aufmerksamkeit.

In einer neuen Studie wird aufgezeigt, daß es nicht zwangsläufig Völker indogermanischer Herkunft sein mußten (wie Germanen oder Skythen), die in der Vorzeit Waffen getragen haben. Nein, vom Anatolien der Frühen Bronzezeit (nach 3.000 v. Ztr.) wird mehr als eindrucksvoll aufgezeigt, daß auch hier Frauen in vorchristlichen Kulturen auffallend häufig bewaffnet sein konnten, ja, sich Menschen überhaupt auffallend häufig gegenseitig verletzen und töten konnten (1):

Daten von vier Fundorten legen hohe Gewaltraten innerhalb dieser Bevölkerungen nahe, viel höhere als solche  in früheren oder späteren Zeiten deutlich werden, und das auch über alle Altersstufen und Geschlechter hinweg.
Mortuary data from these four sites then indicate high levels of violence perpetrated upon these populations, far more than is apparent in earlier or later time periods, and across all age and gender groups.

Es sei hier nur ein angeführtes Beispiel heraus gegriffen (1):

Am Fundort Elmalı-Karataş wurden vergleichsweise viele verheilte Verletzungen an den Resten der erwachsenen Menschen festgetellt, und zwar sowohl bei männlichen wie weiblichen Überresten, so bei 20 % von allen 64 Männern und bei 12 % von 42 Frauen. Die Verletzungen waren vornehmlich verheilte Unterarm-Brüche, sowie verheilte und nicht verheilte Kopfverletzungen. Zwei erwachsene Männer wiesen tödliche Kopfverletzungen auf dem Hinterhaupt auf, verursacht durch eine Axt.
At Elmalı-Karataş, a relatively large number of healed injuries on the adult remains were noted, from both male and female remains, including 20% of all males, out of 64 individuals and 12% of females, out of 42 individuals. These injuries were mainly ulnar parry fractures and healed and unhealed cranial trauma. Two adult males had fatal cranial trauma on the occipital from an axe. 

Die Archäologen beobachten für das frühbronzezeitliche zentrale Anatolien (1):

Verhaltensweisen gesellschaftlich sanktionierter Gewalt in Form von Feindseligkeiten zwischen Siedlungen und Regionen fanden weite Verbreitung. Sie machten höhere Zahlen von Waffen notwendig, selbst in kleineren Siedlungen.
Patterns of societally sanctioned violence, seen here as hostilities between settlements and regions, became far more widespread, thus necessitating higher numbers of weapons, even among smaller settlements.

Ein weiteres in der Studie angeführtes Beispiel sei herausgegriffen, der Fundort Alaca Höyük im zentralen Anatolien (1):

Alle erwachsenen Männer wurden mit Waffen begraben, einschließlich Streitkolben, Dolchen und Speeren, 50 % der erwachsenen Frauen wurden mit Streitkolben, Dolchen und Speeren begraben.
All identified adult males buried with weapons, including maceheads, daggers and spears, 50% of identified adult females buried with maceheads, daggers. and spears.

Die Gräber Anatoliens der Frühen Bronzezeit zeigen auf, daß es den dortigen Bevölkerungen wichtig war, "kriegstüchtig" zu sein, "wehrhaft" zu sein, "streitbar" zu sein. Bei den Ausgräbern entsteht der Eindruck einer allgemeinen Bewaffnung der Bevölkerung innerhalb der befestigte Städte (1). Vielfach wurden dort Frauen ganz ebenso wie Männer mit Waffenbeigaben bestattet (1). Die Knochen der begrabenen Menschen weisen nicht selten tödliche - oder auch ausgeheilte - Verletzungen durch Hieb- und Stichwaffen auf (1). Zusammenfassend wird ausgeführt (1):

Die Waffen, die sowohl in männlichen wie in weiblichen Gräbern im zentralen Anatolien gefunden wurden, zeigen keine Zeichen von Unterschieden im Material, in der Formung oder im Benutzungsgrad. Es gab allerdings deutliche Geschlechtsunterschiede im Typ der Waffen. Als männlich identifizierte Gräber enthielten eine viel größeres Spektrum an Waffen, einschließlich Dolche, Äxte, Streitkolben, Speere und Rasiermesser, während Frauen in der Regel zusammen mit Dolchen und Speeren gefunden wurden. (...) Das frühbronzezeitliche zentrale Anatolien zeigt eine Zunahme in dem Vorbereitetsein auf Gewalt innerhalb der urbanen Landschaft auf (...). Waffen erscheinen als Grabbeigaben, diese nehmen während des Zeitalters stetig an Zahl zu. Sie werden über viele Ausgrabungsorte hinweg bei nahezu allen erwachsenen Männern gefunden und schließlich an einigen Ausgrabungsorten auch bei nahezu der Hälfte der bestatteten erwachsenen Frauen, niemals aber in Gräbern von Jugendlichen oder Kindern.
The weapons recovered from both male and female graves in central Anatolia do not show any signs of being different in material, appearance, or use-wear, though there are perceivable sexual differences in types of weapons. Male-identified burials had a far wider range of weapons, including daggers, axes, maceheads, spears, and razors, while women were found consistently with daggers and spears. (...) Evidence from Early Bronze Age central Anatolia reveals increases in both the preparedness for violence in the urban landscape and evidence of violence upon settlements and upon the remains of the people themselves. Simultaneously, weapons appear as grave goods and increase in numbers throughout this time period, being found on nearly all adult males across numerous sites and ultimately, in as high as half the adult female graves at some sites, but never in sub-adult burials.

Nicht nur für die heidnische, germanische, vormittelalterliche Frau gibt es also Hinweise auf "Gleichberechtigung", was von nichtchristlichen Autoren schon der Frauenbewegung der Zwischenkriegszeit (1919 bis 1933) herausgestellt worden war. Sondern dasselbe galt auch für die anatolischen, bronzezeitlichen Frauen.

Kämpfende Frauen findet man in der "Ilias" des Homer dann nicht mehr. Diese spielt auch an der Westküste Anatoliens und ist im 7. Jahrhundert v. Ztr. nieder geschrieben worden und spiegelt im historischen Kern geschichtliche Ereignisse wieder, die im 12. oder 11. Jahrhundert v. Ztr. dort stattgefunden haben könnten. Damit ist aufgezeigt, daß sich schon zwischen der Frühen, der Mittleren und der Späten Bronzezeit Anatoliens auf dem Gebiet der Machtstellung der Geschlechter deutliche Veränderungen vollzogen haben könnten.

Mit der Einführung des Islam im Vorderen Orient im Frühmittelalter ist es dann aber zu einer weiteren außerordentlich starken Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Frau gekommen. Es kann also mancherlei Sinn machen, jene türkischen Frauen und Männer, die heute in Anatolien leben und zum Teil das Erbe der bronzezeitlichen Menschen Anatoliens in sich tragen, auf die Stellung der Frau bei ihren vorislamischen Vorfahren aufmerksam zu machen. 

Die moderne Forschung zeigt auf: Das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern wie es sich im Mittelalter und in der Neuzeit unter der Herrschaft der monotheistischen Religionen ausgebildet hat, war und ist nicht "alternativlos".

Schon in der Frühen Bronzezeit gab es im Akkadischen Reich und auch im Alten Ägypten Stehende Heere. Daß es solche auch in Anatolien gab, ist bisher nicht nachgewiesen. Wir lesen (1):

Am Ende der Frühen Bronzezeit (also um 2.000 v. Ztr.) brachen zahllose Siedlungen über den ganzen Nahen Osten hinweg zusammen und erfuhren einen Niedergang, einschließlich jener im zentralen Anatolien.
By the end of the Early Bronze Age, numerous settlements throughout the Near East either collapsed or went into decline, including those in central Anatolia. Settlements were suddenly abandoned or significantly reduced in size and population, including Ahlatlıbel, Alaca Höyük, Tarsus, Kalınkaya-Toptaştepe, Kültepe Kaneş, Küllüoba, and Maşat Höyük.

Mit der Geschichte Anatoliens ab dem akeramischen Neolithikum im 7. Jahrtausend v. Ztr. haben wir uns in jüngeren Blogbeiträgen hier auf dem Blog ja schon sehr ausführlich beschäftigt. 

Wichtig ist es, im Hinterkopf zu behalten, daß in der Frühbronzezeit Anatoliens die aus dem Kaukasus stammende und dort kulturell von Indogermanen mit beeinflußte Kura-Araxes-Kultur über ganz Anatolien bis in die Levante hinein und bis in den Iran hinein eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. 

Kura-Araxes - "Rebellen und Könige" auch hier?

Und wenn man neuere Studien über die Kura-Araxes-Kultur liest (2, 3), kommt einem der Gedanke, daß es sehr reizvoll sein könnte, die Ausbreitungsweise der Kura-Araxes-Kultur innerhalb von Anatolien und der angrenzenden Räume im 3. Jahrtausend v. Ztr. zu vergleichen mit der zeitgleichen Ausbreitungsweise der Schnurkeramiker und der Glockenbecher-Kultur in Europa (zu letzteren siehe Stgen5/2021, Stgen8/2021a, Stgen8/2021b, Stgen8/2021c). 

Es scheint nämlich, als hätten wir es in beiden Fällen mit dem Auftreten von "Parallel-Gesellschaften" zu tun, die sich - als "beweglichere" (nomadisch oder halbnomadisch lebende) Völker - zwischen die seit vielen Jahrhunderten vollseßhaft gewordenen Völker beider Großräume geschoben hätten. Damit könnte das Geschehen in Europa Licht werfen auf das zeitgleiche Geschehen in Anatolien und umgekehrt. Dieser Gedanke kommt uns bei der Lektüre einer soeben neu erschienenen Studie zur Kura-Araxes-Kultur (2):

Sollte man sich ein archäologisches Phänomen ausdenken, das eine Antithese darstellt zu den frühen territorialisierten Gesellschaften des 4. und 3. Jahrtausends v. Ztr. in Mesopotamien und Ägypten, könnte man sich schwerlich etwas Besseres ausdenken als jenes Netzwerk von Orten, Landschaften und kulturellen Neigungen, das Archäologen unter dem Schlagwort "Kura-Araxes" zusammen fassen. Weder eine politische Einheit, noch eine Kultur, noch ein Volk in irgendeinem strikteren Sinne - vielmehr stellt die Kura-Araxes-Kultur ein Anarchipel von Dörfern dar, die charakterisiert sind durch einen Fokus auf den individuellen Haushalt und Herd, der - zwischen Hochland und Ebene - in eine Matrix von agro-pastoralen und mineralen Ressourcen eingegliedert ist. Diese Insel, die keinen erkennbaren Mittel- oder Ausgangspunkt aufweist oder irgendein klares Muster ihrer Verbreitung, umgab - und infiltrierte gelegentlich - die Lücken zwischen den frühen urbanisierten und staaten-bildenden Projekten, an deren Grenzen es stieß. 
If one were asked to invent an archaeological entity that could provide an antithesis to the early territorialized societies of 4th-3rd millennium BCE Mesopotamia and Egypt, one could hardly do better than the meshwork of places, landscapes and cultural dispositions assembled by archaeologists under the rubric of ‘Kura-Araxes’ (Kushnareva 1997; Chataigner and Palumbi 2014; Sagona2017, 213–280). Neither a polity, nor a culture, nor an ethnicity in any strict sense, Kura-Araxes is anarchipelago of villages characterized by a focus on the individual household and hearth, set in a highland-lowland matrix of agro-pastoral and mineral resources (Figure 1). This archipelago, which has no recognized core or point of origin or any clear pattern to its expansion, surrounded and occasionally infiltrated the gaps between the early urbanizing and state-making projects that it abutted.

Bei diesen Worten fühlt man sich sofort erinnert an die Ausbreitungsweise der Glockenbecher- und Schnurkeramik-Kultur parallel in den marginalisierten Randbereichen der zeitgleichen Kugelamphoren-Kultur. Es deuten sich ähnliche mögliche Interpretationsmuster an: Tolerierte Feinde oder angesiedelte Verbündete, "Konföderaten", die dennoch unabhängig agieren, ihr Eigenleben aufweisen und aufrecht erhalten, die untereinander heiraten, und die sich auch gerne zu den Eliten, Herrschern der angrenzenden Reiche aufschwingen können oder aber sich mit aufständischen Unterschichten dieser Reiche verbünden können: "Rebellen" und "Könige" zugleich (Stgen8/2021). Ähnliche Phänomene wie bei der frühen Schnurkeramik-Kultur im Weichselraum oder in Dänemark oder bei der frühen Glockenbecher-Kultur in Böhmen und in der Schweiz. Wir lesen weiter (2):

Auftretend zeitlich parallel mit den frühen Stadtstaaten und Dynastien des westlichen Asien und des Niltales, findet sich Kura-Araxes nur dort, wo diese Stadtstaaten keine Kontrolle ausübten, ob das nun im südlichen Kaukasus war, in der Ebene des Kaspischen Meeres und des östlichen Anatolien auf dem Höhepunkt der Uruk-Expansion oder im südöstlichen Anatolien, auf dem iranischen Plateau und im Inland der südlichen Levante als sich Uruk zurückzuziehen begann. Dieses weit verbreitete Verhältnis von Exteritorialität zwischen Kura-Araxes und den frühen zentralisierten Stadtstaaten findet sich wieder an einzelnen Orten, wann immer eine seiner regionalen Ausdrucksformen in Kontakt kommt mit wenigstens einer gemäßigten Form von Hierarchisierung wie dies der Fall ist in der südlichen Levante. Die Frühe Bronzezeit III (c. 2850–2500 v. Ztr.) bei Tel Bet Yerah am Südwestufer des Sees Genezareth, bietet eine bemerkenswert detaillierte Veranschaulichung für ein solches Geschehen.
Emerging coevally with the early cities and dynasties of western Asia and the Nile Valley, Kura-Araxes is found only where those polities exerted no control, whether it was in the southern Caucasus, the Caspian plain and eastern Anatolia at the height of the Uruk expansion, or in SE Anatolia, the Iranian plateau, and the inland southern Levant when Uruk began to recede (Wilkinson 2014). This global relation of exteriority between Kura-Araxes and the early centralized polities is reproduced at individual sites whenever one of its regional expressions comes into contact even with a modest form of hierarchization, as in the case of the southern Levant. Early Bronze III (c. 2850–2500 BCE) Tel Bet Yerah, on the southwest shore of the Sea of Galilee, offers a remarkably detailed illustration of such an instance.

Mit diesen Zitaten wird schon deutlich, daß anhand dieser und anderer Studien noch weitere, aufregendende Ausführungen auf der bis hier vorgegebenen Linie in diesem Beitrag oder in weiteren künftigen Beiträgen hier auf dem Blog oder anderwärts gegeben werden könnten.

Keine einseitige Viehwirtschaft

Ergänzung 25.12.2022: Zu der Ernährung der Menschen der Kura-Araxes-Kultur im heutigen Armenien wird in einer neuen Studie anhand des Studiums der chemischen Zusammensetzung der Knochen ausgeführt: (PLoSOne2022)

.... vielfältige Nahrungsquellen über die Kura-Araxes-Siedlungen Armeniens hinweg, bestehend aus einer Mischwirtschaft von Fleisch- und Pflanzenproduktion, von Verzehr von Fischen und Milchprodukten. ...
Our results provide compelling evidence for a diversified diet across KA settlements in Armenia, comprising a mixed economy of meat and plant processing, aquatic fats and dairying. The preservation of diagnostic plant lipid biomarkers, notably long-chain fatty acids (C20 to C28) and n-alkanes (C23 to C33) has enabled the identification of the earliest processing of plants in pottery of the region. These findings suggest that KA settlements were agropastoral exploiting local resources. 

Die bisherige Annahme, daß die Menschen der Kura-Araxes-Kultur einseitig von nomadischer Viehwirtschaft gelebt hätten, wird damit also widerlegt.

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*) Unter anderem haben darauf sehr betont zum Beispiel sogenannte "völkische Feministinnen" der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingewiesen, die deshalb in Karikaturen des "Simplizissismus" auch gerne einmal als schwer bewaffnete germanische "Mannweiber" dargestellt wurden (StgrNat2012).

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  1. Selover, Stephanie. "Weapons, warfare, and women: the dangerous lives of Early Bronze Age women in central Anatolia." Journal of Conflict Archaeology 15.3 (2020): 176-191 (Researchgate)
  2. Greenberg, Raphael. "Fragments of an anarchic society: Kura-Araxes territorialization in the third millennium BC town at Tel Bet Yerah." World Archaeology (2021): 1-17 (Resarchgate
  3. Kohl, Philip L. "Origins, homelands and migrations: situating the Kura-Araxes Early Transcaucasian'culture'within the history of Bronze Age Eurasia." Tel Aviv 36.2 (2009): 241-265 (pdf).

Montag, 9. Mai 2022

Urheimat der Indogermanen - Wolga und Don?

Eine neue archäogenetische Studie 
- Sie bringt viele Detail-Erkenntnisse mit sich
- Bezüglich der Ethnogenese der Indogermanen beunruhigt sie mit neuen Fragen

Die archäogenetische Forschungsgruppe um Eske Willerslev in Dänemark hat eine sehr umfassende - sich noch im Review-Verfahren befindende - Studie im Vorab veröffentlicht (1), in der die Ergebnisse der genetischen Sequenzierung von 317 Menschenfunden zwischen Spanien und Baikal-See aus der Zeit zwischen Mesolithikum und Bronzezeit neu in den bisherigen Forschungsstand eingeordnet werden. Obwohl diese Studie vergleichsweise viele neue archäogenetische Daten beisteuert, stellt sie insgesamt doch eher nur eine "Wiederholung" und Bestätigung der bisherigen Erkenntnisse dar. Umwälzend neue Erkenntnisse - so wie in jedem der Jahre seit 2015 - finden wir in dieser nicht. 

Abb. 1: Der Don, ein Fluß, der nur durch russisches Staatsterritorium fließt - Am Mittleren Don finden sich die ältesten Y-Chromosomen der heutigen Indogermanen (bzw. der nachmaligen "Schnurkeramiker")

Daran wird erkennbar, daß die Archäogenetiker "große" offene Fragen (wie den Ursprung der Indogermanen) künftig nur noch in vermutlich noch engerer Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Archäologen werden klären können und in engerer Fokussierung auf ganz spezielle Fragestellungen. Einfach nur viele Menschenfunde aller Regionen und Zeiten sequenzieren und die Daten präsentieren, scheint jedenfalls nicht mehr ganz so grundlegend neue Erkenntnisse mit sich zu bringen wie das im Zusammenhang mit fokussierteren Fragestellungen derzeit doch noch immer einmal wieder geschieht. so vor einem Jahr in der archäogenetischen Studie zu Böhmen (Studgen2021) und so in diesem Jahr in der archäogenetischen Studie zur Herkunft der Landnahme-Ungarn (Stgen2022). Obwohl beide Studien regional begrenzter waren, haben sie - womöglich gerade durch diese regionale Begrenzung - noch aufregendere neue Erkenntnisse mit sich gebracht als diese neue Studie, in der bisherige Erkenntnisse eher nur weiter abgesichert und wiederholt werden.

Themen dieses Blogartikels:

  1. Die russischen Jäger und Sammler
  2. Ost-West-Teilung Europas bis 3.000 v. Ztr.
  3. Kaukasus-Genetik am Don 5.300 v. Ztr.
  4. Ethnogenese der Indogermanen an Wolga und Don?
  5. Umbruchszeit in Dänemark um 3.000 v. Ztr.
  6. Die Trichterbecher-Kultur (ab 4.300 v. Ztr.) stammt genetisch aus Frankreich
  7. Umbrüche in den Y-Chromosomen der europäischen Indogermanen der Frühbronzezeit (ab 2.800 v. Ztr.)   
  8. Mesolithiker und Indogermanen in Sibirien (ab 3.000 v. Ztr.)
  9. Die irische Sprache kam wohl mit den Glockenbecher-Leuten nach Irland
  10. "A reduction of within-cluster relatedness"

In den groben Umrissen ändert sich das große Bild der Völkergeschichte Europas und Asiens durch diese neue Studie nicht. Aber bezüglich vieler Details kommt es zu weiteren Präzisierungen, zur schärferen Fassung des bisherigen Kenntnisstandes.

Und auch diese Details wollen wir uns im folgenden nicht entgehen lassen. Zumal manches Detail dann doch wieder der Ausgangspunkt einer umwälzenderen, neuen Erkenntnis sein könnte. Wir gliedern die vielfältigen Themen der neuen Studie hier in zehn Abschnitte (siehe Übersicht).

1. Die "russischen Jäger und Sammler" werden als neue, weitere, eigene Vorfahrengruppe hervor gehoben 

Nach dieser Studie gab es im Mesolithikum (also nach der Eiszeit) in Europa (1):

  1. westeuropäische Jäger und Sammler (Kernraum: Italien)
  2. osteuropäische Jäger und Sammler (Kerraum: Ukraine, Mittlerer Don) und
  3. "russische" Jäger und Sammler (Kerraum: Rußland, Obere Wolga)

(s.a. 1, Fig. 3). Die beiden ersteren waren so schon bekannt, von der letzteren hören wir hier auf dem Blog zum ersten mal. Alle drei Großgruppen trafen in Skandinavien aufeinander, was unserem bisherigen Kenntnisstand zu dieser Frage (Stgen2020) noch einmal mehr Tiefenschärfe verleiht. Die westeuropäischen Jäger und Sammler kamen danach über Dänemark nach Skandinavien, die osteuropäischen Jäger und Sammler kamen über den östlichen Ostseeraum und Südschweden nach Skandinavien und die russischen Jäger und Sammler kamen über den Hohen Norden, am Nordkap entlang gen Süden entlang der norwegischen Küste nach Skandinavien. 

Diese Menschengruppe haben sich nach der Eiszeit aus Rückzugsräumen ("Refugia") heraus wieder ausgebreitet gemeinsam mit einem jeweils eigenen Pflanzen- und Tier-Gruppen-Spektrum, die diesen Rückzugsräumen jeweils zugeordnet werden können. So schreiben die Forscher. Es könnte interessant sein, diesen Zusammenhängen noch genauer nachzugehen.

Die ukrainischen Jäger und Sammler haben sich im späteren Mesolithikum (um 6.400 v. Ztr.) in genetischen Anteilen sogar bis nach Nordspanien ausgebreitet. Umgekehrt haben sich die westeuropäischen Jäger und Sammler in genetischen Anteilen bis in die Ukraine und in den östlichen Ostseeraum ausgebreitet. (In Litauen hat sich ihr genetisches Erbe dementsprechend sogar bis heute am umfangreichsten gehalten in Europa, siehe unten.)

2. Genetische Ost-West-Teilung Europas vor 3.000 v. Ztr.

Die Genetiker sprechen von einem großen Ost-West-Unterschied, eine "große Teilung" in der genetischen Geschichte Europas, deren Grenze von der Ostsee bis hinunter zum Schwarzen Meer reichen würde. Überall dort, wohin sich die anatolisch-neolithischen Bauern ausgebreitet haben (zuerst vor allem als Bandkeramik, dann als Cucutenni-Tripolje-Kultur und schließlich als Kugelamphoren-Kultur) wäre demnach "Westen", überall dort, wohin sich diese - lange Zeit - nicht ausgebreitet hat, hat sich die vormalige mesolithische Genetik und Lebensweise viel länger in ursprünglicher Form gehalten, nämlich bis zur Ankunft der Indogermanen (um 3.000 v. Ztr.). Und das wäre dann - in diesem Sinne - "Osten".

Eine neue Erkenntnis ist das letztlich nicht. Wir haben auf diesen Ost-West-Gegensatz schon in Zusammenhang mit der Hausmaus-Forschung hingewiesen (Stgen2008). Zudem ist dieser genetische Ost-West-Gegensatz ja gerade durch die vielfältige und bewegte Geschichte der indogermanischen Völker in Osteuropa und im nordwestlichen Asien wieder "verwischt" worden. Diese haben als Andronowo-Kultur ja dann doch auch anatolisch-neolithische Genetik bis weit über den Ural hinaus verbreitet, wo sie noch heute zu finden ist (s. Abb. 2).

Daß die Genetiker diesen Gegensatz gerade jetzt so betont heraus stellen, könnte womöglich doch auch - zumindest ein wenig - mit aktuellen politischen Entwicklungen zu tun zu haben. Wie auch immer. Schon seit Jahrhunderten fragen Forscher nach dem Ursprung eines gewissen germanisch-slawischen Gegensatzes in Osteuropa, der schon in einem Gegensatz zwischen West- und Ostgermanen widerspiegeln könnte, von dem schon die Römer gewußt haben. Und natürlich könnte ein solcher Gegensatz noch tiefer in der Geschichte wurzeln. 

Auffallend ist an dieser Stelle eigentlich nur, daß sich Genetiker offenbar von aktuellen Entwicklungen dazu ermutigt fühlen, auf diesen nun betonter hinzuweisen.

3. Kaukasus-Genetik schon 5.300 v. Ztr. am Don

Was aber besonders wichtig ist: Schon ab 5.300 v. Ztr. hat sich Kaukasus-Jäger-Sammler-Genetik bis an den Mittleren Don ausgebreitet (20 bis 30 %). Das paßt zu archäologischen Untersuchungen, die schon ein akeramisches Neolithikum am Don festgestellt haben, das sich - so überraschenderweise - vom Zagros-Gebirge aus bis zum Don ausgebreitet haben könnte (Stgen2022).

Wenn diese Genetik hierher schon so viel früher als an die Mittlere Wolga gelangt ist, kann man durchaus annehmen, daß es an Don und Wolga parallele Ethnogenese-Prozesse gegeben hat, die zu ähnlichen Ergebnissen führten, wobei aus den Ethnogenese-Prozessen an der Wolga die indogermanische Chwalynsk-Kultur hervorgegangen sein könnte, die die Genetik der Indogermanen des 5. Jahrtausend v. Ztr. bis zum Kaukasus, bis nach Warna und bis nach Ungarn ausgebreitet hätte, während aus den Ethnogenese-Prozessen am Don die indogermanischen Sredni-Stog- und Jamnaja-Kulturen des 4. Jahrtausends v. Ztr. hervorgegangen sein könnten, die durch eine leicht andere Y-chromosomale Haplotypen-Verteilung gekennzeichnet war, was schon länger für Fragen unter den Archäogenetikern gesorgt hatte. 

4. Ethnogenese der Indogermanen an Wolga und Don?

Was aber nun schreiben die Forscher über den Ursprung der Jamnaja-Genetik in der Ukraine des 4. Jahrtausends v. Ztr. in der nordpontischen Steppe? Womöglich stammt sie ja gar nicht ab von der Chwalynsk-Genetik des 5. Jahrtausends v. Ztr. an der Mittleren Wolga wie das bislang hatte angenommen werden können (so auch in vielen Beiträgen hier auf dem Blog). Wir lesen nämlich (1):

Wir zeigen, daß diese "Steppen"-Herkunft (3.000 bis 2.300 v. Ztr.) modelliert werden kann als eine Vermischung von 65 % Jäger-Sammler-Herkunft der Mittleren Don-Region (5.500 v. Ztr.) und 35 % Herkunft vom Kaukasus (11.000 bis 8.000 v. Ztr.). Die Jäger und Sammler des Mittleren Don, die schon Herkunft von Kaukasus-Jäger-Sammlern in sich trugen, dienen als eine bislang unbekannte Quelle für den größeren Teil der Herkunft der Jamnaja-Genome.
We demonstrate that this “steppe” ancestry (Steppe_5000BP_4300BP) can be modelled as a mixture of ~65% ancestry related to herein reported hunter-gatherer genomes from the Middle Don River region (MiddleDon_7500BP) and ~35% ancestry related to hunter-gatherers from Caucasus (Caucasus_13000BP_10000BP) (Extended Data Fig. 4). Thus, Middle Don hunter-gatherers, who already carry ancestry related to Caucasus hunter-gatherers (Fig. 2), serve as a hitherto unknown proximal source for the majority ancestry contribution into Yamnaya genomes. 

Das wäre allerdings ein mehr als aufsehenerregendes Ergebnis. 5.500 v. Ztr. lebten am Mittleren Don Menschen mit sehr ähnlicher Genetik wie sie Menschen in der Waldzone an der Samara-Schleife der Mittleren Wolga um 4.800 v. Ztr. auch in sich trugen. Und die früheste neolithische Kultur an der Unteren Wolga - vermutlich die Poltavka-Kultur um 4.800 v. Ztr. - mag von Menschen mit ähnlicher Genetik getragen gewesen sein wie sie auch schon um 8.000 v. Ztr. im Kaukasus (und Zagros-Gebirge) gelebt haben und von denen womöglich auch schon hier auf dem Blog behandelte frühneolithische, zum Teil sogar akeramische frühneolithische Kulturen am Unteren Don getragen gewesen sein könnten (Stgen2022).  Und von dieser könnte zum Beispiel auch die Mariupol-Kultur (6.500-4.000 v. Ztr.) (Wiki, engl) am Asowschen Meer abstammen. 

Ob hier tatsächlich eine "bislang unbekannte Quelle für den größeren Teil der Jamnaja-Genome" entdeckt worden ist? *)

Deutet sich hier doch eine neue Erkenntnis an, nämlich dahingehend, daß es - sozusagen - parallel zwei Ethnogenese-Prozesse gegeben hat, einen an der Mittleren Wolga und einen am Mittleren Don? Und daß die Nachkommen des ersteren Ethnogenese-Prozesses zwar die früheste Ausbreitung der Indogermanen (bis nach Ungarn) bestimmten, daß diese aber in der nachfolgenden Geschichte der Indogermanen kaum noch eine Rolle spielten, quasi "abgelöst" wurden, ablesebar insbesondere an dem Wechsel in der Häufigkeit der Y-chromosomalen Haplogruppen beim Wechsel von der Chwalynsk-Kultur des 5. Jahrtausends v. Ztr. zur Jamnaja-Kultur des 4. Jahrtausends v. Ztr.? Diese Überlegungen zum Replacment der Y-chromosomalen Haplogruppen bei den Indogermanen des 4. Jahrtausends v. Ztr. vorausgesetzt, würde man dazu im Supplement 1 die folgenden weiterführenden Ausführungen finden (1) (Suppl 1):

Insbesondere ein neolithisches Individuum von der Mittleren Don-Region aus der Zeit um 5.300 v. Ztr. ordnet sich in eine basale R1a-Gruppe ein zusammen mit frühen Individuen, die in Verbindung stehen mit der Schnurkeramik-Kultur, womit dieses das bislang frühest bekannte Individuum dieser Linie darstellen würde.
Notably, a ~7,300-year-old Neolithic individual from the Middle Don region (NEO113) was placed in a basal R1a clade together with early individuals associated with the Corded Ware complex (poz81, RISE446), which would make it the earliest observation of this lineage reported to date.

Wenn wir uns recht erinnern, waren auch schon manche Überlegungen von David Anthony in diese Richtung gegangen. Nämlich daß die Y-chromosomalen Haplogruppen der Dnjepr-Donzez-Kultur Ähnlichkeiten aufwiesen mit denen der nachmaligen Jamnaja-Kultur. Wir bleiben gespannt wie ein Flitzebogen. 

Hat es zwei "Urheimaten" und zwei Ethnogenese-Prozesse der Urindogermanen gegeben?

Wir lesen weiter (Suppl 1):

Zwei ukranische Individuen gehörten zu einer Untergruppe von R1b1b (R1b-V88), die in heutigen Stämmen in Zentral- und Nordafrika gefunden werden, und die weitere Hinweise geben auf einen frühen osteuropäischen Ursprung diese Y-chromosomalen Haplogruppe. Haplogruppe R1b1a1a (R1b-M73) findet sich häufig unter neolithischen Individuen im heutigen Rußland.
Two Ukrainian individuals belonged to a subclade of R1b1b (R1b-V88) found among present-day Central and North Africans, lending further support (5,10) to an ancient Eastern European origin for this clade. Haplogroup R1b1a1a (R1b-M73) was frequent among Russian Neolithic individuals.

Nord- und Zentralafrika. Die Möglichkeit, daß Indogermanen der Glockenbecher-Kultur ihre Genetik in Nord- und Zentralafrika hinterlassen haben könnten bis heute, ist hier auf dem Blog ebenfalls schon erörtert worden (Stgen2021). Und auch dieser Umstand könnte ein Hinweis sein auf ein zweites Ethnogenese-Ereignis der Urindogermanen in der Ukraine am Mittleren Don. Und wir lesen (Suppl 1):

Sechs Individuen vom Fundort Golubaya Krinitsa in der Region des Mittleren Don sind in ihrer genetischen Verwandtschaft in Richtung auf mesolithische und neolithische Iran- und Kaukasus-Genetik hin verschoben, womit sie genetisch sehr nahe bei den späteren Steppenhirten dieser Region liegen.
Six individuals from Golubaya Krinitsa in the Middle Don region are shifted on a cline along PC1 towards Iranian and Caucasus Mesolithic and Neolithic at the other extreme, falling close to later Steppe pastoralists from the region.

Das ist alles sehr spannend und man darf auf die weiteren Erkenntnisse zu diesen Fragen warten. Von einem Umbruch in der Häufigkeit der Y-Chromosomen beim Übergang von der Chwalynsk- zur Jamnaja-Kultur hatten wir auch schon in einem früheren Beitrag berichtet (Stgen2021).

5. Umbruchszeit in Dänemark (3.000 v. Ztr.)

Die Umbruchszeit um 3.000 v. Ztr., als fast zeitgleich sowohl die Kugelamphoren-Kultur wie die Streitaxt-Kultur in Dänemark auftraten, die vorhergehende Trichterbecher-Kultur unterging und zeitgleich auch noch genetisch reine Mesolithiker in Dänemark und seinen Inseln lebten, haben wir hier auf dem Blog schon sehr ausführlich behandelt (Stichworte "Parallel-Gesellschaften", bzw. "Multiethnische Großreiche") (Stgen2020), Stgen2021). Zu unseren bisherigen Erkenntnissen paßt reibungslos, was wir in dieser neuen Studie lesen, was für die Forscher selbst aber noch sehr "neu" zu sein scheint (1):

Interessanterweise weisen die Genome von zwei dänischen männlichen Individuen aus der Zeit um 3.000 v. Ztr. reine schwedische Jäger-Sammler-Herkunft auf und gruppieren sich verwandtschaftlich mit Individuen der Grübchenkeramischer Kultur von Ajvide auf der Ostseeinsel Gotland. Sie weisen in ihrer chemischen Signatur auf einen nichtlokalen Ursprung dieser ungewöhnlichen Herkunft hin. Unsere Ergebnisse zeigen einen direkten Kontakt über Kattegat und Öresund während der neolithischen Zeit auf, übereinstimmend mit archäologischen Erkenntnissen von Seeland (Ost-Dänemark), das kulturelle Nähe zur Grübchenkeramischen Kultur an der schwedischen Westküste aufzeigt.
Interestingly, the genomes of two ~5,000-year-old Danish male individuals (NEO33, NEO898) were entirely composed of Swedish hunter-gatherer ancestry, and formed a cluster with Pitted Ware Culture (PWC) individuals from Ajvide on the Baltic island of Gotland (Sweden)(49–51). Of the two individuals, NEO033 also displays an outlier Sr-signature (Fig. 4), potentially suggesting a non-local origin matching his unusual ancestry. Overall, our results demonstrate direct contact across the Kattegat and Öresund during Neolithic times (Extended Data Fig. 3, 4), in line with archaeological finds from Zealand (east Denmark) showing cultural affinities to PWC on the Swedish west coast.

Die hier aufscheinenden Zusammenhänge haben wir schon längst in ein größeres europäischen Bild für die Zeit um 3.000 v. Ztr. eingeordnet (Stgen2020), Stgen2021).

Übrigens findet sich das Charakteristikum von Parallel-Gesellschaften für das beginnende 3. Jahrtausend v. Ztr. zeitgleich auch in Anatolien mit dortigen der kulturell indogermanisch beeinflußten Kura-Araxes-Kultur, die sich aus dem Kaukasus heraus bis in den Levante-Raum und bis in den heutigen Iran und bis nach Nordmesopotamien ausbreitete (mehr dazu in einem noch unveröffentlichten Blogbeitrag.)

6. Die Trichterbecher-Kultur stammte genetisch aus Frankreich, die Kugelamphoren-Kultur aus Mitteleuropa

Es wird auch ausgeführt, daß sich mit der Trichterbecher-Kultur zunächst nach Skandinavien eher südfranzösische Bauerngenetik ausgebreitet hat (vermutlich zurückgehend auf die Michelsberger Kultur des Pariser Beckens), während sich um 3.000 v. Ztr. herum mit der Kugelamphoren-Kultur eher mitteleuropäische Bauerngenetik nach Skandinavien ausgebreitet hat, die mehr auf die Bandkeramik zurück geht (1):

Südeuropäische frühe Bauern scheinen den westlichen genetischen Herkunftsanteil für mittel- und spätneolithische Gruppen im westlichen Europa beigetragen zu haben, während mitteleuropäische frühe Bauern-Herkunft vornehmlich festgestellt wird in nachfolgenden neolithischen Gruppen im östlichen Europa und Skandinavien. Diese Ergebnisse stimmen überein mit Ausbreitungs-Richtungen von Bauernpopulationen wie sie schon früher vorgeschlagen worden waren. Sichtbar zum Beispiel in Ähnlichkeiten in der materiellen Kultur und im Flintabbau legen nahe, daß die ersten Bauern in Südskandinavien abstammten von oder in enger sozialer Verbindung standen mit der mitteleuropäischen Michelsberger Kultur.
Southern European early farmers appear to have provided major genetic ancestry to mid- and late Neolithic groups in Western Europe, while central European early farmer ancestry is mainly observed in subsequent Neolithic groups in eastern Europe and Scandinavia (Extended Data Fig. 7D-F). These results are consistent with distinct migratory routes of expanding farmer populations as previously suggested (8). For example, similarities in material culture and flint mining activities could suggest that the first farmers in South Scandinavia originated from or had close social relations with the central European Michelsberg Culture.

Zur Herkunft der Steppen-Genetik wird ausgeführt:

Nachdem die Steppen-Herkunft zwischen 3.000 und 2.300 v. Ztr. erstmals eingeführt worden war, breitete sie sich spannenderweise zusammen mit einer Genetik aus, die der Kugelamphoren-Kultur nahestand, und zwar in allen europäischen Regionen, die in dieser Studie untersucht wurden. (...) In der Wald-Steppen-Übergsngszone nordwestlich des Schwarzen Meeres tauschten östliche Kugelamphoren-Gruppen und westliche Jamnaja-Gruppen kurz vor dem Entstehen der frühesten Schnurkeramik-Gruppen kulturelle Elemente aus, wobei Kugelamphoren-Keramik und Flint-Äxte in Jamnaja-Gräbern enthalten war und sich die für die Jamnaja-Kultur typische Benutzung von Ocker in Kugelamphoren-Gräbern fand. (...) Dies war begrenzt auf kulturelle Beeinflussungen und schloß nicht genetische Vermischung mit ein. (...) Ein beträchtlicher Teil der Schnurkeramik-Ausbreitung geschah über Korridore von kultureller und demischer Transmission, die in der vorhergehenden Epoche durch die Kugelamphoren-Kultur etabliert worden war.
Strikingly, after the Steppe-related ancestry was first introduced into Europe (Steppe_5000BP_4300BP), it expanded together with GAC-related ancestry across all sampled European regions (Extended Data Fig. 7I). This suggests that the spread of steppe-related ancestry throughout Europe was predominantly mediated through groups that were already admixed with GAC-related farmer groups of the eastern European plains. This finding has major implications for understanding the emergence of the CWC. A stylistic connection from GAC ceramics to CWC ceramics has long been suggested, including the use of amphora-shaped vessels and the development of cord decoration patterns (57). Moreover, shortly prior to the emergence of the earliest CWC groups, eastern GAC and western Yamnaya groups exchanged cultural elements in the forest-steppe transition zone northwest of the Black Sea, where GAC ceramic amphorae and flint axes were included in Yamnaya burials, and the typical Yamnaya use of ochre was included in GAC burials (58), indicating close interaction between the groups. Previous ancient genomic data from a few individuals suggested that this was limited to cultural influences and not population admixture (59). However, in the light of our new genetic evidence it appears that this zone, and possibly other similar zones of contact between GAC and Yamnaya (or other closely-related steppe/forest-steppe groups) were key in the formation of the CWC through which steppe-related ancestry and GAC-related ancestry co-dispersed far towards the west and the north (cf. 60). This resulted in regionally diverse situations of interaction and admixture (61,62) but a significant part of the CWC dispersal happened through corridors of cultural and demic transmission which had been established by the GAC during the preceding period.

Ob das wirklich so einfach war? War nicht die erste Generation der Ausbreitung der Schnurkeramik geprägt von unvermischten Genomen? Hm! 

7. Genetische Umbrüche in den männlichen Linien der frühbronzezeitlichen Indogermanen (2.600 bis 1.800 v. Ztr.)

Auch in Dänemark und Skandinavien findet sich noch ein Umbruch in der Häufigkeit der Y-Chromosomen unter den bronzezeitlichen Indogermanen (1):

i) 2.600 bis 2.300 v. Ztr. ... Männer mit R1a Y-chromosomalen Haplotypen;
ii) ... bis 1.800 v. Ztr. ... dominiert von Männern mit der Unter-Linie R1b-L51
iii) ... seit 1.800 v. Ztr. tritt ein fest umrissenes Cluster von skandinavischen Individuen auf, die von Männer dominiert werden mit I1 Y-Haplogruppen ... Dieses bildete die vorherrschende Quelle für spätere eisenzeitliche und wikingerzeitliche Skandinavier, ebenso von vorgeschichtlichen europäischen Gruppen außerhalb von Skandinavien, die eine dokumentierte skandinavische oder germanische Verbindung aufweisen (z.B. Angelsachsen, Goten). die Y-chromomale Haplogruppe I1 ist eine der vorherrschenden Haplogruppen im heutigen Skandinavien und wir stellen ihr frühestes Auftreten in einem 4000 Jahre alten Individuem von Falköping im südlichen Schweden fest. Die schnelle Ausbreitung dieser Haplogruppe und damit verbundener Genom-weiter Herkunft in der frühen Bronzezeit legt einen beträchtlichen Fortpflanzungsvorteil von Individuen nahe, die mit diesem Cluster in Verbindung stehen gegenüber vorhergehenden Gruppen in großen Teilen von Skandinavien.
i) An early stage between ~4,600 BP and 4,300 BP, where Scandinavians cluster with early CWC individuals from Eastern Europe, rich in Steppe-related ancestry and males with an R1a Y- chromosomal haplotype (Extended Data Fig. 8A, B); 
ii) an intermediate stage until c. 3,800 BP, where they cluster with central and western Europeans dominated by males with distinct sub-lineages of R1b-L51 (Extended Data Fig. 8C, D; Supplementary Note 3b) and includes Danish individuals from Borreby (NEO735, 737) and Madesø (NEO752) with distinct cranial features (Supplementary Note 6); and 
iii) a final stage from c. 3,800 BP onwards, where a distinct cluster of Scandinavian individuals dominated by males with I1 Y-haplogroups appears (Extended Data Fig. 8E). Using individuals associated with this cluster (Scandinavia_4000BP_3000BP) as sources in supervised ancestry modelling (see “postBA”, Extended Data Fig. 4), we find that it forms the predominant source for later Iron- and Viking Age Scandinavians, as well as ancient European groups outside Scandinavia who have a documented Scandinavian or Germanic association (e.g., Anglo-Saxons, Goths; Extended Data Fig. 4). Y-chromosome haplogroup I1 is one of the dominant haplogroups in present-day Scandinavians,s, and we document its earliest occurrence in a ~4,000- year-old individual from Falköping in southern Sweden (NEO220). The rapid expansion of this haplogroup and associated genome-wide ancestry in the early Nordic Bronze Age indicates a considerable reproductive advantage of individuals associated with this cluster over the preceding groups across large parts of Scandinavia.

Damit wird gesagt werden können, daß die Vorfahren der Germanen seit 1.800 v. Ztr. weitgehende genetische Kontinuität aufweisen. Es wird sicher noch einmal interessant sein zu erfahren, warum es ebenso wie in Skandinavien so auch in Böhmen oder in der Schweiz insbesondere während der Frühen Bronzezeit (2.600 bis 1.800 v. Ztr.) noch so viele Umbrüche in der Häufigkeit der Y-chromosmalen Haplogruppen gegeben hat.

8. Mesolithiker und Indogermanen in Sibirien

Zum mesolithischen Sibirien wird ausgeführt:

Frühe westsibirische Jäger-Sammler-Herkunft (6.300 bis 5.000 v. Ztr.) dominierte die westliche Waldsteppe;
die nordostasiatische Jäger-Sammler-Herkunft (Amur, 5.500 v. Ztr.) war am höchsten am Baikalsee;
und paläosibirische Herkunft (Nordostsibirien, 7.800 v. Ztr.) finden wir in abnehmenden Anteilen vom nördlichen Baikalsee Richtung Westen über die Waldsteppe hinweg.
Early West Siberian hunter-gatherer ancestry (SteppeC_8300BP_7000BP) dominated in the western Forest Steppe; 
Northeast Asian hunter-gatherer ancestry (Amur_7500BP) was highest at Lake Baikal; 
and Paleosiberian ancestry (SiberiaNE_9800BP) was observed in a cline of decreasing proportions from northern Lake Baikal westwards across the Forest Steppe (Extended Data Fig. 4, 9).

Die "frühe westsibirische Jäger-Sammler-Herkunftsgruppe" wird jene sein, der auch die ältesten Wüstenmumien im Tarim-Becken zugehören, und die wir jüngst in einem Blogartikel behandelt haben (Stgen2022). Die nordostasiatische, sprich mongolische Amur-Herkunfts-Gruppe ist ebenso klar, wir haben sie oft hier auf dem Blog behandelt oder erwähnt. Dann dürfte es sich bei der paläosibirischen Herkunftsgruppe um die Nganasan-Herkunftsgruppe handeln, die ja in der Bronzezeit diese überraschende Westwanderung bis nach Finnland aufzeigte, und von der alle Völker der finno-ugrischen Sprachfamilie abstammen, darunter auch die Chanten und Mansen an Ob und Jennissei. 

Die westsibirischen Jäger und Sammler haben - im Gegensatz dazu - im späten Neolithikum und in der frühen Bronzezeit - um 4.000 v. Ztr. - am Baikalsee genetisch stärker bemerkbar gemacht (1):

... A genetic shift towards higher Forest Steppe hunter-gatherer ancestry (SteppeCE_7000BP_3600BP) in late Neolithic and early Bronze Age individuals (LNBA) at Lake Baikal.
Allerdings war die Genetik der westsibirischen Jäger und Sammler auch schon zuvor am Baikalsee und nördlich davon am Angara-Fluß vertreten. 

Wir stoßen hier zum wiederholten Male auf die Erwähnung der Okunew-Kultur (grob 3.000 bis 2.000 v. Ztr) (Wiki, engl). Sie ist eine Nachfolgekultur der indogermanischen Afanasiewo-Kultur im Minusinsker Becken am Mittleren und Oberen Jenissei in Südsibirien und am Baikalsee (Wiki):

Die Haupttätigkeit der Bevölkerung war die Herdenhaltung (Rinder, Schafe und Ziegen), ergänzt durch das Jagen und Fischen.
The chief occupation of the population was stock raising (cattle, sheep, and goats), supplemented by hunting and fishing.

An anderer Stelle finden wir die Angabe (Wiki):

Knochenfunde zeigen, daß die Jagd auf Säugetiere, Vögel und Fische immer noch eine wichtige Rolle spielte, während die Viehzucht nur von untergeordneter Bedeutung war. 

Auch in dieser Kultur wurden - wie in der von ihr südlich benachbarten Chermurchek-Kultur - Steinstelen aufgestellt. Die Genetiker schreiben nun (1):

... kein Hinweis auf Baikalsee-Jäger-Sammler-Herkunft in der Okunew-Kultur, was nahelegt, daß die Entstehung derselben stattdessen zurückgeführt werden muß auf eine dreischrittige Vermischung von zwei unterschiedlichen genetischen Clustern von sibirischen Waldsteppen-Jäger-Sammlern und Steppen-Herkunft. Wir datieren die Vermischung mit der Steppen-Herkunft auf 2.600 v. Ztr, übereinstimmend mit einem Genzufluß von Menschen der Afanasiewo-Kultur, die nahe dem Altai und dem Minusinsk-Becken bestand während der frühen Ost-Ausbreitung von Jamnaja-ähnlichen Gruppen.
Our herein-reported genomes also shed light on the genetic origins of the early Bronze Age Okunevo culture in the Minusinsk Basin in Southern Siberia. In contrast to previous results, we find no evidence for Lake Baikal hunter-gatherer ancestry in the Okunevo93,94 , suggesting that they instead originate from a three-way mixture of two different genetic clusters of Siberian forest steppe hunter-gatherers and Steppe-related ancestry (Extended Data Fig. 4D). We date the admixture with Steppe-related ancestry to ~4,600 BP, consistent with gene flow from peoples of the Afanasievo culture that existed near Altai and Minusinsk Basin during the early eastwards’ expansion of Yamnaya-related groups.

Für die Zeit der zweiten indogermanischen Ostausbreitung im Zusammenhang mit der Andronowo-Kultur wird festgestellt (1):

Ab 1.700 v. Ztr.  zeigen die Menschen in den Regionen der Steppe und am Baikalsee auffallend unterschiedliche Herkunftsprofile auf. Wir stellen ein scharfes Anwachsen nicht-einheimischer Herkunft fest mit nur noch begrenzten Beiträgen von einheimischen Jägern und Sammlern.
From around 3,700 BP, individuals across the Steppe and Lake Baikal regions display markedly different ancestry profiles (Fig. 3; Extended Data Fig. 4D, 9). We document a sharp increase in non-local ancestries, with only limited ancestry contributions from local hunter-gatherers.

9. Die irische Sprache kam wohl tatsächlich schon mit den Glockenbecher-Leuten nach Irland

Zu dem anteilsmäßigen genetischen Fortexistieren der Ursprungsvölker Europas in den heutigen europäischen Völkern haben die Forscher eindrucksvolle Verbreitungskarten erstellt (1; Fig. 4). Wir finden hier manches Erstaunliche.

Abb. 2: Der Anteil der anatolisch-neolithischen Herkunft in heutigen Europäern (aus: 1)

Der höchste Anteil anatolisch-neolithischer Herkunft (mehr als 67 %) findet sich heute bei Menschen in Nordafrika, Spanien und Italien (s. Abb. 2). Er nimmt nach Norden hin ab. Innerhalb von England findet sich der höchste Anteil im Südosten (mehr als 50 %) und am wenigsten häufig in Irland (s. Abb. 2). (Allerdings dennoch immer noch 40 %, wenn wir es recht sehen.) In früheren Beiträgen haben wir hier auf dem Blog schon aus geführt, daß dieser höhere Anteil in Südost-England zurückzuführen ist - und ein Hinweis ist - auf Einwanderungen von Festlandeuropäern - gallische Stämme, Angelsachsen, Wikinger, Normannen - nach der ersten Einwanderung von Indogermanen (Stgen2022). 

Wenn wir jetzt hier sehen, daß der Anteil in Irland niedriger geblieben ist (Abb. 2), obwohl die Iren eine keltische Sprache sprechen, darf man womöglich doch mutmaßen, daß die Sprache der Iren schon mit der ersten Zuwanderung von Indogermanen nach Irland gekommen ist. Genau diese These hat ja auch der Archäogenetiker David Reich vertreten (Stgen2022). Mit dieser Karte verstehen wir schon besser, warum er sie vertritt. Vielleicht hat sich in Irland jene Sprache gehalten, die nach der ersten indogermanischen Zuwanderung der Glockenbecher-Kultur auch in England gesprochen worden ist. Tatsächlich werden die Inselkeltischen Sprachen als die ältesten keltischen Sprachen erachtet (Wiki).

Entsprechend ist auch der heutigen Anteil der indogermanischen Jamnaja-Genetik im heutigen Irland und Skandinavien am höchsten. Ebenso in Deutschland, Polen und den baltischen Ländern.

Der höchste Anteil osteuropäischer Jäger-Sammler-Genetik findet sich heute in Finnland und - interessanterweise - in der Mongolei (mehr als 8 %). Da dies die eine von zwei Herkunftsgruppen der Indogermanen ist, ist diese Angabe natürlich von Interesse.

Der höchste Anteil westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik findet sich heute noch - interessanterweise - in Litauen und in angrenzenden Ländern (mehr als 10 %), sowie in einigen County's im östlichen Mittelengland (mehr als 4 %).

Da die Jamnaja-Genetik sich zusammen setzt aus osteuropäischer und kaukasisch-iranischer Jäger-Sammler-Genetik darf man sich allerdings fragen, ob dieser Umstand sich nicht doch noch anders auf die Karten der heutigen Verbreitung beider Herkunftsgruppen auswirken müßte als das in diesen dargestellt ist (besonders deutlich sichtbar jeweils für Irland).

10. Die iranisch-neolithische Herkunftsgruppe überlebt am stärksten im heutigen Pakistan

Der höchste Anteil der Kaukasus-Jäger-Sammler-Genetik findet sich heute noch - interessanterweise - in Pakistan (mehr als 41 %), sowie in angrenzenden Ländern. Da dies die eine Herkunftsgruppe der Indogermanen ist, ist diese Angabe natürlich von nicht geringem Interesse. Die Forscher selbst fassen die Erkenntnisse dieser Verbreitungskarten in ähnlicher Weise zusammen wie wir das eben getan haben. Und hier lesen wir zusätzlich noch (1):

... Die Kaukasus-Jäger-Sammler-Herkunft findet sich sowohl in Kaukasus-Jäger-Sammlern wie in der iranisch-neolithischen Herkunftsgruppe, was ihren relativ hohen Anteil in Südasien (Indien) erklärt. ...
WHG-related ancestry is highest in present-day individuals from the Baltic States, Belarus, Poland, and Russia; EHG-related ancestry is highest in Mongolia, Finland, Estonia and Central Asia; and CHG-related ancestry is maximised in countries east of the Caucasus, in Pakistan, India, Afghanistan and Iran, in accordance with previous results 103. The CHG-related ancestry likely reflects both Caucasus hunter-gatherer and Iranian Neolithic signals, explaining the relatively high levels in south Asia 104. Consistent with expectations 105,106, Neolithic Anatolian-related farmer ancestry is concentrated around the Mediterranean basin, with high levels in southern Europe, the Near East, and North Africa, including the Horn of Africa, but is less frequent in Northern Europe. This is in direct contrast to the Steppe-related ancestry, which is found in high levels in northern Europe, peaking in Ireland, Iceland, Norway, and Sweden, but decreases further south.

Wenn wir also Menschen finden wollen, die den beiden Ausgangspopulationen der Ethnogenese der Indogermanen heute noch am nächsten stehen, müssen wir uns in Finnland (außerdem womöglich auch in der Mongolei) und insbesondere in Pakistan umsehen. 

In dieser Studie wird auch - aufgrund von polygenetischen Auswertungen - der Phänotyp in Bezug auf viele Merkmale dieser Ursprungsvölker Europas behandelt. Das müßte man sich noch einmal genauer heraussuchen, um das Aussehen der beiden Ausgangsvölker bei der Ethnogenese der Indogermanen genauer umreißen zu können. Von den osteuropäischen Jägern und Sammlern wissen wir schon, daß es bei ihnen blonde, bzw. helle Haar-, Augen- und Hautfarbe gab, sowie große Körperlänge. Was ist diesbezüglich über die Jäger und Sammler des Zagros-Gebirges im Iran bekannt, von denen wir Indogermanen - vermutlich - in gleichem Umfang abstammen?

Abb. 3: Menschen in Pakistan (Wiki)

Als erster Eindruck läßt sich vielleicht festhalten, daß uns die Gesichter im heutigen Pakistan "hagerer" anmuten mögen als im heutigen Mittelmeer-Raum (wo die Menschen mehr von der anatolisch-neolithischen Herkunftsgruppe abstammen und bestimmt sind). Die Mentalität der Menschen in Pakistan mag zum Teil "herber" anmuten, ein Eindruck, der durch die Beimischung südindischer Anteile allerdings wieder deutlich abgeschwächt sein mag. Aber das sind nur sehr grobe und vorläufige Einordnungen unsererseits.

Aber man darf sich gerne fragen, wer wohl von den Menschen in Abbildung 3 am ehesten eine iranisch-neolithische Herkunft im Umfang von den genannten 41 % oder mehr in sich trägt und wer weniger.

Mein Lehrer am Anthropologischen Seminar der Universität Mainz, Professor Wolfram Bernhard (1931-2022) (Uni Mainz), Schüler von Professorin Ilse Schwidetzky, hat sich schon 1971 in seiner Habilitationsschrift mit diesem Thema befaßt (3). In dieses Buch müßte man dringend einmal wieder hinein schauen, bzw. endlich einmal gründlicher.**)

10. "A reduction of within-cluster relatedness"

Weiterhin stellt die Studie fest (1) ...

einen Rückgang des durchschnittlichen genetischen Verwandtschaftsgrades innerhalb der Abstammungsgruppen der Menschheit, sowohl im westlichen wie im östlichen Eurasien.
a reduction of within-cluster relatedness over time, in both western and eastern Eurasia (Fig. 6).

Zugleich hätte es eine Zunahme in der Größe der "effektiven Bevölkerungsgröße" gegeben. Als "effective population size" bezeichnen die Populationsgenetiker innerhalb einer Population die Zahl jener Individuen, die sich überdurchschnittlich stark fortpflanzen, also bei Menschengruppen insbesondere die Zahl an kinderreichen Familien. Ihnen gegenüber fallen "Ein-Kind-Familien" weniger ins Gewicht.

Mit einem hohen durchschnittlichen genetischen Verwandtschaftsgrad innerhalb von menschlichen Gruppen kann sich die Verhaltensneigung des Verwandten-Altruismus sehr direkt auf die Gruppe beziehen. Wenn der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad innerhalb von menschlichen Gruppen sinkt, kann derselbe Verwandten-Altruismus über berufliche Spezialisierung und gesellschaftliche Arbeitsteilung, arbeitsteilige gesellschaftliche Komplexität seine bindende Kraft - womöglich - behalten. (Letzteres die These des Autors dieser Zeilen.)

Soweit ein Ausschnitt aus dem vielfältigen Themenspektrum dieser einen neuen Studie (1). Wobei wir nicht ausschließen können, daß wir wertvollere Erkenntnisse - insbesondere auch in den umfangreichen Anhängen - noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen haben. Wir lassen uns gerne auf diese hinweisen.

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*) Im ersten Augenblick waren wir gegenüber dieser Möglichkeit völlig ungläubig. Die Überlegungen, die uns dazu als erstes durch den Kopf gingen, die wir aber nach einem weiteren Durchdenken zumindest zunächst einmal nicht mehr aufrecht erhalten wollen, weil wir es doch nicht glauben können, daß eine so große Forschergruppe so auffallende Fehler machen könnte, waren folgende: 
"Diese These kommt uns denn doch ein bisschen zu simpel gestrickt vor. Zumal wir ja wohl schon viel länger wissen, daß die Mittlere Don-Region ab 4.800 v. Ztr. keineswegs zur Ethnogenese der Urindogermanen an der Mittleren Wolga beigetragen hat, sondern daß diese Region eine eigene und unabhängige Entwicklung durchlaufen hat, die auf die nachfolgende Völkergeschichte zumindest genetisch nur wenig Einfluß genommen hat."
Das war gewiß unsere bisherige Sichtweise. Diese gründete für uns insbesondere auch auf den sehr eindeutigen Ausführungen des traditionell arbeitenden Physischen Anthropologen Andreas Vonderach hier auf dem Blog zu dieser Frage. Vonderach hatte zu dieser Frage - auf der Grundlage des Standes der Forschungen der Physischen Anthropologie geschrieben (zit. n. Stgen2017):
"In der Ukraine zeigt sich mit der wahrscheinlich aus östlicheren Gebieten eingewanderten Kurgan-Bevölkerung ein völliger Bruch zur Vorbevölkerung der Dnepr-Donez-Kultur, die durch extreme Größenmaße und Robustizität, lange Schädel, breite Gesichter und Nasen und noch niedrigere Orbitae (Augenhöhlen) charakterisiert war. Der extreme, eher jungpaläolithische oder mesolithisch anmutende Typus der Dnepr-Donez-Kultur verschwindet gegen Ende des Neolithikums ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen."
Das könnte natürlich auch ein Irrtum der Physischen Anthropologie sein, so möchten wir jetzt meinen. Immerhin sprechen russische Physische Anthropologen ja inzwischen auch bezüglich der Ethnogenese an der Mittleren Wolga von einem Aufeinandertreffen eines sehr robusten nördlichen Menschentypus und eines sehr viel grazileren südlichen Menschentypus (s. Stgen2022). Ein ähnliches Szenario ist natürlich auch für die ukrainische Don-Region denkbar. Auf der Grundlage unserer bisherigen Annahme eines einzigen Ethnogenese-Ereignisses an der Mittleren Wolga hatten wir dann noch - womöglich etwas zu arrogant klingend - festgehalten:
"Merkwürdig, daß so viele Mitarbeiter an dieser Studie dennoch nur zu einer so - vergleichsweise uninformiert klingenden - Aussage kommen können. Wenn wir nach dem Grund für diese simplifizierende These ('neue Quelle der Jamnaja-Genetik') fragen, möchte man meinen, daß er darin liegt, daß die Ergebnisse der Sequenzierungen aus der Chwalynsk-Kultur an der Mittleren Wolga, die das Labor von David Reich in den letzten Jahren vorgenommen hat für die Zeit um 4.500 v. Ztr., bislang noch nicht gültig wissenschaftlich veröffentlicht worden sind, sondern daß sie offenbar nur - sozusagen - durch "Hörensagen" in einer Studie von David Anthony scheinen öffentlich bekannt geworden zu sein, bislang. Darauf wiesen wir schon 2019 hier auf dem Blog hin (2). Und darauf aufbauend hat es zahlreiche Folgeartikel hier auf dem Blog zu diesen Fragen gegeben.
Diese kruden Angaben des Archäologen David Anthony aus dem Jahr 2019 mußte man aber in dieser neuen dänischen archäogenetischen Studie offensichtlich sehr betont ignorieren, wenn man zu einer solchen Aussage kommen wollte ('neue Quelle der Jamnaja-Genetik'). Und da mutet es dann schon als sehr auffallend an, daß es zwischen dem Archäogenetiker Eske Willerslev und seinen Mitarbeitern in Dänemark so wenig wissenschaftlichen Austausch zu geben scheint mit dem Archäogenetiker David Reich und seinen Mitarbeitern in Boston. Auffallend und merkwürdig. Zumal es hier doch um eine so vergleichsweise bedeutende wissenschaftliche Frage geht. Nämlich schlicht um die Urheimat der Indogermanen und um die Ethnogenese derselben.
Der Versuch, der Archäogenetiker um Willerslev, hier eine 'neue Erkenntnis' zu etablieren, mutet uns vor dem Hintergrund dessen, was heute grundsätzlich schon bekannt ist (abgeleitet von den Aussagen von David Anthony) wirklich ein wenig gar zu uninformiert an. Muß man so arbeiten? So, sozusagen 'naiv'?"
Diese Überlegungen sollen hier - durchgestrichen - nur festgehalten bleiben, um zu zeigen, daß bei Aufkommen von etwaig neuen Erkenntnissen man doch nicht gleich geneigt sein muß, sie sofort unumschränkt anzunehmen. Man geht dann erst einmal alle Möglichkeiten durch und "schwankt" in der Einschätzung des Gebotenen. Diese Fragen sind auch sicherlich noch nicht abschließend geklärt. Wir wollen es deshalb auch nicht für völlig ausgeschlossen erachten, daß wir Grund haben werden, diese Durchstreichungen wieder zu entfernen, wenn sich herausstellen sollte, daß unsere erste Einschätzung richtig war. Das erscheint uns aber immer unwahrscheinlicher, um so mehr wir für uns selbst diese Dinge durchdenken und entsprechend auch in diesem Blogartikel dargestellt haben. (Womöglich löschen wir diese Ausführungen also bald auch ganz.) Immerhin bleiben wir verunsichert, denn unsere eigenen früheren archäologischen Ausführungen schienen diesbezüglich auch sehr sicher gewesen zu sein (Stgen2017):
"Die hier genannte Dnjepr-Donez-Kultur (Wiki) (5.000-4.200 v. Ztr.) wird von der östlicheren Yamna-Kultur (Wiki) (4.000-2.300 v. Ztr.) abgelöst, die heute allgemein den Indogermanen zugesprochen wird, und die aus der Samara-Kultur (5.200-4.400 v. Ztr.) (Wiki) an der mittleren Wolga und der parallelen Khvalynsk-Kultur (5.000-4.500 v. Ztr.) (Wiki) hervorgegangen ist. (Die frühe Yamna-Keramik läßt sich von der späten Khavalynsk-Keramik kaum unterscheiden.) Das westliche Drittel ihres Verbreitungsgebietes befindet sich nun auf dem Gebiet der vorhergehenden Dnjepr-Donez-Kultur. "
Immerhin hatte ja auch Marija Gimbutas schon ein weiteres Ursprungsgebiet der Urheimat der Indogermanen angenommen als "nur" die Mittlere Wolga. Hm! Hm, hm, hm!!!!! Es bleibt spannend.
**) In dem Zusammenhang entdecken wir, daß Professor Bernhard im Februar 2022 in Mainz mit 90 Jahren gestorben ist (Nachruf: GAj2022).

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  1. Population Genomics of Stone Age Eurasia Morten E. Allentoft, Martin Sikora, Alba Refoyo-Martínez, (...) Thomas Werge, Fernando Racimo, Kristian Kristiansen, Eske Willerslev bioRxiv 2022.05.04.490594; 5.4.2022, doi: https://doi.org/10.1101/2022.05.04.490594 This article is a preprint and has not been certified by peer review, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.05.04.490594v1
  2. Bading, Ingo: Es ist amtlich: Das Urvolk der Indogermanen war die Chwalynsk-Kultur an der Mittleren Wolga, 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/08/es-ist-amtlich-das-urvolk-der.html
  3. Bernhard, Wolfram: Ethnische Anthropologie von Afghanistan, Pakistan und Kashmir. Fischer,  Stuttgart [u.a.] 1991 [Habilitation 1971]