Dienstag, 25. Oktober 2022

Mit Langsteven-Kriegspaddelbooten voller Krieger über den Skagerrak (2.350 v. Ztr.)

Zur Geschichte des Schiffbaus in Skandinavien
- Oder: Als die Glockenbecher-Kultur aus der Rhein-Gegend nach England, Dänemark und Norwegen kam (2.350 v. Ztr.)

Kriegskanus (Wiki) und Kriegspaddelboote sind verwendet worden von Völkern weltweit, in Afrika, im Pazifischen Ozean, in Amerika, in Asien und in Europa.

Abb. 1: Das Hjortspringboot von der dänischen Ostseeinsel Alsen, Rekonstruktion (Wiki) - Fotograf: Flemming Kaul, Nationalmuseet

Sie stellen die älteste Form der Seefahrt dar und sind auch in Skandinavien noch erstaunlich lange genutzt worden. Sie sind in Skandinavien erst um 500 oder 600 n. Ztr. von Ruderbooten und Segelschiffen abgelöst worden, nämlich zu Beginn der Wikingerzeit. Während man zum Beispiel Kriegskanus der Maori heute noch in völkerkundlichen Museen und auf Festveranstaltungen auf Neuseeland besichtigen kann (Abb. 2), während das Kriegskanu in Asien, das Drachenboot (Wiki), heute ebenfalls noch auf Festveranstaltungen genutzt wird, während die "Tomols" (Kanus) der Cumash-Indianer wiederbelebt werden, die seit 10.000 Jahren in ungebrochener genetischer Kontinuität in Kalifornien leben (Wiki) (Nature2023), ist im allgemeinen Bewußtsein völlig in Vergessenheit geraten, daß das Kriegskanu, das gepaddelte, offene Langboot sich einer großen kulturellen Beliebtheit auch unter unseren Vorfahren in Skandinavien bis zum Frühmittelalter hin erfreut hat.

Es ist zwar bislang nur in einem einzigen Exemplar von der Archäologie sicher dinglich festgestellt worden (Abb. 1). Aber auf vielen hunderten von Felsbildern der Bronzezeit in Skandinavien findet es sich genauso dargestellt wie es gefunden wurde und genauso wie noch Tacitus im 1. Jahrhundert von solchen starken Kriegsflotten in Skandinavien berichtete, nämlich mit auf beiden Seiten lang hoch gezogenen Steven. In den genannten Felsbildern ist das gepaddelte, offene Langboot sogar das am häufigsten gewählte Motiv überhaupt.

Wenn wir also heutzutage von Drachenschiffen sprechen, denken wir an Langboote der Wikinger (Wiki), an Boote, ausgestattet mit Rudern, ausgestattet mit einem Segelmast und mit großem Segel. Mit ihrer eleganten geschwungenen Form trugen sie Tierköpfe am Ende des vorderen Bugs. In sieben Tagen segelte ein solches Segelschiff von Norwegen nach Island. Ebenso lang segelte es um Island herum. Aber das ist eben keine Frühform der Schiffahrt, sondern schon eine sehr weit entwickelte Form.

Die genannten Drachenboote aus China und Asien werden dort seit Jahrtausenden genutzt, auch zu prächtigen Zeremonialfahrten, Staatsempfängen, Wettfahrten mit jeweils hunderten solcher Boote und natürlich zum Krieg, zum Handel. Und genau so fand sich das in allen Teilen der Welt, bei den Maoris in Neuseeland, bei den Germanen in Skandinavien und bei den Kelten auf den britischen Inseln. 

All dies soll anschaulich machen: Jahrtausende lang befuhr der Mensch die Flüsse, die Küsten und die Meere weltweit ohne Ruder, ohne Segel - nur mit Paddeln. Bei den in den letzten Jahren auch in westlichen Ländern beliebt gewordenen "Drachenboot"-Rennen machen sich die wenigsten Menschen bewußt, daß sie dabei auch an eigene uralte europäische Traditionen anknüpfen könnten und nicht - irgendwie "gewollt" - auf asiatische.

Abb. 2: Kriegskanus der Maori auf Neuseeland (Wiki) - Fotograf: Dirk Pons (2017)

Auch wir hier auf dem Blog haben uns schwer getan, zu der Einsicht zu gelangen, daß Skandinavien im Schiffsbau um Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurück lag gegenüber dem Mittelmeer-Raum: Während in der Nordischen Bronzezeit oft haargenau diesselben modernsten Schwerttypen genutzt wurden wie in der Ägäis, was auf rege Reisetätigkeit zwischen beiden Regionen hinweist, was auf Söldnertruppen aus Skandinavien hinweist, die im Mittelmeerraum Kriegsdienst leisteten (Stgen2019), während die Anwohner der Nordsee mit der Ankunft Cäsars in England römische Ruder- und Segelschiffe kennenlernten, hat man im Nord- und Ostseeraum bis 400 und 600 n. Ztr. in recht konservativer Weise an der Schiffsbauform des prächtigen, langen, offenen Paddelboots festgehalten. 

Während wir hier auf dem Blog also in den letzten zehn Jahren der Tendenz nach eher die Gemeinsamkeiten betonten zwischen der Nordischen Bronzezeit und der mykenischen Welt der Ägäis und des Mittelmeerraumes, können anhand der zeitversetzten Entwicklungen auf dem Gebiet des Schiffbaus auch deutliche Unterschiede heraus gearbeitet werden. Während sich im Mittelmeerraum von Ägypten und Kreta aus der Schiffstyp der Galeere ausbreitete, die gerudert wurde und nicht selten auch schon mit einem Mast für Segel ausgestattet wurde, während in der Antike dann die große Ära der "Triere" mit Rudern und Segeln im Mittelmeerraum begann, hielt man in Skandinavien weiter an der Bootsbau-Form des langen, offenen Paddelbootes fest.*)

Leider gibt es keinen kurzen, knappen Namen für die vormittelalterlichen offenen, langen, hölzernen Paddelboote Skandinaviens. Das wird mit dazu beitragen, daß sie im öffentlichen Bewußtsein gar nicht vorhanden sind. Man kann sie "Barken" (Wiki) nennen. Es ist ja für den germanischen Bereich und für dortige religiöse Zusammenhänge auch mitunter von "Sonnenbarken", "Totenbarken" die Rede. Auf der Himmelsscheibe von Nebra soll eine solche abgebildet sein. 

Wir versuchen in diesem Artikel mit dem Namen Langsteven-Kriegspaddelboote die Aufmerksamkeit gegenüber dieser langen und bedeutenden Phase in der Geschichte des skandinavischen Schiffsbaus zu erhöhen, wobei nicht aus dem Blick geraten soll, daß es auch Langsteeven-Zeremonialpaddelboote und Paddelboote mannigfacher Art für Handel und Fischerei gegeben haben wird. Ganz richtig heißt es auf dem englischsprachigen Wikipedia (Wiki):

Das Schiff war Jahrtausende lang ein zentrales Element der skandinavischen Kultur, es diente dabei sowohl praktischen wie religiösen Zwecken, seine Bedeutung war schon tief in der skandinavischen Kultur verwurzelt, bevor das Zeitalter der Wikinger begann.
The ship has been functioning as the centerpiece of Scandinavian culture for millennia, serving both pragmatic and religious purposes, and its importance was already deeply rooted in the Scandinavian culture when the Viking Age began.

Die ältesten Belege für Schiffe mit Rudern in Skandinavien sind das Halsnøyboot (aus der Zeit zwischen 390 und 535) aus der Provinz Hordaland in Norwegen (bei Bergen) und das Nydam-Schiff aus dem südlichen Dänemark nahe der Insel Alsen, etwa aus dem Jahr 320 n. Ztr. (Wiki):

Die geringe Breite ließ keine langen Riemen zu, so daß sie sehr steil gehalten werden mußten. Es war ein Zwischending zwischen Paddeln und Rudern.

Es muß angenommen werden, daß die Angeln und Sachsen mit solchen offenen Booten über die Nordsee nach England gefahren sind. Noch für das Schiff aus dem berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo aus der Zeit um 630 n. Ztr. gilt (Wiki):

Auch dieses Schiff konnte nicht gesegelt werden, sondern war ein Ruderfahrzeug.

Und wir lesen weiter (Wiki):

Der Schritt zum Segelschiff wurde zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert gemacht. Warum die Entwicklung zum Segelschiff so spät einsetzte, ist nicht bekannt. Daß man segeln kann, mußte bereits seit dem Auftauchen der Segelschiffe Cäsars im Nordseeraum bekannt sein. Aber möglicherweise genügt es eben nicht, ein Segelschiff zu sehen, um es auch bauen zu können. 

Es war vermutlich einfach das "Bedürfnis" dafür noch nicht vorhanden. Ein fertiges Bild darüber, wie rege der Austausch zwischen der Region der Nordischen Bronzezeit in Skandinavien und der Ägäis war, hat die Wissenschaft also noch keineswegs gewonnen. Zwar werden in der Wissenschaft immer dichtere Hinweise zusammen getragen dafür, daß dieser Austausch sehr rege gewesen ist (Stgen2019). Zum anderen gibt es Hinweise darauf, daß so große geographische Räume wie die Ägäis und wie Skandinavien sich über viele Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dennoch - trotz allen Austausches - auch nach eigenen Gesetzen entwickelt haben können. Das ist auch wichtig, um das Verhältnis zwischen "Zentrum und Peripherie" in der Vorgeschichte nach und nach besser nachvollziehen zu können (Stgen2019). 

Immerhin scheint ja das mykenische und antike Griechenland auch nach ganz anderen seelischen Gesetzen gelebt zu haben, wenn man bedenkt, daß es dort nur acht Prozent indogermanische Steppengenetik gegeben hat, daß gerade ein solches Volk zum "Paradevolk" der Indogermanen wurde, bedarf deshalb einer ganz eigenen Erklärungsweise (wie in vielen Beiträgen im September dieses Jahres herausgearbeitet). Wir lesen (Rahmsdorf 2005):

Erstmals ist das Segel bildlich in Ägypten auf einem Naqada III-zeitlichen Gefäß des späten 4.Jt. v. Chr. zu fassen (McGrail 2001, 19 Abb. 2,5; McGrail 2004, 159 Abb. unten).

In Südarabien finden sich Darstellungen von Schiffen mit Segelmast aus der Zeit um 2000 v. Ztr. (s. Laursen2020). Wir erfahren weiter (Rahmsdorf 2005):

Die häufige Darstellung von Schiffen auf kretischen Siegeln (Abb.1,4-7) ab FMIII-MMI (Basch 1987, 95-106) und der archäologische Nachweis minoisch-ostmediterraner/ägyptischer Kontakte ab dieser Zeit ein wichtiger Hinweis. 

Das heißt, im Mittelmeerraum ist das Segel spätestens ab 2.200 v. Ztr., ab der Periode Frühminoisch/Frühhelladisch III zum Einsatz gekommen (Rahmsdorf 2005):

C. Broodbank argumentiert, daß das erste Auftreten bildlicher Evidenz für tiefgängige Segelschiffe ab dem späten 3. und frühen 2. Jt. v. Chr. mit dem Beginn kretischer Kontakte mit dem Ostmittelmeerraum bzw. mit der Ausbreitung des minoischen Einflusses über die Kykladen zusammenfällt (Broodbank 2000, 45-348; bes.96, 342).

Und (Rahmsdorf 2006):

Die Nutzung von Segelschiffen ab Frühminoisch III bis Mittelminoisch IA ermöglichte Fernkontakte in einem weit größeren Maße als zuvor.

Zur gleichen Zeit begannen Menschen aus dem südlichen Taiwan auf Auslegerbooten begannen, die pazifische Inselwelt zu besiedeln, finden sich Schiffe mit Mast, bzw. Segel so gut wie nirgends auf den skandinavischen Felsbildern dargestellt, obwohl deren häufigstes und beliebtestes Motiv gerade dieses eine ist: das Schiff.

Tacitus - Einmal erneut eine sehr zuverlässige historische Quelle

Was sich aber eben auf diesen regelmäßig dargestellt findet, das sind Schiffe vom Typ des Hjortspringbootes (Wiki), das man 1921 auf der dänischen Ostseeinsel Alsen ausgegraben hat, und das auf die Zeit um 350 v. Ztr. datiert ist. Es handelt sich bei diesem um ein offenes Paddelboot ohne Ruder und Segel und zeigt genau jene weit ausladenden Steven nach beiden Seiten hin, die sich in so unzählig vielen skandinavischen Felsbildern ebenfalls dargestellt finden. Was uns diesbezüglich dann am meisten überzeugt hat zu all diesen Dingen war der Umstand, daß interessanterweise auch Tacitus über die Einwohner Schwedens (die er "Suionen" nennt) das folgende schreibt (Wiki):

Dann kommen - schon im Meere - die Stämme der Suionen; sie haben außer Männern und Waffen auch starke Flotten. Die Gestalt ihrer Schiffe zeichnet sich dadurch aus, daß beide Enden einen Bug haben und stets eine Stirnseite zum Landen bereit ist. Auch benutzen sie keine Segel, noch machen sie Ruder in Reihen an den Schiffswänden fest: lose, wie manchmal auf Flüssen, und je nach Bedarf hier und dort verwendbar ist das Ruderwerk. Bei den Suionen steht auch Reichtum in Ehren, und deshalb herrscht einer, schon ohne jede Beschränkung, mit unwiderruflichem Anrecht auf Gehorsam. Auch sind die Waffen nicht, wie bei den übrigen Germanen, in freiem Gebrauch, sondern eingeschlossen, und zwar unter Aufsicht eines Sklaven. Denn plötzliche Überfälle von Feinden verhindert das Meer; außerdem neigen bewaffnete Scharen im Frieden leicht zu Ausschreitungen. Und wahrhaftig, daß kein Adliger oder Freigeborener, die Waffen unter sich habe, ist ein Gebot der königlichen Sicherheit.

Schon im Juli 2020 hatten wir im Entwurf die folgenden Ausführungen zusammen getragen: Einen wertvollen Beitrag zur Felsbild-Forschung auf der Nordhalbkugel erbrachte der deutsche Amateur-Archäologe und Felsbild-Forscher Dietrich Evers (1913-2009) (Wiki) (1-3). Evers war durch die bündische Jugend der 1920er Jahre geprägt worden und pflegte zum Beispiel auch Verbindungen zu den Deutschen in Siebenbürgen. 

Schon in einem Buch aus dem Jahr 1985, benannt "Vom Kultstab bis zum Steckenpferd - Der magisch-kosmologische Geisterflug durch die Jahrtausende" erörterte er auch eine andere, durch die Felsbildforschung aufgeworfene Frage, nämlich die nach den Tierkopf-Stäben der osteuropäischen Jäger und Sammler des Mesolithikums. Eine Frage, die uns auch hier auf dem Blog schon wichtig geworden war - im Zusammenhang mit der Herkunft der Tierkopf-Zepter der Urindogermanen.

In seinem Buch "Die wahren Entdecker Amerikas" aus dem Jahr 2000 ging er schon der These nach: "Selbst kleinste Boote erreichten Amerika" (3). 

Anhand der Gemeinsamkeiten von Felsbildern auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent erörterte er Seeverbindungen über den Atlantik spätestens seit dem Mesolithikum (1). Er erörtert auch das "Boot mit der Kufe", nämlich den hochseetüchtigen, bronzezeitlichen Schiffstyp Skandinaviens, der anhand des Hjortspringbootes seit 1921 genauer bekannt ist (1). Er erörtert die Seetüchtigkeit der Phönizier und damit in Zusammenhang kulturelle Gemeinsamkeiten Mittelamerikas und Europas während der Antike (1). Schließlich erörtert er Forschungen zu der Entdeckung Vinlands (Amerikas) durch die Wikinger (1).

Das Hjortspringboot - Einziger Zeuge des skandinavischen, bronzezeitlichen Schiffsbaus

Aber das von ihm erörterte Hjortspringboot (Wiki) interessiert uns in diesem Zusammenhang besonders. Es wurde auf der dänischen Ostseeinsel Alsen (Wiki) gefunden. Diese liegt nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein. Ihre siegreiche Eroberung durch Preußen beendete den deutsch-dänischen Krieg im Jahr 1864. Deshalb wurde das im selben Jahr in Berlin im Entwurf geplante Regierungsviertel westlich des Brandenburger Tores - mit Reichstag, Generalstabsgebäude und vielen Botschaften - "Alsenviertel" (Wiki) genannt. In völlig veränderter Form ist es ja nach 1989 erneut zum Regierungsviertel geworden (wobei an der früheren Stelle des Generalstabsgebäudes das Bundeskanzleramt errichtet wurde).

Die Insel Alsen ist auch sonst reich an vorgeschichtlichen Denkmälern und Funden. In einem Moor wurde um 350 v. Ztr. als Opfergabe ein offenes Kanu in Leichtbauweise aus Lindenholz mit 12 Metern Länge versenkt, das sogenannte Hjortspringboot (Wiki) (1, S. 84). Ihm waren beigegeben (Wiki) ...

169 Speer- und Lanzenspitzen (138 aus Eisen, 31 aus Knochen), 50 Buckelschilde aus Holz, keltischen Typus, 10 Fragmente von Kettenhemden und etwa ein halbes Dutzend Schwerter. Die Waffen waren zum Teil vor der Deponierung durch Verbiegen unbrauchbar gemacht worden. (...) Dem Boot zugeordnet werden können auch ein gutes Dutzend Paddelfragmente, sowie zwei Steuerruderfragmente, die unterschiedliche Maße und Formen aufweisen. Diese waren vermutlich je nach Person und Position auf dem Boot individuell angepaßt.
Die Opferlegung war (Wiki) ...
... vermutlich von den Bewohnern der Insel als Dank für einen Sieg über Invasoren, eventuell vom Festland (festzumachen an den keltischen Waffentypen), dargebracht worden. Insgesamt wird auf Grund der großen Zahl der Waffen eine Gruppe von 100 Mann angenommen, die mit wahrscheinlich vier Booten übersetzte.
Merkt Euch also, ihr Preußen von 1864: Wenn ihr 1.500 Jahre früher gekommen wäret, wären eure Boote und Waffen womöglich genauso im Moor versenkt worden. - Scheinbar sind gemeinsam mit dem Boot auch ein Pferd, ein Lamm, ein Kalb und zwei Hunde geopfert worden (Wiki). Es (Wiki) ...
... handelt sich um ein offenes Kanu, das mit insgesamt 20 Stechpaddeln angetrieben wurde. (...) Da zwei Steuerruder gefunden wurden, ist davon auszugehen, daß sowohl am Bug als auch am Heck jeweils eines befestigt gewesen war. (...) Das Boot besitzt an Bug und Heck je zwei übereinanderliegende und weit ausladende Steven. Die schnabelartigen Steven geben dem Hjortspringboot sein von bronzezeitlichen Felsritzungen aus Skandinavien bekanntes Profil. (...) Alle Bauteile sind mit Bastseilen zusammengenäht, die Stöße und Nähte sind mit einer Baumharzmasse abgedichtet. Zur Verstärkung wurde das Boot im Inneren mit zehn Spanten aus Haselzweigen versteift. Dieses in Konstruktion wie Ausführung sehr ausgereifte Boot dokumentiert den Höhepunkt der längeren Bootsbautradition in der Region, die in die Bronzezeit zurückreicht.
Ein Nachbau (Wiki) ...
... zeigte sich auch unter erschwerten Wetterbedingungen mit 1 m Wellengang und Windgeschwindigkeit von 10 m/s unerwartet handhabbar, daher ist eine Hochseetüchtigkeit außerhalb des Ostseegebietes nicht auszuschließen.
Weiter ist zu erfahren  (Wiki):
Viele Bootsbau-Methoden, die man beim Hjortspring-Boot findet, setzten sich bis in die Wikingerzeit hinein fort. Es ist dies an den Bootsfunden von Halsnøy (200 n. Ztr.), Nydam (300-400 n. Ztr.), Sutton Hoo (600-700 n. Ztr.) und Kvalsund (690 n. Ztr.) ablesbar.
Much of the essential boat-building methods found in the Hjortspring boat persisted into the Viking Age. This continuation can be seen in the boat finds from Halsnøy (200 CE), Nydam (300-400 CE), Sutton Hoo (600-700 CE), and Kvalsund (690 CE).

Soviel hatten wir schon einem Entwurf im Juli 2020 zusammen getragen, hatten aber innegehalten, weil wir damals nicht glauben konnten, daß lange, offene Paddelboote bis 400 n. Ztr. die vorherrschende Bootsbau-Form in Skandinavien gewesen sein sollte.

Eine Studie aus dem Jahr 2020

Erst indem wir jetzt im Oktober 2022 auf eine spannende Studie des norwegischen Archäologen Einar Østmo stoßen zur Geschichte der Seefahrt in Norwegen (4), überzeugen wir uns davon, daß es tatsächlich so ist. Hier wird ausgeführt, daß auf den reichen bronzezeitlichen Felsbildern in Skandinavien das häufigste und beliebteste Motiv das Kriegs- oder Zeremonialschiff ist, auf dem mehr als hundert Menschen Platz fanden (4).

Hier auch finden wir - für uns erstmals - den Hinweis darauf, daß auch Tacitus genau dies von den Einwohnern Schwedens berichtet (4, S. 38). Aber auch er berichtet zugleich - und in Übereinstimmung mit den skandinavischen Felsbildern - von "großen Flotten" (Wiki). Hier hat man - nebenbei - einen neuerlichen Beleg dafür, daß die Germania des Tacitus eine Quelle von hoher Zuverlässigkeit ist.

Die ältesten Bootsdarstellungen Nordeuropas aus dem nördlichen Norwegen (5) sind ihrer Zeitstellung nach der Völkergruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler zuzusprechen (Stgen2021). Die Bootsdarstellung stellt wahrscheinlich ein Boot von Art der "Umiak" (Wiki) dar (s. Abb. 3). Sein inneres tragendes Gerüst wurde aus Treibholz oder Walknochen hergestellt. Es wurde dann von einer Seerobben-Haut überzogen.

Abb. 3: Umiak der Grönländischen Inuit (aus: 5)

Vieleicht sind solche Bootstypen bis 3.200 v. Ztr. von genetisch mesolithischen, einheimischen Fischern, Jägern und Sammlern auch am Ostorfer See bei Schwerin in Mecklenburg benutzt worden, über deren Skelette die Anthropologen im Jahr 2009 interessanterweise feststellten (zit. n. Stgen2009):

„Das waren keine Bauern, sondern Paddler“, sagt Thomas Terberger über die Ostorfer von einst. Ihre Armknochen weisen die modifizierten Muskelansatzstellen auf, wie sie für Kajakfahrer oder Kanuten typisch sind. Und zwar bei Männern wie Frauen. Das jedenfalls entdeckten Mainzer Anthropologen vor kurzem bei einer morphologischen Untersuchung. Die Kiefer verrieten ihnen, daß die Jäger und Sammler das frugale Mahl intensiv kauen mußten. Sie verzehrten Fleisch und Rohkost, aber kaum Kohlenhydrate. Trotzdem konnte ihre mesolithische Diät sie nicht vor Karies bewahren. Auch zeigen die bei Ostorf geborgenen Skelette Abnutzungsspuren auf; die veränderten Bein- und Hüftknochen zeugen von starker Mobilität. Ähnliche Merkmale sind heute bei Marathon- und Langstreckenläufern zu beobachten.

Ob sich solche Muskelansatzstellen auch für andere archäologische Kulturen finden? Etwa für die Chwalynsk-Kultur, dem Urvolk der Indogermanen, die ja an den Ufern der Mittleren Wolga ebenfalls vornehmlich vom Fischfang lebten? Hier auf dem Blog sind wir ja in früheren Beiträgen auch davon ausgegangen, daß die Urindogermanen der Chwalynsk-Kultur sich um 4.500 v. Ztr. so schnell und weit ausgebreitet haben (bis nach Ungarn) über die Fluß- und Küstenschifffahrt. Dabei haben wir uns noch gar nicht überlegt, ob das mit Ruder und Segel oder - tatsächlich - nur mit Paddeln und Treideln erfolgt ist. Aber letzteres wird man für sehr wahrscheinlich halten müssen. Man kannte ja damals auch noch nicht das Rad.

Alles spricht jedenfalls derzeit dafür, daß die Schifffahrt in der Nord- und Ostsee während des Mesolithikums, des Neolithikums, während der Bronze- und der Eisenzeit mit großen Paddelbooten erfolgte. Das dürfte dann auch für die Fischer von Neuwasser in Pommern gelten, die zwischen 5.000 und 3.000 v. Ztr. die Ostseeküsten befuhren, sowie die Weichsel und die Oder aufwärts fuhren wie wir vor fünf Jahren hier auf dem Blog mutmaßten (Stgen2017). Sie alle werden Zwischenformen von Paddelbooten genutzt haben wie sie zwischen Abb. 1 und Abb. 3 dieses Beitrages denkbar sind.

Bis 2.350 v. Ztr. handelte es sich im Nord- und Ostseeraum im wesentlichen um Küstenschifffahrt, das heißt um Schifffahrt in Sichtweite der Küste oder nicht weit darüber hinaus.

Wer selbst schon einmal von Deutschland nach Schweden gereist ist, weiß, daß man auf der Fähre von Rostock nach Malmö bei klarem Wetter eigentlich fast immer Land in Sicht hat.

Wir hatten hier auf dem Blog auch schon erörtert, daß die Schnurkeramiker bei ihrer Ankunft in Skandinavien um 2.800 v. Ztr. offenbar indogermanisierte einheimische westeuropäische Jäger und Sammler der Grübchenkeramischen Kultur auf der Insel Gotland angesiedelt haben, die zuvor nur von Trichterbecherleuten besiedelt gewesen war, und die auf Gotland in der Zeit danach keine genetischen Spuren hinterlassen haben (Stgen2020, b). Diese Insel ist etwa hundert Kilometer vom schwedischen Festland entfernt. Solche Entfernungen konnten also durchaus per offenem Paddelboot überwunden werden, auch schon von der Trichterbecherkultur.  

Mit dem Seekajak über den Atlantik

Aber mit dem Kajak über den Atlantik fahren, ist noch heute für den Menschen eine große Herausforderung. 2010 und 2013 meisterte sie zwei mal ein Pole, einen dritten Versuch im Jahr 2016 mußte er schon nach vier Tagen aufgeben (Wiki). Auf einem "Seekajakforum" wurde im Jahr 2004 zu diesem Thema geschrieben (Seekf):

Eine Atlantik-Überquerung mit dem Kajak stellt eine der größten physischen und psychischen menschlichen Herausforderungen dar. Bisher ist diese Leistung nur den beiden Deutschen Franz Romer (in einer Faltboot-Sonderanfertigung von Klepper) und Hannes Lindemann (im Klepper-Serien-Faltboot) gelungen. Eine ähnlich spektakuläre und herausragende Leistung hat nur noch der Amerikaner Ed Gillet mit seiner Pazifik-Fahrt in einem Kunstoff-Zweier von Monterey (Kalifornien) nach Hawai im Jahre 1987 vollbracht. Alle anderen Versuche sind mit diesen Kajak-Fahrten nicht vergleichbar.

Eine Geschichte solcher Seekajak-Fahrten findet sich auf Wikipedia (Wiki). Die Atlantik-Überquerung von Franz Romer (1899-1928) (Wiki) im Jahr 1928 ist hier besonders zu nennen, ausführlicher auch dargestellt in einem Sachbuch aus dem Jahr 1958 (9). Auch Überquerungen des Ärmelkanals findet man behandelt, wobei der Skagerrak zwischen Nordjütland und der Südküste Norwegens ebenfalls als eine Herausforderung angesprochen wird (Seekf). Auf Wikipedia lesen wir über den Skagerrak (Wiki):

"Das Skagerrak ist in der Seefahrt für seine je nach Wetterlage auftretenden schwierigen Seebedingungen aus Wind und Seegang bekannt."

Abb. 4: Siedlungszentren der Glockenbecher-Kultur beiderseits des Skagerrak in Nordjütland und Norwegen, 2.350 v. Ztr. (zwischen Jæren und Lista in Norwegen und zwischen Limfjord und Djursland in Dänemark)

Schiffe und Schiffer, die es gewagt hätten, regelmäßiger von Nordjütland aus direkt über den Skagerrak nach Norwegen zu fahren, hat es - nach Ansicht der Archäologen - erst ab 2.350 v. Ztr. gegeben, und zwar als die Glockenbecher-Leute nach Jütland kamen, die ihre Hinterlassenschaften nur wenig später auch auf der anderen Seite des Skagerrak zurück gelassen haben (4). Mit einem Nachbau des Hjortspring-Bootes muß man für 75 Kilometer einen ganzen Tag lang paddeln. Wer also mit der Bootstechnik von 2.350 v. Ztr. die doppelt so weite Strecke von grob 150 Kilometer über den Skagerrak hinweg paddeln will, hat inmitten der rauhen Nordsee 12 bis 14 Stunden lang kein Land in Sicht. Deshalb stellt sich die Frage, wie die Bootsführer dabei die Richtung haben einhalten können. Als frühe Navigationsmethode für eine solche Fahrt wird die sogenannte "Nachtsprung"-Methode erörtert, wobei der Nordstern als Orientierungshilfe diente, die aber nur in der Nacht verfügbar war, weshalb man nach dem Ende der Nacht eine neue Küste erreicht haben mußte (6):

Gegenüber der rein terrestrischen Navigation, bei der man nur in Sichtweite der Küsten bzw. Seeufer fahren konnte und auf das Tageslicht angewiesen war, bildete der Nachtsprung den ersten entscheidenden Fortschritt, das erste wagemutige Sich-Lösen von der Küste, um ein nicht sichtbares Ziel unter sicherer Führung eines Sternes zu erreichen.

Und (6):

Das Skagerrak ist zwischen Nordjütland und Südnorwegen auch etwa 80 sm breit und war deshalb ebenso wenig mit vorgeschichtlichen Paddelbooten zu überqueren wie die Strecke zwischen Gotland und Kurland. Man mußte von Kap Skagen aus ostwärts die 33 sm lange Strecke bis Bohuslän im Nachtsprung überwinden und dann entlang der skandinavischen Küste nach Norden und weiter nach Westen fahren, wenn man Südnorwegen ansteuern wollte.

In der hier genannten schwedischen Provinz Bohuslän findet sich ausgerechnet jener Ort mit den meisten Felsbildern in Skandinavien (Spektr2021):

Die weltweit größte Ansammlung solcher Kunstwerke aus der Bronzezeit in einem relativ kleinen Gebiet entdeckten in den vergangenen 200 Jahren Einwohner der Gemeinde Tanum und Archäologen an der schwedischen Nordseeküste nur wenige Kilometer südlich der Grenze zu Norwegen. 1994 hat die Weltkulturorganisation UNESCO diese Felsbilder daher zum Weltkulturerbe ernannt, das inzwischen Besucher aus aller Welt anzieht.

Tanum gehört zur Provinz Bohuslän und liegt 130 Kilometer nördlich von Göteburg an der Ostküste des Skagerrak.

England und Südnorwegen - Zur gleichen Zeit von demselben Volk erobert

Der berühmte Fürst von Amesbury (Wiki) setzte um 2.350 v. Ztr. über den Ärmel-Kanal hinüber nach England. Die Völker und Stämme, die bis dahin auf den britischen Inseln gelebt hatten, starben genetisch aus. Ein anderer Fürst desselben Volkes, nämlich der Glockenbecher-Kultur setzte zu gleicher Zeit - um 2.350 v. Ztr. - von Nortjütland aus über den Skagerrak hinüber in das südliche Norwegen. Und auch dort starben in der Folgezeit die letzten Vertreter der einheimischen mesolithischen Völkerschaften aus.

Der erstere eroberte die britischen Inseln und wurde bei Stonhenge begraben. Der letztere eroberte das südliche Norwegen. Sowohl der Fürst von Amesbury ebenso wie der anzunehmende Fürst des südlichen Norwegens stammten aus dem selben Volk, dem Volk der Glockenbecher-Kultur. Sie stammten auch vermutlich aus derselben Region in Europa, nämlich aus der Gegend des Rheins. Zwischen Nordjütland und Südnorwegen liegt der Skagerrak. Die archäologische Forschung geht davon aus, daß es bis 2.350 v. Ztr. keine Seeverbindung über den Skagerrak hinweg gegeben hat, zumindest keine regelmäßige (4).

Indogermanen waren schon zuvor nach Skandinavien gekommen. Die indogermanische Schnurkeramik-Kultur tritt in Jütland ab etwa 2.800 v. Ztr. in Form der Einzelgrab-Kultur (Stgen2021) auf. Nun, um 2.350 v. Ztr. kamen die Glockenbecherleute, zu deren Hauptwaffen der Bogen gehörte (s.a. Abb. 4) (Wiki):

Siedlungen mit Glockenbechern treten nur zweihundert bis dreihundert Jahre nach ihrem ersten Auftreten in Europa in Dänemark auf, nämlich um 2.350 v. Ztr.. Ihre Siedlungsorte waren konzentriert im nördlichen Jütland rund um den Limfjord und auf der Djursland-Halbinsel, im Wesentlichen zeitgleich zu der schon vor Ort befindlichen Oberen Grab-Periode. Glockenbecher-Keramik im östlichen und zentralen, sowie westlichen Schweden aus der Zeit zwischen 2.460 und 1.990 v. Ztr. stammten von anderen Glockenbecher-Typen des nordwestlichen Europas ab.
Domestic sites with Beakers only appear 200-300 years after the first appearance of Bell Beakers in Europe, at the early part of the Danish Late Neolithic Period (LN I) starting at 2350 BC. These sites are concentrated in northern Jutland around the Limfjord and on the Djursland peninsula, largely contemporary to the local Upper Grave Period. In east central Sweden and western Sweden, barbed wire decoration characterised the period 2460-1990 BC, linked to another Beaker derivation of northwestern Europe.

Zu den hier genannten Regionen in Dänemark siehe GMaps, bzw. Abb 4. Weiter wird ausgeführt, daß die Glockenbecher-Leute vom Unteren Rhein nach Jütland gekommen seien, weil sich im Fundgut manche Verbindungen zwischen beiden Regionen aufzeigen lassen. Entsprechend wird ja die Herkunftsregion des etwa zeitgleich lebenden Bogenschützen-Fürsten von Amesbury ("Amesbury Archer") (Wiki) bei Stonehenge in England auf eine Region im nordwestlichen Alpenland zurück geführt (anhand von Isotopen-Analysen seiner Knochen, bzw. Zähne). Wir lesen weiter (Wiki):

Zentren des Auftretens der spätneolithischen Becher-Kultur ähnlich zu Nordjütland finden sich als Siedlungskammern oder "Inseln" im nördlichen Europa ebenso in Mecklenburg, in Schleswig-Holstein und in Südnorwegen.
Clusters of Late Neolithic Beaker presence similar to northern Jutland appear as pockets or "islands" of Beaker Culture in northern Europe, such as Mecklenburg, Schleswig-Holstein, and southern Norway.

In dem schon genannten Aufsatz aus dem Jahr 2020 wird nun ausgeführt, daß alle neolithischen Kulturen im südlichen Skandinavien sich auch nach Norwegen ausgebreitet haben. Das betrifft die Trichterbecherkultur, die genetisch mesolithische Grübchenkammkeramische Kultur, die indogermanische Schnurkeramik-Kultur, die indogermanische Glockenbecher-Kultur (4, S. 25):

Aber es ist auffallend, daß die früheren unter diesen Kulturen vornehmlich im Südosten Norwegens aufgetreten sind, insbesondere in der Oslofjord-Region. (...) Die Verbreitung der vielfältigen Ausdrucksformen dieser Kulturen nach Norwegen fand deshalb höchstwahrscheinlich über Land statt oder entlang der Küsten, buchstäblich in Sichtweite der Küste. Es ist auffallend, daß Merkmale der Trichterbecherkultur, die typisch für Nordjütland sind, keinerlei Spuren nördlich des Skagerrak hinterlassen haben.
But it is striking that in Norway the earlier among these mainly are represented in the southeast, in particular in the Oslofjord region. This concerns the 3800-2800 calBC Funnel Beaker Culture (Østmo2007), but to a large degree also the 2800-2350 calBC Corded Ware Culture, and certainly the Jutish Single Grave Culture aspect of it (Hinsch 1956). The diffusion of the various expressions of these cultures to Norway therefore probably took place overland or along the coasts, literally within sight of land. Thus it is striking that the particular North Jutland aspect of the Funnel Beaker Culture (Ebbesen 1978) has left no trace north of the Skagerrak.

Vereinzelte Gegenstände, anhand derer man diesen typischen Merkmale aus Nordjütland auch in Norwegen aufzeigen könnte, wiesen oft von ihren Gebrauchsspuren her eine lange Nutzungsdauer auf und sind meist von den lokalen, an Norwegens Küsten noch lebenden, meolithischen Jäger-Sammler-Völkern genutzt worden, so wird weiter ausgeführt (4, S. 25):

Das alles sind Hinweise darauf, daß diese Gegenstände in das westliche Norwegen entlang der Küste aus dem Südosten gelangt sind. 
All of this can be taken to indicate that these items arrived in Western Norway along the coast from south-east (Bergsvik and Østmo 2011).

Der norwegische Archäologe Einar Østmo schreibt dann weiter (4, S. 25):

In gleicher Weise scheinen Gegenstände, die der Schnurkeramik-, bzw. Streitaxt-Kultur des Mittelneolithikums B zugesprochen werden können, das westliche Norwegen zum Teil von Süden erreicht zu haben, ob nun entlang der Küsten oder über das Meer von Dänemark her und zum Teil vom Nordosten (über Inland-Wege) über Trøndelag, wenn man von der Verteilung solcher Funde wie Streitäxte .... im westlichen Norwegen urteilt.
Similarly, items attributable to the MN B Corded Ware or Battle Axe culture seem to have reached Western Norway partly from the south, whether along the coasts or across the sea from Denmark, and partly from north-east via Trøndelag, to judge from the distribution in Western Norway of such finds as battle axes and thick-butted flint axes.

Trøndelag liegt im mittleren Norwegen nahe der Grenze zum nördlichen Schweden. Hier ist also eine Landroute der Verbreitung angesprochen. Eine wichtige Änderung in Bezug auf all diese Dinge habe sich nun um 2.350 v. Ztr. ergeben (4, S. 26):

Eine Veränderung in diesen Verbreitungs-Wegen tritt erst am Beginn des Spätneolithikums um 2350 v. Ztr. auf, eine Zeit, in der die Veränderung in der Verteilung von relevanten archäologischen Funden sehr dramatisch ist. Sie betrifft besonders Funde, die auf Einflüsse aus spätneolithischen Kulturen Südskandinaviens zurück geführt werden können, die - wie in den letzten Jahren immer deutlicher geworden ist - offenbar sehr wesentlich von Glockenbecher- und Becher-Kulturen des westlichen Europa beeinflußt gewesen sind.
A change to this pattern occurs only at the beginning of the Late Neolithic c. - 2350 BC, when the change in distribution of relevant archæological finds is all but dramatic (sic!?). It concerns especially finds which may be attributed to influences from the South Scandinavian Late Neolithic Culture, which, as has been increasingly clear in recent years, appears to have been profoundly influenced by the Bell- Beaker and Beaker cultures of Western Europe (Kaelas 1952; J. A. Jensen 1973; Lomborg 1973, 1977; Skjølsvold 1977; Kühn 1979; Ebbesen 1980; Vandkilde 1990, 1996; Prescott and Walderhaug 1995; Østmo 2005, 2008, 2009, 2011a, 2011b; Prieto-Martinez 2008; Prescott 2012).

Ein wichtiges Kulturmerkmal dieser Periode (um 2.350 v. Ztr.) sind Feuerstein-Dolche vom Typ I (Englisch "flint dagger type I"). Diese Feuerstein-Dolche ahmen zeitgleiche Bronzedolche nach (Wiki). In chronologischer Reihenfolge folgten in den nachfolgenden Jahrhunderten bis 1500 v. Ztr. auf Typ I die Typen II bis VI (s. Abb. 5). Die beiden Typen IV und V werden auf die Zeit um 1600 v. Ztr. datiert. Sie werden auf Deutsch auch "Fischschwanzdolche" genannt (Wiki).

Die "Dolktid"

In Dänemark wird jene Zeit, in der diese Feuerstein-Dolche der Typen I bis VI auftreten, "Dolktid" (2.350 bis 1.700 v. Ztr.) (Wiki) genannt.

Abb. 5: Feuersteindolche in Skandinavien ab 2.350 v. Ztr., Typ I bis VI (Resg)

Wir lesen (Wiki):

In dieser Phase sind erstmals echte Handelsbeziehungen zum mittleren Europa festzustellen, die die Voraussetzungen für die nordische Bronzezeit schaffen. (...) Die Zahl der Bronzegegenstände wächst in der Dolchzeit an. Als Herkunftsgebiet kann vor allem die Aunjetitzer Kultur identifiziert werden.

Der norwegische Archäologe Einar Østmo schreibt nun über solche Feuerstein-Dolche (4, S. 26): 

Wie schon von J.J.A. Worsaae (1869:7) vorgeschlagen worden ist, müssen solche Gegenstände in das südwestliche Norwegen direkt von Jütland gekommen sein während des Übergangs zum Frühen Spätneolithikum. Die unvermeidliche Schlußfolgerung ist, daß sie über See herein gekommen sein müssen. Ebenso trifft das zu auf Glockenbecher-Keramik des späten Mittelneolithikums in der Slettabø-Siedlung in Rogaland, die nach den technischen Untersuchungen der Keramik durch Rosenqvist und Rosenqvist (1977) in Norddeutschland hergestellt worden sein könnte. Diese Verbindung über den Skagerrak hinweg war aber zu jener Zeit um 2.350 v. Ztr. sicherlich auch deshalb etwas Neues, weil Funde der früheren neolithischen Kulturen, von denen die jütländischen Einzelgrab-Kultur nur die letzte war, in dieser Region (Norwegens) hätten präsent sein müssen; wie schon erwähnt, wurden sie nicht angetroffen, abgesehen von wenigen Einzelfunden.
As suggested already by J.J.A. Worsaae (1869:7), such items must have come to Southwestern Norway directly from Jutland at the transition to the early LateNeolithic. The inevitable conclusion is that they must have arrived by sea. This applies also to the Bell Beaker pottery from the late middle Neolithic Slettabø settlement site in Rogaland, which according to the technical investigation of the ceramic matter by Rosenqvist and Rosenqvist (1977) may have been produced in Northern Germany. Moreover, this connection across the Skagerrak certainly was a novelty at the time, c. 2350 BC, because otherwise finds from the earlier Neolithic cultures, among which the Jutish Single Grave culture is only the latest, also surely would have been present in this region; as mentioned, they are absent but for a few items.

Zur Zeit der Trichterbecherkultur hat man die Ost- und Nordsee also nur in Sichtweite auf die Küsten befahren und nicht auf einem Direktweg über den Skagerrak hinweg. Nach Meinung der Archäologen ist das ablesbar daran, daß es zwar durchaus Kulturaustausch zwischen den Südküsten der Ostsee und den Nordküsten der Ostsee gegeben habe, daß es einen solchen aber nicht zwischen Nordjütland und der Oslo-Region in Norwegen über den Skagerrak hinweg gegeben hätte (4). Das lesen die Archäologen von der geographischen Verteilung der archäologischen Fundgüter ab. Es hat also keine direkte Fährverbindung gegeben über den Skagerrak hinweg wie etwa heute von Hirtshals (oder Frederikshavn) nach Oslo.

Der Autor geht dann der These nach, daß erst die vermehrte Nutzung von Metallbeilen dazu geführt haben könnte, daß man größere Schiffe mit Planken hätte bauen können (4, S. 28). Außerdem geht er davon aus, daß die Menschen über den Skagerrak mit Paddelbooten gepaddelt seien, was in 12 bis 14 Stunden hätte geschehen können.

Der Autor schreibt dann, daß nach der Verteilung der Funde, insbesondere auch der Feuerstein-Dolche vom Typ I zu urteilen, die Ankunftsorte in Norwegen zwischen einer Region östlich von Lista und Jæren gelegen haben könnte (s. Abb. 4)(s. GMaps) (4, S. 32):

... In beiden Regionen sind zahllose Funde von Feuerstein-Dolchen und anderen zu dieser Zeit gehörenden Gegenständen gemacht worden wie ("pressure-flaked") steinerne Pfeilspitzen, besonders solche, die typisch sind für die Glockenbecherkultur und die auf die Initialphase dieser ganzen Ausbreitung datiert werden können. ...
The distribution of finds of Late Neolithic imports from Southern Scandinavia provides a general idea about where this nascent southern interest in the North was focused (Fig. 1.8). The sea-route, starting from North Jutland, appears initially to have taken land east of Lista, whence it proceeded north-westward along the coast to Jæren (cf. S. Marstrander 1950; Ø.K. Johansen 1986:151ff; Kvalø 2007:30ff; Engedal 2010). Both of these regions have produced numerous finds of flint daggers and other contemporary items such as pressure-flaked points, especially those with barbs and tang particular to the Bell Beaker Culture and datable to the initial phase of this whole movement (cf. Lemercier 2012; Mjærum 2012), as well as spoon-shaped scrapers and uniform, large, un-retouched flint flakes (Ebbesen 1980). 

Bemerkenswerte Hortfunde jener Zeit in Norwegen - also vermutlich Opfergaben an die Götter - würden den Wohlstand deutlich machen, der sich mit der Glockenbecher-Kultur im südlichen Norwegen etabliert hatte (4, S. 33f):

Das größere Bild, das sich aus der Karte der Fundverteilung spätneolithischer Feuerstein-Dolche ergibt, unterstützt und bestätigt den Eindruck, der durch die Hortfunde hervorgerufen wird, nämlich von einer schnellen Ausbreitung entlang der westnorwegischen See-Route vom beginnenden Spätneolithikum an. Es ist kein Zufall, daß die meisten Funde in den bäuerlichen Hauptregionen von Lista und Jæren liegen.
The larger picture offered by the map of all Late Neolithic flint dagger finds supports and confirms the impression left by the hoards, of a rapid spread along the west Norwegian sea-route along from the beginning of the Late Neolithic. Not coincidentally, the finds are most numerous in the main farming districts of Lista and Jæren, where topographical and other natural conditions resemble those in Jylland more closely than anywhere else in Western Norway.

Zu möglichen staatlichen Strukturen der damaligen Zeit wird ausgeführt (4, S. 35):

Noch in der Wikingerzeit waren die Könige gezwungen, ihre Zeit an unterschiedlichen Orten zuzubringen, da kein einzelner Ort über die Ressourcen verfügte, um den königlichen Haushalt das ganze Jahr hindurch versorgen zu können.
As late as the Viking Age, kings were compelled to divide their time among different seats, as no single location had the resources to entertain the royal household continuously (Steen 1942:65ff, 386ff).

In den spärlich erhalten gebliebenen, der Absicht nach monumentalen Grabanlagen jener Zeit sieht der Autor Hinweise auf eine Aristokratie.

Wenn man nun bedenkt, daß die Wissenschaft sich viele Jahrzehnte lang sehr schwer getan hat mit der Annahme, daß sich der Ackerbau rund um das Mittelmeer mittels der Schifffahrt in Küstennähe ausgebreitet haben könnte (Stugen2007), was heute, soweit wir das überblicken, kaum noch infrage gestellt wird, der ermißt, daß mit den hier vorgetragenen, sehr konkreten Überlegungen der Archäologen zur ersten regelmäßigeren Überquerung des Skagerrak umfangreiche Erkenntnisfortschritte der letzten Jahrzehnte verbunden sind.

Schnurkeramiker - Ausbreitung noch nicht über weite Wasserwege 

Ergänzung 14.3.24: In der Facebook-Gruppe "Alte DNS (Archäogenetik)" ist schon 2021 von Joachim Koch auf die These hingewiesen worden, daß die (indogermanische) Bootsaxt-Kultur in Schweden über den östlichen Ostseeraum und Finnland nach Schweden gelangt sei, während die (indogermanische) Streitaxt-Kultur in Dänemark von Süden dorthin gelangt sei (erneut erörtert hier: ADNS2024). 

Abb. 6: Die früheste indogermanische Ausbreitung verlief über Land und kannte noch nicht das Fahren über das offene Meer, das begann offenbar erst mit den Glockenbecher-Leuten (nach Joachim Koch) (ADNS2021)

Joachim Koch schrieb (ADNS2021):

Hierfür wird von den schwedischen Archäologen Jonathan Lindström u. a. angegeben, daß eine Untersuchung des Tons aus der frühesten entsprechenden Keramik dieses zeigen solle. Auch soll die Besiedlung durch diese erbgutlich grubengrab-abgeleiteten Leute anzunehmenderweise friedlicher von Statten gegangen sein, als auf dem Festland südlich der Ostsee, weil nicht nur männliche Krieger, sondern auch Frauen mit gesiedelt hätten.

Und:

Quelle ist zunächst nur ein Beitrag aus dem schwedischen staatlichen Fernsehprogramm (auf welches ich in einer schwedischen Gruppe hingewiesen wurde).

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*) Zu Frühformen der Galleere finden wir die Ausführungen (Wiki):

Der früheste Hinweis ... auf Prototypen der späteren Galleeren stammt aus dem antiken Ägypten während des Alten Reiches (2700 bis 2200 v. Ztr.). Unter der Herrschaft des Pharaoh Pepi I. (2332-2283 BC) wurden diese Schiffe für den Transport von Truppen benutzt, um Siedlungen entlang der levantinischen Küste zu plündern und um zurückzukehren mit Sklaven und Holz. Während der Herrschaft von Hatshepsut (1479 bis 1457 v. Ztr.), handelten ägyptische Galleeren mit Luxusgütern im Roten Meer mit den geheimnisvollen Land von Punt wie es auf Wandmalereien am Totentempel für Hatshepsut in Deir el-Bahari dargestellt ist.
The first evidence of more complex craft that are considered to prototypes for later galleys comes from Ancient Egypt during the Old Kingdom (c. 2700–2200 BC). Under the rule of pharaoh Pepi I (2332–2283 BC) these vessels were used to transport troops to raid settlements along the Levantine coast and to ship back slaves and timber.[17] During the reign of Hatshepsut (c. 1479–57 BC), Egyptian galleys traded in luxuries on the Red Sea with the enigmatic Land of Punt, as recorded on wall paintings at the Mortuary Temple of Hatshepsut at Deir el-Bahari.

Siehe Bilder im Internet zu den Suchworten "Hashepsut temple ship". 

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  1. Evers, Dietrich: Felsbilder - Botschaften der Vorzeit. Urania-Verlag, Leipzig 1991
  2. Gerhard Milstreu (Hrsg.): Dietrich Evers´ Gespräche mit den Mächten - Das Bilderbuch ohne Worte. Botschaften in Stein - Dokumentiert, interpretiert und experimentiert. Gedenkschrift zum 100. Geburtstag des Felsbildforschers und Experimentalarchäologen Dietrich Evers. 2013 [Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas] (Academia.edu)
  3. Evers, Dietrich: Die wahren Entdecker Amerikas. (Beier & Beran), 2000 
  4. Østmo, Einar: The History of the Norvegr 2000 BC-1000 AD. In: Rulership in 1st to 14th century Scandinavia. 2020, https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110421101-001/html
  5. Gjerde, J. M. (2021) The earliest boat depiction in northern Europe: Newly discovered early Mesolithic Rock Art at Valle, Northern Norway. Oxford Journal of Archaeology, 40: Pages: 136-152 | First Published: 19 April 2021. https://doi.org/10.1111/ojoa.12214. 
  6. Ellmers, Detlef: Der Nachtsprung an eine hinter dem Horizont liegende Gegenküste. Die älteste astronomische Navigationsmethode. In: Deutsches Schifffahrtsarchiv 1981 (pdf)
  7. Stölting, Siegfried: Überlegungen zum Bau und zur Entwicklung bronzezeitlicher Schiffe. Deutsches Schiffahrtsarchiv, 22, 1999, 265-284. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-55788-7
  8. Kniep, Klaus: Sonnenbarke oder Totenschiff: Überlegungen zur Bedeutung der Schiffsdarstellungen auf den bronzezeitlichen Felsbildern Südskandinaviens. Deutsches Schiffahrtsarchiv, 22, 1999, 247-264. https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-52578-8
  9. Herrmann, Paul: Das große Buch der Entdeckungen. Wagemut und Abenteuer aus 3 Jahrtausenden. Ensslin & Laiblin Verlag, Reutlingen 1958
  10. Rahmstorf, Lorenz: Zur Ausbreitung vorderasiatischer Innovationen in die frühbronzezeitliche Ägäis.  In: Prähistorische Zeitschrift, 81. Band, 2006, S. 49-96 (Acad
  11. Rahmstorf, Lorenz: Die Nutzung von Booten und Schiffen in der bronzezeitlichen Ägäis und die Fernkontakte der Frühbronzezeit. In: Meller/Bertemes (Hg.): Der Griff nach den Sternen. Symposion, Halle 2005  (Acad)

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Von Ungarn nach Norditalien - Goten und Langobarden

Kleiner Einblick zu der vielfältigen dereitigen Erforschung ihrer Archäogenetik
- nebst einem Seitenblick auf die Kunst der Langobarden und Lombarden 

Die Geschichte der Langobarden in Norditalien ist eine faszinierende. Zur höchsten Blüte gelangte die Geschichte ihrer Nachfahren, der "Lombarden" in der italienischen Renaissance und im Barockzeitalter. Welche Fülle an kulturellen Hinterlassenschaften, an Literatur, an Kunst, an Wissenschaft verdankt die Welt diesem Zeitalter.

Abb. 1: Pfalzkapelle der Langobarden in Cividale, 8. Jhdt., Westwand (Wiki) (Fotograf: Wolfgang Sauber)

Einer der ältesten Orte des langobardischen Weltkulturerbes ist die Stadt Cividale in Friaul (Wiki), die wie die meisten Städte dieser Region unter Julius Cäsar gegründet worden ist. Diese Stadt war einst, ab dem 568 n. Ztr., die Hauptstadt der Langobarden, später ein Herzogsitz der Langobarden. In der dortigen einstigen Pfalzkapelle (heute Kloster Santa Maria), errichtet von den dort residierenden langobardischen Herzögen (Wiki) oder gar von dem langobardischen König Aistulf (gest. 756) (Wiki), hat sich ein herrliches Werk der frühen langobardischen Kunst erhalten (Abb. 1).

Welche Personen diese Reliefskulpturen voller kindlich-reifer Schönheit und zugleich herrschaftlicher Würde an der Westwand dieser Kapelle aus dem 8. Jahrhhundert darstellen (Abb. 1), ist nicht bekannt. Manche stilistischen Elemente dieser Kapelle sind von Byzanz beeinflußt, andere von der arabischen Kultur. Ihr Baustil gehört der "Lombardischen Präromanik" (Wiki) an, die auch von den Bauten Theoderichs des Großen in Ravenna beeinflußt war.

Die meisten frühen steinernen Reliefs der Langobarden, die sich erhalten haben, sind ansonsten noch im typischen germanischen Tierstil gehalten, etwa auch auf Sarkophagen (Wiki). Dabei erinnern die noch sehr archaischen Darstellungen des menschlichen Gesichts an europäische Statuenmenhire wie sie Jahrtausende lang in Europa aufgestellt worden waren (Stgen2019). Vielleicht sind die Skulpturen der Pfalzkapelle in Cividale (Abb. 1) demgegenüber ein erster reifer, ja, sogleich auch vollendeter Ausdruck langobardischer Kunst.

Die lombardische Kunst hat im 12. Jahrhundert bis in Bauerndörfer der Halbinsel Istrien ausgestrahlt. So hat sich ein hölzernes Kruzifix aus dieser Zeit erhalten in der Sankt Justus Kirche in Galižana auf Istrien (nördlich von Pula), das den  Betrachter noch heute anspricht in seiner Würde und in der einfachen, gemessenen Ruhe seines Ausdrucks (Abb. 2) (s.a. PPM, Chr. Winters).

Abb. 2: Hölzernes Kurzifix der lombardischen Schule aus dem 12. Jhdt. - In der Sankt Justus Kirche in Galižana in Istrien (aus 3)

Es ragt aus der Unzahl gekünstelt schmerzvoller Jesus-Darstellungen der europäischen Kunstgeschichte jedenfalls klar heraus.

Die Langobarden waren 568 aus Ungarn nach Norditalien zugewandert. Am Plattensee in Ungarn sind die Gräber ihrer Vorfahren archäogenetisch untersucht worden (2). Das war 16 Jahre nach dem Untergang der Ostgoten unter König Teja in der Schlacht Schlacht am Mons Lactarius, in der der "Schwarze Teja" den Tod fand. Dieser Untergang der Ostgoten ist auch noch für heutige Leser ergreifend dargestellt in dem früher viel gelesenen Roman von Felix Dahn "Ein Kampf um Rom" (1876) (Wiki). Viele der damals in Norditalien verbliebenen Goten haben sich aus diesem Anlaß den benachbarten Franken und den Langobarden angeschlossen (Wiki).

Abb. 3: Herkunftsanteile gotischer und langobardischer Krieger auf vier Gräberfeldern am Südufer des Plattensees in Ungarn zwischen etwa 450 und 550 n. Ztr. (aus 2) (blau=germanische Herkunft, rot=antik-toskanische Herkunft, orange=finnische Herkunft)

Aus der Archäogenetik ist inzwischen gut bekannt, daß die Langobarden - ebenso wie die Goten - aus Skandinavien stammen (Wiki). 

Die neue Studie konnte einige jener Goten und Langobarden, die am Plattensee in Ungarn bestattet worden waren zwischen 450 und 550 n. Ztr. genetisch gar nicht unterscheiden. 

Aber die zeitlich früheren Gräberfelder (Abb. 3 links) werden Goten gewesen sein (s. Abb. 4). Sie wiesen nämlich mitunter auch die besonders für die Goten typischen Schädeldeformierungen auf, die entstehen durch Bandagierungen des Kopfes in der frühen Kindheit. Das ist eine Sitte, die vermutlich mit den Hunnen aufgekommen ist (Wiki):

Schädeldeformationen sind im 5. und 6. Jahrhundert gelegentlich an Grabfunden der von den Hunnen unterworfenen oder beeinflußten Völker wie den Goten, Gepiden (in diesen Fällen bis in das 6. Jahrhundert), Thüringern, Alamannen, Franken (bei den letzten beiden eher selten, 7. Jahrhundert), Bajuwaren (mindestens 20 Schädel an 7 Fundstellen, vor allem am Reihengräberfeld Straubing-Bajuwarenstraße an einem Mann und 10 Frauen), Heruler, Langobarden und Burgundern nachweisbar. 

Bei den untersuchten, zeitlich späteren Gräberfeldern am Plattensee wird es sich um Langobarden handeln, wenn auch die Forscher dazu keine genauen Angaben machen wollen. Unter beiden Gruppierungen gab es jedenfalls Krieger und Frauen, die fast nur nordeuropäische Herkunft aufwiesen (in Abb. 3: blau). Der Anteil derselben war aber bei den Langobarden deutlich höher als bei den Goten. Die Goten hatten bekanntlich schon mehrere Jahrhunderte länger am Nordufer des Schwarzen Meeres und auf dem Balkan gelebt, so daß es vermutlich eher erstaunlich ist, daß einige unter ihnen immer noch reine germanische Herkunft aufgewiesen haben. 

Ebenso wurden dort Menschen bestattet, die nur die Herkunft der Bewohner des vormals dort bestehenden Römischen Reiches aufwiesen (Abb. 3: rot).

Und schließlich stammen viele bestattete Krieger auch von beiden Herkunftsgruppen ab, das heißt, die zugewanderten langobardischen Krieger haben einheimische Frauen geheiratet, ob aus der jeweils eigenen sozialen Schicht oder nicht, kann derzeit noch kaum gesagt werden. Die jeweilige Herkunft kann auch sonst nicht zwangsläufig an den Grabbeigaben abgelesen werden. ("Differences and changes in material culture do not necessarily correspond to genetic shifts and differences.") Das heißt, Menschen einheimischer Herkunft waren nicht zwangsäufig sozial schlechter gestellt als die zugewanderten Angehörigen der germanischen Stämme.

Die Gräberfelder der Goten scheinen mehr um die mütterliche Herkunft herum organisiert zu sein. Welche Schicksale wohl die Nachfahren dieser Goten in Italien erfahren haben. Vielleicht waren die Vorfahren von ostgotischen Königen dabei wie Theoderich, Amalaswintha, Wittichis, Totila oder Teja oder anderen ostgotischen Heerführern. Die Gräberfelder der Langobarden sind klar entlang der väterliche Herkunft organisiert.

Ungarn - Ein kurzer weltgeschichtlicher Überblick

Schon im April hatten wir im Entwurf mit einem Beitrag begonnen, der aus diesem Anlaß mit eingestellt werden soll. Mehrere Beiträge hier auf dem Blog haben sich ja inzwischen mit der Geschichte Ungarns beschäftigt. Diese Geschichte ist sehr wechselhaft, sehr vielfältig, sehr abwechslungsreich. Sich diesen Umstand vor Augen zu führen, kann ja einmal ganz sinnvoll sein (Label:Ungarn). 

In Ungarn - zwischen Plattensee und Wiener Becken - entstand die große Kultur der Bandkeramik. Dazu gibt es viele Artikel hier auf dem Blog. Genannt sei an dieser Stelle nur einer der letzten (Stgen2019).

Schon um 4.500 v. Ztr. treten "sporadisch" die ersten Urindogermanen, abstammend von der Chwalynsk-Kultur an der Mittleren Wolga in Ungarn auf (Stgen2022). Ab 2.900 v. Ztr. folgt eine weitere, demographisch deutlich stärkere indogermanische Zuwanderung.

2.200 v. Ztr. scheinen indogermanische Völker aus Ungarn dann wieder abgezogen zu sein (Stgen2022). Völker mit höheren Anteilen westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik, die es seit 5.600 v. Ztr. in Ungarn gar nicht mehr gegeben hatte, siedelten in Ungarn. Erste städtische Zentren entstanden in dieser Zeit (Stgen2022).

Mit diesen städtischen Zentren entstand ein Bevölkerungsüberschuß, der dazu führte, daß aus dem Raum Ungarn heraus viele Anstöße gekommen zu sein scheinen zu großen Kriegszügen nach Westen, Norden (Tollensetal in Mecklenburg!) und schließlich Süden, also zu jenen Kriegszügen, die im Seevölkersturm um 1200 v. Ztr. im Mittelmeerraum mündeten (Stgen2019).

In der Eisenzeit siedelten Sarmaten in Ungarn. Zu ihnen gehörte auch der Stamm der Jazygen. Diese Sarmaten waren zum Teil Gegner, zum Teil Verbündete anderer germanischer und indogermanischer Völker dieses Raumes, etwa auch des Quaden-Fürsten Marbod, der Grundlagen für den Sieg der Cherusker bei Kalkriese im Jahr 9 n. Ztr. legte (Stgen2021). Verbündete etwa auch der Daker in ihrem Überlebenskampf gegen die Römer (Stgen2021).

Später kamen die Goten unter und neben den Hunnenkönigen nach Ungarn (Stgen2021).

Zur Völkerwanderungszeit finden wir gerade folgende, recht gelungene, kurze Zusammenfassung (1):

Vor der Ankunft der Awaren war der westliche Teil des Karpatenbeckens von den Römern besetzt, der östliche Teil desselben von den Sarmaten (etwa 1 bis 400 n. Ztr.). Die Römer wurden durch das kurzlebige Reich der Hunnen ersetzt (400 bis 455 v. Ztr.) und durch mehrere germanisch-sprachige Gruppen: Goten und Langobarden in Pannonien, Gepiden entlang der Tisza (400 bis 568). 567/68 zerstörten die Langobarden das Königreich der Gepiden und zogen nach Italien, während die Awaren das Karpatenbecken und seine einheimische Bevölkerung eroberten (Pohl, 2018).
Before the Avars arrived, the Romans had occupied the western part of the Carpathian Basin and the Sarmatians the eastern part (c. 1–400 CE). The Romans were replaced by the short-lived empire of the Huns (400–455 CE), and by diverse Germanic-speaking groups: Goths and Longobards in Pannonia, Gepids along the Tisza (400 to c. 568). In 567/68, the Longobards destroyed the Gepid kingdom and moved to Italy, while the Avars conquered the Carpathian Basin and its local population (Pohl, 2018).

Um 900 kommt es dann zu den Einfällen der namengebenden "Ungarn" in Ungarn, zur sogenannten "Landnahmezeit" (Stgen2022). Die sibirische, ugrische Sprache der Landnahme-Ungarn blieb bis heute erhalten, ihre Gene sind in Ungarn heute ausgestorben. 

Abb. 4: Gräberfelder am Südufer des Plattensees in Ungarn und ihre zeitliche Stellung (aus 2)

Hier noch einmal ein graphischer Überblick über die Geschichte Ungarns in der Völkerwanderungszeit (Abb. 4).

/ Entwurf zu [1]: 
5.4.22 /

________________

  1. Gnecchi-Ruscone, G. A., Szécsényi-Nagy, A., Koncz, I., Csiky, G., Rácz, Z., Rohrlach, A. B., ... & Krause, J. (2022). Ancient genomes reveal origin and rapid trans-Eurasian migration of 7th century Avar elites. Cell., https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0092867422002677
  2. Investigating community formation through dense spatial and temporal sampling of 5-6th century cemeteries in Pannonia     Deven Nikunj Vyas, István Koncz, Alessandra Modi, Balázs Gusztáv Mende,     Yijie Tian, Paolo Francalacci, Martina Lari, Stefania Vai, Péter     Straub, Zsolt Gallina, Tamás Szeniczey, Tamás Hajdu, Rita Radzevi?i?t?,     Zuzana Hofmanová, Sándor Évinger, Zsolt Bernert, Walter Pohl, David     Caramelli, Tivadar Vida, Patrick J Geary and Krishna Ranganaden     Veeramah     bioRxiv. posted 27 September 2022, , 10.1101/2022.09.26.509582     http://biorxiv.org/content/early/2022/09/27/2022.09.26.509582?ct=ct
  3. Barbarlich-Geromella, Elis: Geistige Itinerarien in und um Vodnjan - Eine Begegnung mit der Stille. Libar od Grodza, Pula 1995  

Dienstag, 11. Oktober 2022

Von Wien nach Schweinfurt innerhalb EINER Generation?

Die schnelle Ausbreitung der Bandkeramiker innerhalb Europas
- Welche Rolle spielte dabei die einheimische, mesolithische Genetik?

Der emeritierte Archäologie-Professor Jens Lüning ist in den 1970er Jahren bekannt geworden durch die "Braunkohle-Archäologie". Durch diese konnte er nicht nur einzelne bandkeramische Siedlungen (Wiki), sondern ganze Siedlungskammern - anfangs insbesondere im Rheinland - ganz neu verstehen. 1979 bis 1985 hat Lüning auch eine sehr frühe bandkeramische Siedlung in Unterfranken am Main ausgegraben, bei dem Dorf Schwanfeld zwischen Schweinfurt und Würzburg. Dort gibt es seit 2010 sogar das "Bandkeramikmuseum Schwanfeld" (Wiki) (Abb. 1). 

Abb. 1: Figurinen aus bandkeramischen Siedlungen - Nachbildungen im Bandkeramikmuseum Schwanfeld am Main (Wiki) (Fotograf: Ana al'ain)

Jens Lüning war es auch gewesen, der erstmals - wenn wir es recht in Erinnerung haben: in den 1990er Jahren - postuliert hatte, daß Siedlergruppen aus bandkeramischen Siedlungen an der jeweiligen Siedlungsgrenze über 30 Kilometer entfernt inmitten des unberührten damaligen geschlossenen europäischen Lindenwaldes neue Siedlungen begründet hätten, und daß die unbesiedelten Zwischenräume erst in nachfolgenden Generationen aufgesiedelt worden wären.

Der kühne Vorschlag zweier angesehener Bandkeramik-Forscher

Das schien vor zwanzig Jahren noch eine kühne These zu sein. Aber die auffallend schnelle Ausbreitung der Bandkeramik über ganz Mitteleuropa hinweg, nämlich vom Wiener Becken aus bis an die Kanalküste einerseits und bis in die Ukraine andererseits mußte ja irgendwie erklärt werden.

Neuerdings macht Jens Lüning aber Vorschläge, die noch um ein Beträchtliches über dieses kühne Modell von vor zwanzig Jahren hinaus gehen (1): Er macht nämlich den Vorschlag einer Ausbreitungsbewegung von Bauern über fünfhundert Kilometer hinweg innerhalb von nur einer Generation. Er schlägt also vor, daß bandkeramische Siedler derselben Generation sich direkt vom Wiener Becken aus in Unterfranken zwischen Schweinfurt und Würzburg angesiedelt hätten (1).

Was für ein kühner Vorschlag. So viel Kühnheit in der Hypothesenbildung ist man ja von den heutigen, so vorsichtig vorgehenden Forschern gar nicht mehr gewohnt. Und man reibt sich ein wenig verwundert die Augen. 

Für diese These hat sich Jens Lüning zusammen getan unter anderem mit dem Wiener Archäologen Peter Stadler, der in den beiden letzten Jahrzehnten südlich von Wien, dort wo die bandkeramische Kultur einstmals ihren Ursprung hatte, die sehr frühe und lange Jahrhunderte bestehende, bedeutende bandkeramische Siedlung Brunn am Gebirge ausgegraben hat.

Brunn am Gebirge südlich von Wien ist über fünfhundert Kilometer von dem Fundort Schwanfeld in Unterfranken bei Schweinfurt entfernt. Dennoch schreiben die beiden Archäologen - zusammen mit zwei Koautoren (1): 

Die Fundstellen von Brunn 3 in Österreich und Schwanfeld in Deutschland lassen sich in die frühe Phase der linearbandkeramischen Kultur (LBK) einordnen. Komplexe mit archaischen Keramiktypen definieren ihre Stellung unter den frühesten Fundplätzen, die chronologisch gesehen auf die Formative Phase dieser Kultur folgten.

Die Formative Phase war wohl auf den Raum zwischen Plattensee und Wiener Becken beschränkt und ist mehrfach hier bei uns auf dem Blog behandelt worden. Eine auf diese Formative Phase folgende Phase wird nun neuerdings - seit 2021 - von den Archäologen "Milanove-Phase" benannt (wohl nach einem Fundort in Ungarn). Sie schreiben weiter (1):

Beide Fundorte weisen seltene gemeinsame Formen von Keramik und Verzierungen auf, sowie Gebäude mit ähnlichen trapezförmigen Grundrissen. Haus 16 der Schwanfelder Siedlung und Haus 38, Fundstelle 3 der Siedlung von Brunn am Gebirge können aufgrund ihrer Übereinstimmungen zu Recht als architektonische Zwillinge bezeichnet werden. Zum ersten Mal stellen wir das Phänomen baugleicher Häuser vor, die geographisch gesehen weit voneinander entfernt liegen.
Eine Besonderheit von Haus 16 von Schwanfeld ist sicherlich das sogenannte Gründergrab, bei dem es sich um ein männliches Individuum handelt und von den Ausgräbern aufgrund der Beigaben als Jäger oder Krieger angesprochen wird (Lüning, 2011, 5). Es handelt sich hierbei um eine Sonderbestattung innerhalb einer großen Grube mit einer sehr frühen Datierung von 5484 v. Chr. (Lüning, 2011, 5). Interessanterweise gibt es auch gewisse Parallelen zu den ältesten Häusern der Formativen Phase von Brunn am Gebirge, die sich im Bereich der Fundstelle 2b befinden. Eines dieser Häuser, Haus 11, weist eine Datierung von 5525-5453 v. Chr. auf (Stadler & Minnich, 2021, Tab. 9.2) und zeigt deutliche Parallelen zum Nachbarhaus von Haus 16 aus Schwanfeld, bei dem es sich um Haus 15 handelt.
Neben vergleichbaren Radiokarbondaten, die natürlich mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln sind, Ähnlichkeiten in der Keramikdekoration und ihren Formen, spielen auch architektonische Übereinstimmungen eine wichtige Rolle, die gegen eine Zufälligkeit sprechen. Daher bringen wir die Entstehung des Schwanfelder Fundplatzes mit der Migration von Menschen aus dem Wiener Becken in Verbindung.

Das hieße also, daß Menschen aus dem Wiener Becken direkt nach Unterfranken gewandert wären, und daß beide hier genannten Häuser höchstens 20 Jahre voneinander versetzt erbaut worden wären, wenn nicht noch kürzer voneinander versetzt. 

Die Mobilitätsspielräume mesolithischer Völker

Man wird all das vielleicht vor dem Hintergrund sehen können, daß "mesolithisch lebende" Völker - wie noch heute die hier auf dem Blog in diesem Jahr schon behandelten Chanten und Mansen in Westsibirien - ganz natürlicherweise Mobilitätsspielräume über viele hundert Kilometer aufgewiesen haben. Sie hatten Aufenthaltsgebiete im Sommer und im Winter, je nach Ressourcenangebot und Lebensbedingungen vor Ort (z. B. Rentier-Weiden, Fischfang-Gründe, Jagd auf Wild mit Fallen etc.). Da ist es natürlich denkbar und naheliegend, daß bäuerliche Gesellschaften, die ihnen folgten, und die aus ihnen dahingehend hervorgegangen sind, daß sie - vor allem anfangs - eine Mischbevölkerung darstellten aus einheimischen Mesolithikern und zugewanderten (genetisch anatolisch-neolithischen) Bauern, nicht über geringere Mobilitätsspielräume verfügt zu haben brauchen. So schließen wir gedanklich an diese, uns sehr kühn anmutende These an.

So hat eine litauische Forschungsgruppe anhand der chemischen Zusammensetzung der Knochen von mesolithisch lebenden "osteuropäischen Jägern und Sammlern" (Wiki) in Litauen postuliert, daß sich diese während ihres Lebens über einen Aktionsraum von bis zu 85 Kilometern hinweg bewegt haben (3).

Außerdem ist ja sowieso schon lange bekannt, daß die Bandkeramiker auch noch in späterer Zeit bestimmte Gesteinsarten für die Herstellung von Steinwerkzeugen über viele hundert Kilometer hinweg von Siedlungskammer zu Siedlungskammer transportiert haben (von Böhmen nach Schlesien, von Böhmen nach Bayern usw.).

Es wird sogar aufgrund bestimmter Hinweise vermutet, daß der erwähnte, in Schwanfeld bestattete Jäger aus dem böhmischen Gebirge stammte (s.a. Wiki). 

Es werden auch die archäogenetischen Daten erwähnt, nach denen in der frühen bandkeramischen Siedlung Brunn am Gebirge anfangs noch Menschen lebten, die einen deutlich höheren Anteil einheimischer mesolithischer Genetik aufgewiesen haben als das in der späteren, klassischen Zeit der Bandkeramik über ganz Mitteleuropa hinweg der Fall gewesen ist. 

Da dämmert einem die Vermutung, daß die anatolisch-neolithische Genetik sich in der Formativen Phase der Bandkeramik (zwischen Plattensee und Wiener Becken) ebenso wie noch während der hier behandelten weiten Ausbreitungsbewegung der "Milanove-Phase" der Bandkeramik noch nicht so stark innerhalb dieser Kultur durchgesetzt hatte, wie es ziemlich bald darauf danach geschehen sein muß (nach der Fülle der archäogenetischen Daten, die wir aus der "klassischen" Zeit der Bandkeramik inzwischen haben). 

Nachdem man von einer dynamischen, demographischen und räumlichen Ausbreitung der Entwicklung der bandkeramischen Kultur mehr in eine statische Entwicklung überging, mag sich zugleich auch erst die anatolisch-neolithische Genetik wirklich durchgesetzt haben. Das ist vorläufig natürlich nur eine Hypothese.

Auf jeden Fall ging dann der einheimische mesolithische genetische Herkunftsanteil ziemlich schnell und einheitlich auf sieben Prozent zurück. Das stellt übrigens eine mehr als auffallender Parallele dar zu den sieben Prozent herkunftsmäßigem indogermanischen Steppenanteil bei den spätbronzezeitlichen und antiken Griechen in der Ägäis. Wenn die antiken Griechen von ihrer Kultur her so "indogermanisch" sein konnten wie sie vor der Geschichte dastehen, obwohl sie nur sieben Prozent indogermanischer Genetik in sich trugen, wird man auch den Bandkeramikern viel mehr einheimische, europäische kulturelle Charaktermerkmale unterstellen können als dies allein von ihrer Genetik her abzulesen wäre. 

Europaweiter Vergleich von Keramikinventaren

Durch den europaweiten Vergleich von Keramikinventaren von quasi "repräsentativen" bandkeramischen Siedlungen - damit meinen wir solche Siedlungen, die einerseits reich sind an Keramik, in denen andererseits sich aber ausreichend auch Keramikmaterial von nur kurzzeitig bestehenden Keramikstilen findet - durch einen solchen Vergleich jedenfalls kann die zeitliche Abfolge und der räumliche Ausbreitungsmodus der bandkeramischen Siedlungen inzwischen noch genauer eingegrenzt werden als das in früheren Jahrzehnten möglich gewesen ist (1).

Die bandkeramische Siedlung in Schwanfeld am Main in Unterfranken wird - aufgrund solcher europaweiter stilistischer Vergleiche von gut ausgewählten, repräsentativen Keramikinventaren - als eine der ältesten bandkeramischen Siedlungen in ganz Deutschland angesehen. Und von dieser Erkenntnis her wird geschlußfolgert (1):

Es ist möglich, eine Ausbreitungsbewegung anzunehmen von Einwohnern der Brunn 3-Siedlung oder verwandter Volksteile die Donau abwärts und später in das Maintal. Schwanfeld ist derzeit der einzige Fundplatz, der den Beginn dieser Ausbreitungsbewegung markiert. Eine Gruppe jüngerer Fundorte (Wang im Donautal, Buchbrücken im Maintal und Eitzum im Wesertal) zeigen die weitere Entwicklung der Ausbreitung während der späten Unterphase der "Milanove-Phase". Auffallende architektonische Ähnlichkeiten mit den Häusern von Brunn 3 kann ebenso für diese Gruppe demonstriert werden. Es ist möglich, daß all diese deutschen Fundorte eine eigene Gruppe bilden, die synchrone Existenz mit österreichischen Fundorten aufweist.
It is possible to assume a migration of the Brunn 3 inhabitants or related people upstream of the Danube and later to the Main drainage. Schwanfeld is now the only site in Germany which marks the beginning of this migration. A group of younger sites (Wang in the Danube drainage, Bruchenbrücken in the Main drainage, and Eitzum in the Weser drainage) demonstrates the further development of migrants during the late subphase of the Milanovce phase. Significant architectural similarities with the houses of Brunn 3 could also be documented for this group. It is possible that all these German sites create an own arch of the parabola (light purple), which shows their synchronous existence with the Austrian sites. 

An den weiteren genannten, nächstjüngeren Fundorten zwischen Donau und Weser wird deutlich, daß die Forscher die vermutete geographische und damit verbundene demographische Dynamik der Bandkeramik auch für die gleich darauf folgende Phase noch in ebenso starkem Maße annehmen. 

Zusammen gefaßt also: Innerhalb einer Generation sind nicht 30 Kilometer überwunden worden, sondern: 500. 

Allerdings hatten wir hier auf dem Blog auch schon auf Hinweise aufmerksam gemacht, daß auf dem Weg von Wien nach Schweinfurt etwa in der Gegend von Passau eine Kulturgrenze überschritten worden sein könnte, erkennbar an dem Verbreitungsraum eines bestimmten Pfeilspitztyps im mesolithischen und auch noch im darauffolgenden neolithischen Europa (Stgen2022) (2).

Man möchte fast annehmen, daß Menschen einheimischer, europäischer mesolithischer Genetik quasi die "Wegbahner" für diese Bauernkultur gewesen sein könnten in weit entfernte Gebiete hinein, bis hinauf ins Wesertal, daß ihre Genetik aber schon nach wenigen Generationen - dennoch - in diesem Bauernvolk auf sieben Prozent zurück gegangen, zurück gedrängt worden ist (auf friedlichem, demographischem Weg). Quasi nachdem ein solcher, verwegener Pioniergeist nicht mehr von Nöten war und die Menschen "gesetzter" werden konnten.

"Die einheimischen Jäger und Sammler haben die Bandkeramik erfunden"

Ergänzung 27.10.22: Schon Anfang 2014 hatte Jens Lüning fest gehalten (4):

Nach Gronenborn (1994 b; 1999) wanderten die bandkeramischen Bauern auf ihrem Weg nach Westen vom Plattensee bis zum Rhein in ein von Jägern und Sammlern dünn besiedeltes Gebiet ein. Sie folgten dabei einem schon lange bestehenden, mesolithischen Netz von Verbindungen und Beziehungen und übernahmen speziell in Südwestdeutschland Feinheiten der einheimischen Silextradition so umfassend - es war also nicht ein simples Eintauschen von Geräten, wie manchmal vermutet wird, daß auf eine rasche und auch biologisch-genetische Integration der dortigen Jäger und Sammler geschlossen wurde. Durch Inna Mateiciucová wurde später auch der östliche Bereich der ältesten Bandkeramik genauer aufgearbeitet, wobei sie darauf hinwies, daß die dortige Silextechnik „keine Tradition ist, die aus dem Frühneolithikum des Balkans stammt“, sondern aus dem noch unzureichend bekannten „lokalen Spätmesolithikum tradiert worden sein“ dürfte. Folglich seien es die einheimischen Jäger und Sammlerinnen gewesen, die unter Einfluß der Starčevokultur die Bandkeramik „erfunden“ hätten (Mateiciucová 2003, 315; 2008) 
Für den Vergleich mit den aDNA-Analysen ist auch die archäologische Diskussion darüber wichtig, wie viele Menschen eigentlich an der ältestbandkeramischen Einwanderung teilgenommen haben. Das Spektrum reicht von einer „kraftvollen Einwanderung“ in die Gebiete westlich bis zum Rhein (Lüning 1996, 46), hinter der wie Jörg Petrasch (2001, 13 f.) später ausführlich vorrechnete, ein „drastischer Bevölkerungszuwachs“ im Entstehungsgebiet nördlich des Plattensees die Grundlage geschaffen haben könnte, über ein erstes, lockeres Netz von weit gestreuten Pioniersiedlungen als Kerne eines zukünftigen lokalen Landesausbaus (Gronenborn 1994 a, 51; Petrasch 2001, 17), ein Netz, das nach „Regeln“ strategisch geplant in Besitz genommen wurde (Frirdich 2005, 99f.), bis hin zu einem religiös-kulturellen „Missionierungsvorgang“, der von nur relativ wenigen bandkeramischen Personen und Familien getragen wurde, die die Masse der einheimischen Bevölkerung „bekehrten und belehrten“ (Lüning 2006).

Die letztere Hypothese wird wohl nach dem heutigen Forschungsstand ausgeschlossen werden können. Aber alles andere sind in letzter Konsequenz sehr spannende Ausführungen.

Wenn wir bedenken, daß auch in den antiken Griechen acht Prozent Steppengenetik als Einmischung übrig blieben, nachdem sich durch Träger dieser Genetik bei ihnen eine völlig neue Sprache, Kultur und Religion ausgebreitet hatte, so wird man eine ähnliche anteilige anfängliche Kulturgestaltung der Bandkeramik durch die mesolithischen Jäger und Sammler, von deren Genetik dann zuletzt doch nur noch acht Prozent in der Bevölkerung erhalten blieb, nicht von vornherein verwerfen können.

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  1. Nadezhda Kotova, Alexander Minnich, Jens Lüning, Peter Stadler: Brunn 3 and Schwanfeld. Common features in the ceramics and housebuilding of the earliest Milanovce phase sites in Austria and Germany. Archäologische Informationen 45, Early View, published online 29 July 2022 (Rg), auch https://dguf.de/fileadmin/AI/archinf-ev_kotova-etal.pdf
  2. Erwin Cziesla: Der Nachweis indigener, mesolithischer Bevölkerungsteile in bandkeramischen Siedlungen. In: Wolfram Schier, Jörg Orschiedt, Harald Stäuble, Carmen Liebermann (Hrsg.): Mesolithikum oder Neolithikum? Auf den Spuren später Wildbeuter. Tagungsbeiträge von 2014, 2021
  3. Piličiauskas, G., Simčenka, E., Lidén, K. et al. Strontium isotope analysis reveals prehistoric mobility patterns in the southeastern Baltic area. Archaeol Anthropol Sci 14, 74 (2022). https://doi.org/10.1007/s12520-022-01539-w, Published29 March 2022, https://link.springer.com/article/10.1007/s12520-022-01539-w (Rgt)
  4. Lüning, Jens: Einiges passt, anderes nicht: Archäologischer Wissensstand und Ergebnisse der DNA-Anthropologie zum Frühneolithikum,Archäologische Informationen 37, 2014, 43 -51, Online 16.1.2014 (Acad)