Samstag, 21. Januar 2023

Die antiken Griechen - 22 % Steppengenetik BIS 900 v. Ztr.

Unser Bild zur Entstehung der antik-griechischen Kultur wird noch einmal über den Haufen geworfen
- Noch einmal ist deutlicheres Umdenken gefordert
 
Dort an den Ufern, unter den Bäumen
Ionias, in Ebenen des Kaysters,
Wo Kraniche, des Äthers froh,
Umschlossen sind von fernhindämmernden Bergen,
Dort wart auch ihr, ihr Schönsten! oder pflegtet
Der Inseln, die mit Wein bekränzt,
Voll tönten von Gesang; noch andere wohnten
Am Tayget, am vielgepriesnen Hymettos,
Die blühten zuletzt; doch von
Parnassos Quell bis zu des Tmolos
Goldglänzenden Bächen erklang
Ein ewiges Lied; so rauschten
Damals die Wälder und all
Die Saitenspiele zusamt  
Von himmlischer Milde gerühret.
(aus: Hölderlin / Die Wanderung / 1807)

Seit September 2022 ist klar, daß die antiken Griechen der klassischen Zeit etwa acht Prozent Steppengenetik in sich trugen, ebenso die Thraker, ebenso die Philister (Stgen2022). 

Abb. 1: Die Fundorte der neu untersuchten Menschenfunde mit 22 % Steppen-Genetik aus der Mittleren und Späten Bronzezeit im südlichen Griechenland (G-Maps): Glyka Nera, Aidonia, Mygdalia, Tiryns, Pylos

Mit diesen acht Prozent haben sie sich in der Kolonisationszeit auch über das Mittelmeer bis nach Spanien ausgebreitet. Dieser nur sehr geringe Anteil von acht Prozent Steppengenetik bei sozusagen "dem" Paradvolk der Indogermanen durfte man sehr überraschend finden und auch als sehr bedürftig, daß dieser neuen Forschungsstand dem bisherigen Wissen ein- und zugeordnet würde. 

Damit haben wir uns in ersten Versuchen seither in mehreren Blogartikeln herumgeschlagen (Stgen2022a, b, c, d). Dabei nahmen wir zum Schluß auch auf die Deutung der antik-griechischen Kultur durch den Philosophen und Dichter Friedrich Hölderlin Bezug (Stgen2023), ein Ansatz, den wir ebenfalls noch weiter verfolgen wollen. Denn wir glauben, uns mit diesen Versuchen immer noch nur in den Anfängen der notwendigen neuen Ein- und Zuordnung zu befinden. 

Und mitten in diesem Umdenken überrumpelt uns schon wieder ein neues Forschungsergebnis, nämlich aus dem Januar 2023. Und zwar mit nicht gar so viel weniger Wucht. Zum Steppengenetik-Anteil bei den Griechen ab 2.200 v. Ztr. bis in die mykenische Zeit heißt es da nämlich (s. a. Abb. 2) (1):

Unter den Gruppen des südlichen Festlands beträgt der Steppengenetik-Herkunftsanteil im Durchschnitt 22,3 %. Damit war er beträchtlich niedriger als für Logkas im nördlichen Festland (43 bis 55 %).
Among the groups of the southern mainland, the estimated coefficients of the WES-related ancestry are overlapping (±1 s.e.) and average to 22.3% (Fig. 4a) but were substantially lower than for Logkas in the northern mainland (43–55% ± 4%). 
Daß er für die Gegend um Logkas im nördlichen Griechenland rund um den Olymp um 2.200 v. Ztr. grob um die 50 % betragen hatte, das ist seit August 2021 bekannt und hatten wir auch schon behandelt (Stgen2021).

Der Herkunftsanteil im südlichen Festland Griechenlands ab 2.200 bis 900 v. Ztr. war in der Studie vom letzten Herbst auch schon Thema (Stgen2022). Da deren thematischer Rahmen aber viel weiter war, hatten wir uns bislang noch nicht konkret genug mit den dortigen Angaben beschäftigt. (Das haben wir inzwischen in dem älteren Beitrag ergänzt und entsprechend auch in diesem Beitrag in einem Nachtrag ganz unten.)

Wir hatten ja bislang auch noch geglaubt, annehmen zu dürfen, daß die Ausbreitung der indogermanischen Kultur und Religion in Griechenland auch weitgehend friedlich hätte erfolgt sein können (Stgen2023). Davon wird nun keine Rede mehr sein können. Denn auch die Ausführungen der Archäologen zu den Vorgängen um 2.200 v. Ztr. werden nun plötzlich wesentlich prononcierter. Sie sind sich nun - mit der Archäogenetik - plötzlich ihrer Sache sehr viel sicherer zum Thema "The coming of the greeks", zur Entstehung der antiken Griechen - und schreiben nicht mehr mit so vielen Einschränkungen und "Wenn und aber" (1).

Abb. 2: Der Steppengenetik-Herkunftsanteil in Griechenland, auf den ägäischen Inseln und in Kreta 1800 bis 900 v. Ztr. (aus: 1)

Das alles ist sehr aufsehenerregend. Denn all das heißt, daß die späteren acht Prozent nicht den Anteil repräsentieren, mit dem sich die indogermanische Genetik ursprünglich um 2.200 v. Ztr. in Griechenland und auf den griechischen Inseln ausgebreitet hat. Allerdings während der Bronzezeit nicht - siehe Abb. 2 - auf die Insel Salamis!

Vielleicht ist die Insel Salamis schon ein Hinweis. Es mag nämlich Regionen gegeben haben, in die die Steppengenetik bis um 900 v. Ztr. gar nicht gekommen war. Und in dem überregionalen Austausch nach 900 v. Ztr. mag es zur Verminderung des durchschnittlichen Steppengenetik-Anteils gekommen sein. Jedenfalls ist nun ist eben erklärungsbedürftig, wie es so einheitlich zu jener Verringerung auf acht Prozent gekommen ist, die ab 800 v. Ztr. so weit verbreitet im östlichen Mittelmeerraum sichtbar ist.

Auch in Attika 20 % Steppengenetik!

Auch Menschen des spätbronzezeitlichen Glyka Nera (Wiki) (1400 bis 1325 v. Ztr.), 14 Kilometer östlich der Akropolis von Athen gelegen, sind auf ihre Genetik untersucht worden (1, Anh., S. 41). Es liegt auf der anderen Seite des dazwischen liegenden, über tausend Meter hohen Hymettos (Wiki), der von vielen Dichtern besungenen worden ist (siehe etwa ganz oben von Hölderlin). Diese Menschen weisen einen Steppengenetik-Anteil von über 20 % auf (Abb. 2)!!!

Also war es eine voreilige Annahme in der Studie vom September 2022, die Möglichkeit zu unterstellen, daß sich der Steppengenetik-Anteil in Attika anders entwickelt haben könnte als sonst im südlichen Festlandgriechenland. Die Gräber dieser Menschen zeigen im übrigen - wie auch sonst im südlichen Festland-Griechenland dieser Zeit - kulturelle minoische Einflüsse (1, Anh., S. 41). Es ist das die beginnende Spätbronzezeit, in der man damals in vielen Teilen Europas aufgrund des Bevölkerungswachstums anfing, Terrassierungen anzulegen. Das machten damals die Mykener in Griechenland ebenso wie die keltischen Stämme in Franken (Stgen2021).

Es ist ja auch denkbar, daß mit diesen kulturell minoischen Einflüssen zugleich auch zusätzliche ursprüngliche, einheimische Genetik nach Festland-Griechenland gekommen ist, etwa durch den Sklavenhandel.

Die neue Studie zeigt dann nämlich auch, daß die indogermanische Steppengenetik nach Kreta deutlich später gekommen ist als nach dem südgriechischen Festland, nämlich erst ab dem 17. Jahrhundert v. Ztr. allmählich anwachsend. Die Autoren schreiben (1):

Wir zeigen außerdem, daß diese genetische Signatur in Kreta allmählich mehr vom 17. bis 12. Jahrhundert v. Ztr. auftritt, in einer Zeit, in der sich der Einfluß des Festlands auf die Insel intesiviert hat.
We additionally show that such genetic signatures appeared in Crete gradually from the seventeenth to twelfth centuries bc, a period when the influence of the mainland over the island intensified.

Auch diese neue Erkenntnis macht nun die Archäologen viel sicherer in ihrer Darstellung sowohl des Kulturaustausches zwischen Kreta und dem Festland wie auch in der Darstellung der politischen Wechselverhältnisse zwischen beiden Regionen. 

Viele Verwandtenehen, insbesondere auf den Inseln

Außerdem wird folgender Umstand festgehalten (1):

Die biologische und kulturelle Zusammengehörigkeit innerhalb der Ägäis spiegelt sich auch in dem Umstand wieder, daß Verwandtenehen in einer so großen Häufigkeit wie hier bislang nirgendwo sonst im weltweiten Datenbestand der Archäogenetik gefunden worden sind.
Biological and cultural connectedness within the Aegean is also supported by the finding of consanguineous endogamy practiced at high frequencies, unprecedented in the global ancient DNA record.

Die Forscher stellen Ehen zwischen Cousin und Cousine ersten Grades in der Ägäis bis zur Spätbronzezeit fest für knapp 30 % aller bisher sequenzierten Genome, wobei die Häufigkeit auf den Inseln der Ägäis etwas höher ist als auf dem Festland (MPG, bzw. HeritageDaily):

"Mehr als tausend vorgeschichtliche Genome von unterschiedlichen Teilen der Welt sind inzwischen veröffentlicht worden - aber es scheint, daß es ein solches striktes System von Verwandtenheirat nirgendwo sonst in der vorgeschichtlichen Welt gegeben hat," sagt Eirinin Skourtanioti, der Hauptautor der Studie, der die Analysen leitete. "Das war für uns vollständig überraschend und wirft viele Fragen auf."
Original: "More than a thousand ancient genomes from different regions of the world have now been published, but it seems that such a strict system of kin marriage did not exist anywhere else in the ancient world," says Eirini Skourtanioti, the lead author of the study who conducted the analyses. "This came as a complete surprise to all of us and raises many questions."

Damit ist womöglich auch die Frage aufgeworfen, ob das hohe Begabungsspektrum bei den antiken Griechen durch diese viele Endogamie und durch diese vielen Verwandtenehen gefördert worden ist. Durch eine solche Heiratsweise wird ja Selektion auf die in wenigen Familien vorherrschenden angeborenen Eigenschaften hin gefördert. Auch für die aschkenasischen Juden gibt es Vermutungen und Hinweise, daß starke Endogamie und Verwandtenehen den hohen angeborenen IQ förderte, der dieses Volk weltweit diesbezüglich einzigartig macht zugleich mit einem gehäuften Anteil von Erbkrankheiten. Ähnliches könnte demnach auch für die antiken Griechen gelten. Das stünde, so Mitautor Stockhammer (NYPost) ...

... im Gegensatz zur eurpäischen Bronzezeit, in der Frauen oft hunderte von Kilometern reisten, um zu heiraten.
In contrast to Europe’s Bronze Age, where women would often travel hundreds of miles to wed, Stockhammer noted that there is very little room in Greece to move or grow things. Common crops of the region, such as grapes and olive oil, can take decades to successfully cultivate - thus marriage between family members would ensure the land is kept with future descendants.

In vielen antiken Kulturen des Vorderen Orients spielte der Inzest eine größere Rolle (Wiki), auch etwa in Ägypten oder Persien. Und all dies läßt damit auch Inzest-Schicksale wie das des Königs Ödipus historisch wahrscheinlicher werden als man das sonst hätte annehmen können. Auch können damit manche Ursprungsmythen in den Gesängen des Orpheus, in denen ebenfalls Inzest eine große Rolle spielt (Stgen2022), geschichtlich besser zugeordnet werden.

Der große geschichtliche Überblick

In welchen geschichtlichen Zusammenhängen sich das alles vollzogen hat, wird schon in der Einleitung der neuen Studie in einem hervorragenden Überblick dargestellt, der prononcierter ist als wir das jemals irgendwo gelesen haben, nämlich über die Geschichte des griechischen Festlands und von Kreta für die Zeit ab 3.000 v. Ztr.. Als nächster großer Abschnitt in der Völkergeschichte nach Einführung des Ackerbaus wird nämlich benannt (1):

Während der frühen Bronzezeit (zwischen 3100 und 2.000 v. Ztr.) entstanden komplexe Gesellschaften, charakterisiert durch ausgefeilte Architektur, Metallverarbeitung, Siegel-Systeme und durch die Integration der Ägäis in die Austauschnetzwerke des östlichen Mittelmeerraumes. Während des späten 3. Jahrtausends v. Ztr. erlebte das griechische Festland einen ernsthaften gesellschaftlichen Zusammenbruch (am Ende des Frühhelladikums II) mit bleibenden Auswirkungen bis in die spätere Mittelhelladische Zeit des frühen zweiten Jahrtausends. (...) Kreta hingegen scheint keine vergleichbare Zeit des Niedergangs erlebt zu haben. Mit der Entstehung der ersten Paläste während des 19. Jahrhunderts v. Ztr. in der mittelminoischen Zeit gab es in den Inselgesellschaften einen Wandel, der mit einer bis dahin nie gekannten Verfeinerung sowohl in der Kunst wie in der Architektur wie auch in den sozialen Lebensformen einher ging.
Nur wenige Jahrhunderte später, während der späten Mittleren Bronzezeit (dem Mittleren Helladikum auf dem Festland) entstehen die ersten reich ausgestatteten Schachtgräber der lokalen Eliten im südlichen Festland-Griechenland, die oft minoische Einflüsse wiederspiegeln. Der Wettstreit zwischen den aufsteigenden Eliten während der Schachtgräber-Periode führte zu regionalen Konflikten und kulminierte im Niedergang vieler lokaler Herrschaften auf dem griechischen Festland und möglicherweise in einer ersten Militärexpedition des Festlandes nach Kreta während des 15. Jahrhunderts.  
The next major transformation in Aegean prehistory took place during the Early Bronze Age (EBA; about 3100–2000 bc). Complex societies emerged, characterized by sophisticated architecture, metallurgy, sealing systems and the integration of the Aegean in the Bronze Age Eastern Mediterranean networks of exchange. During the late third millennium bc, the Greek mainland witnessed a severe societal breakdown (at the end of Early Helladic II) with lasting impact until the later Middle Helladic period of the early second millennium. (...) Crete does not seem to have suffered a comparable period of decline. With the emergence of the first palaces during the nineteenth century bc in the Middle Minoan period, the island’s societies transformed into a hitherto unknown sophistication in art, architecture and social practices.
Only a few centuries later, during the late Middle Bronze Age (MBA; Middle Helladic for the mainland), the first rich shaft graves of local elites appeared in southern mainland Greece, often displaying Minoan influences. The competition between rising elites during the Shaft Grave period led to regional conflicts and culminated in the decline of many local dominions on the Greek mainland and possibly a first mainland military expedition to Crete during the fifteenth century. 

Was für ein ungeheuer differenziertes Bild plötzlich. Fachleuten mag dies schon länger so vor Augen gestanden haben. Als weitgehender Laie darf man sich durch und durch überrascht zeigen. Hier wird geradezu "Geschichte" geschrieben von Seiten der Archäologen für weitgehend schriftlose Zeitepochen und Kulturen. An späterer Stelle heißt es dazu ergänzend (1):

Der gesellschaftliche Umbruch, der sich in der Ägäis und auf dem Balkan während des späten 3. Jahrtausends v. Ztr. manifestiert in Form von Siedlungs-Abbruch kann in Beziehung gesetzt werden zu einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen und/oder zu klimatischen Herausforderungen.
The disruption of life that is manifested in the Aegean and the Balkans via settlement dislocation during the late third millenium bc could be related to a breakdown of social structures and/or climatic challenges.

Weiter heißt es in der Einleitung (1):

Am Ende dieses Konfliktes begann die Palast-Zeit (Spätes Helladikum IIIA-B) mit einigen wenigen bedeutenden politischen Zentren in Mykene, Tiryns, Pylos, Athen, Hagios Vasileios in Lakonien, Theben, Orchomenos und Dimini - um nur einige der bedeutendsten zu nennen. Während dieser Zeit intensivierte sich der Einfluß von Festland-Zentren auf Kreta. Und mit der Hilfe von politischen Schlüsselzentren der Palastzeit wie Knossos, Hagia Triada und Chania wurden die Ressourcen auf Kreta systematisch ausgebeutet bis hin zu Außenposten für die Verwaltung von großen Teilen der Insel.
At the end of this conflict, the palatial period (Late Helladic IIIA-B) started with a few eminent polities centred in Mycenae, Tiryns, Pylos, Athens, Hagios Vasileios in Laconia, Thebes, Orchomenos and Dimini - to name only the most prominent ones. During this time, the influence on Crete by mainland centres intensified and Cretan resources were systematically exploited with the help of turning key palatial centres and cities like Knossos, Hagia Triada and Chania into outposts for the administration of large parts of the island.

Was für eine reiche Geschichte hat es in Griechenland gegeben, bevor die uns aufgrund schriftlicher Überlieferungen auch nur ansatzweise bekannte Geschichte des antiken Griechenland überhaupt erst begann! Diesen Umstand kann man sich gar nicht deutlich genug vor Augen führen. Wir können nun 2000 Jahre Geschichte des antik-griechischen Volkes in der Zusammenschau sehen (2.200 bis 200 v. Ztr.)! Daß sich in diesen vielen Jahrhunderten viele Götterkulte ausbreiten konnten, entstehen konnten, viele Heldengeschichten erzählt werden konnten, eben sich die ganze kulturelle Vielfalt hat ausbilden und weiter entwickeln können, die wir im klassischen Griechenland schließlich antreffen - all das wird nun "handgreiflicher" und leichter nachvollziehbar, liegt nicht mehr so im wabernden Dunkel und Nebel der Geschichte wie zuvor.

Abb. 3: Landschaftseindruck von Glyka Nera östlich von Athen - Die Landschaft dort ist heute stark zersiedelt, da sie zum Großraum von Athen gehört (Fotograf: Dimorsitanos, 2008) (Wiki) - (ein weiterer landschaftlicher Überblick hier: John Gasparis)

Damit wird auch deutlich: Die Archäogenetik gibt den Archäologen eine so große Sicherheit in vielen wesentlichen Fragen, die sie zuvor nicht hatten (die jedenfalls dem Laien nicht aufgefallen ist, weil sie sich zu vielem noch zu vorsichtig und vage ausgedrückt hatten).

Kamen die Indogermanen vom Plattensee?

Die Frage, woher der Steppengenetik-Anteil der mittelbronzezeitlichen Griechen ab 2.200 v. Ztr genauer stammt, ist noch ungeklärt. Dazu wird der folgende weit ausgedehnte mögliche Herkunftsraum benannt (1):

Die am besten passenden Modelle (für die Herkunft des Steppengenetik-Anteils) stimmen mit dem frühbronzezeitlichen Serbien, Kroatien und Italien zusammen, während solche mit spätneolithischer-frühbronzezeitlicher westeurasischer Steppengenetik und mit mitteleuropäischer Herkunft (zum Beispiel spätneolithisch-frühbronzezeitliche Schnurkeramik aus Deutschland) ebenso für alle Gruppen passen würde. Deshalb ist es im Moment noch nicht möglich, die Herkunftsregion genauer einzugrenzen.
Models with Serbia (EBA), Croatia (MBA) and Italy (EMBA) were adequate most of the time, while those with ‘W. Eurasian Steppe En-BA’ (En, Eneolithic) or some Central European source (for example, Germany LN-EBA ‘Corded Ware’) were adequate for all groups at the P ≥ 0.01 cutoff. Therefore, at the moment it is not possible to more closely identify the region(s) from where this genetic affinity was derived.

Stammten die zuwanderenden Griechen womöglich tatsächlich aus - - - Ungarn, wo letztes Frühjahr umfangreiche Abwanderungen in der Zeit um 2200 v. Ztr. durch die Archäogenetik festgestellt worden ist (Stgen2022)? Wäre dort das viel gesuchte "Hyperboräa" zu suchen?

Wenn man es sich recht überlegt, muß das sogenannte "dunkle Zeitalter" in der griechischen Geschichte für den Rückgang des Steppengenetik-Anteils von über 20 Prozent auf acht Prozent verantwortlich gemacht werden. Erst dieser Rückgang hat dann womöglich jene sehr entschiedene Kontrastwertung hervor gebracht, die wir schon in früheren Beiträgen unterstellt und umsonnen hatten, um die Grundantriebe der antik-griechische Kultur zu erklären (Stgen2022), zuletzt eben auch mit dem Geschichtsphilosophen Hölderlin (Stgen2023).

Auf den X-Chromosomen der mittel- und spätbronzezeitlichen Griechen fand sich im Durchschnitt ein geringerer Steppengenetik-Anteil als in ihrem übrigen Genom, was darauf hin deutet, daß mehr Männer als Frauen unter den herein strömenden Indogermanen zum nachfolgenden Genpool beigetragen haben. Allerdings gibt die Verteilung der Y-Chromosomen ein anderes Bild (1):

Nur vier von 30 männlichen Individuen nach dem 16. Jahrhundert v. Ztr. trugen (die berühmte) Y-chromosomale Haplogruppe R1b1a1b. Die übrigen zeugen von einer hohen Häufigkeit von den Y-chromosomalen Haplogruppen J und G/G2. Diese gibt es schon im frühholozänen Iran/Kaukasus und bei den anatolischen und europäischen Bauern und sind ebenso sehr verbreitet im kupferzeitlichen Anatolien und in der Levante.
Only four out of the 30 male individuals dating post-sixteenth century bc (LBA and IA) carry the R1b1a1b Y haplogroup. The remaining - as well as the EBA/MBA ones - attest to the high prevalence of Y haplogroups J and G/G2 (39 and 10 out of 59, respectively [....]). These were already present in Early Holocene Iran/Caucasus and among Anatolian and European farmers and very common in the Chalcolithic Anatolia and the Levant as well.

Das Szenario in Griechenland ab 2.200 v. Ztr. unterscheidet sich also sehr deutlich von den Szenarien in Spanien oder in England zur selben Zeit. In Spanien und England starben so gut wie alle vormals dort vorherrschenden männlichen genetischen Linien aus. In Griechenland lebten sie weiter. Die indogermanischen Eroberer wurden also in die Gesellschaften integriert.

Was geschah in den "Dunklen Jahrhunderten"?

Im Haupttext der Studie wird - soweit übersehbar - mit keinem Wort darauf eingegangen, daß der Steppengenetik-Anteil im südlichen Griechenland bis um 900 v. Ztr. 20 % betrug und danach nur noch 7 %. Ein Hinweis auf diesen bedeutenden genetischen Umbruch, der ja erst durch diese Studie sichtbar geworden ist, und eine Charakterisierung desselben - nach möglichen Ursachen und in Bezug auf denkbare Auswirkungen hin - wäre ebenso wichtig wie die Charakterisierung des genetischen Umbruchs um 2200 v. Ztr. in Festland-Griechenland und ab 1700 v. Ztr. auf Kreta.*)

Somit stellt sich die Frage: Was geschah in den "Dunklen Jahrhunderten" (Wiki) populationsgenetisch im östlichen Mittelmeerraum zwischen Thrakien und Levante? Viele Jahrzehnte lang hat die Wissenschaft eine sogenannte "Dorischen Wanderung" (Wiki) angenommen und angenommen, daß mit ihr die Spartaner in die Pelepones gekommen seien. Oft wurde angenommen, daß gerade erst mit dieser Wanderung der Hauptanteil des "Indogermanentums" nach Griechenland kam, der dann die klassische griechische Kultur ausbildete. Aber diese Hypothese galt schon als überholt, bevor diese neuen archäogenetischen Erkenntnisse gewonnen wurden. Und diese neuen archäogenetischen Erkenntnisse sagen zumindest eines: Wenn es eine dorische Wanderung gegeben hat, dann hat sich mit dieser der Steppenteil im südlichen Festlandgriechenland nicht nur nicht erhöht, sondern sogar deutlich verringert. Hier sind also noch viele Fragen offen.

Haben wir es hier mit einem ähnlichen Phänomen zu tun wie am Übergang zwischen dem europäischen Früh- und Mittelneolithikum, als es auch fast überall in Europa zu einem Wiederanstieg der vormals einheimischen Jäger-Sammler-Genetik kam, die sich in Rückzugsräumen, auf den Höhenlagen der Mittelgebirge zum Beispiel noch über Jahrtausende lang hielt, während rundherum schon anatolisch-neolithische Genetik verbreitet war? Man wird sehr gespannt sein dürfen, welche Erklärung die Wissenschaft dafür finden wird. 

Abb. 4: Studie zum Kopf des Ödipus - von Gustave Moreau (1826-1898), um 1860 (Wiki) - Seine Geschichte entstammt einer Lokalsage Thebens. Das Entsetzen über die Ehe mit seiner Mutter oder Stiefmutter könnte auch erst eine Zutat späterer Generationen sein (Wiki)**)

Aber vielleicht ist das Auftauchen dieser neuen Fragestellung eine gute Gelegenheit, einen seit November 2021 im Entwurf vorliegenden Blogartikel hier mit einzufügen. Er behandelt zwar nicht mehr das Kernthema der bisherigen Ausführungen, läßt aber noch einmal den geschichtlichen Rahmen etwas deutlicher hervor treten, der zu diesen Vorgängen vermutlich dazu gedacht werden muß.

"Griechische Sozialgeschichte" (1981)

1981 erschien eine "Griechische Sozialgeschichte", verfaßt von dem aus Innsbruck stammenden Althistoriker Fritz Gschnitzer (1929-2008) (Wiki), der von 1962 bis 1997 an der Universität Heidelberg lehrte. (Wir entdeckten es in der mitten im historischen Zentrum der Stadt Bamberg am Flußufer in einem historischen Gebäude beheimateten Lehrbuchsammlung des Historischen Seminars der Universität Bamberg.) Gschnitzer unterteilte diese Sozialgeschichte in die folgenden vier Hauptabschnitte (2): 

I. Die mykenische Zeit
II. Die homerische Zeit
III. Die archaische Zeit
IV. Die klassische Zeit.

Das wesentliche dieser Unterteilung für uns ist die selbstverständliche Benennung des II. Kapitels als "Die homerische Zeit". Für diese Zeit gibt es fast nur eine einzige Schriftquelle, nämlich die Dichtungen des Homer. Da in dieser Dichtung sehr zuverlässig und auch vom Sachgüter-Bestand her eine Welt geschildert wird, wie sie mehrere Jahrhunderte zuvor bestanden hat, stellt sie keineswegs den Ethos und die Lebensart der Zeit ihrer Niederschrift dar, sondern die der "Dunklen Jahrhunderte" nach 1200 v. Ztr..

Auch Geschnitzer geht noch davon aus, daß es durch die "Dorische Wanderung" noch viele ethnische Verschiebungen gegeben habe (2, S. 24f):

Es war also (...) bis in mykenische Zeit nur ein Teil der griechischen Stämme schon in ihre späteren Sitze eingewandert; andere saßen noch weiter im Norden. (...) Auf der Peloponnes waren die Griechen weit fester eingewurzelt.

Gemeint ist, sie waren "weiter" fest eingewurzelt im Gegensatz zu Kreta. Denn auf Kreta waren sie erst im Laufe der mykenischen Zeit (das ist zugleich die spätminoische Zeit) als Eroberer gekommen. Über die mykenische Zeit lesen wir außerdem (2, S. 23):

So unbestimmt nun auch unsere Vorstellungen von der Ausdehnung der mykenischen Herrschaftsgebiete sein mögen, so viel ist doch deutlich, daß sie erheblich größer waren als die meisten der späteren griechischen Staaten, wie sie uns seit der archaischen Zeit bekannt sind; man vergleiche insbesondere das eine ganz Kreta umfassende Reich mit den zahllosen freien Städten, die seit der homerischen Zeit auf der Insel belegt sind.

Es wird weiterhin zur mykenischen Zeit ausgeführt (2, S. 26):

Die Naturalwirtschaft dominiert: die vielen Bediensteten des Palastes erhalten, soweit sie nicht mit Land versorgt werden, Lebensmittelrationen, nicht etwa Gehälter in Geld (Metallen); auch die Steuern werden in Naturalien entrichtet. Daneben spielt freilich ungemünztes Metall (Edelmetalle und Bronze) als Zahlungsmittel (...) eine ähnliche große Rolle wie im Alten Orient und später bei Homer.

Und weiterhin (2, S. 38):

Die Zunahme der Siedlungsdichte ist nun auch archäologisch gut nachzuweisen: aus der mittelhelladischen Zeit, d. h. aus der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Ztr., sind in Messenien 50 Fundplätze bekannt, aus der späthelladischen (=mykenischen) Zeit dagegen 137.

Dieses Bevölkerungswachstum ist auch gut erkennbar an den weit verbreiteten, spätbronzezeitlichen Terrassierungen (wie oben erwähnt). Und weiter (2, S. 39):

Mitten in diesen Prozeß des Ausbaus und Umbaus einer sich schnell weiter entwickelnden, reichen Kultur und Gesellschaft ist die Völkerwanderung eingebrochen, die in einer Reihe von Katastrophen dem Glanz und schließlich dem Bestand der mykenischen Welt ein Ende bereitet hat.

Und wir lesen weiter (2, S. 51):

Denn von dem umfangreichen Beamtenapparat der mykenischen Paläste hat sich in diese Zeit nichts gehalten.

In diesen Umständen deutet sich jener Kulturwechsel an, der durch den Seevölkersturm um 1200 v. Ztr. stattgehabt haben muß, der aber - offenbar - ganz ohne Einfluß geblieben ist auf die kulturelle Eigenwahrnehmung der Griechen, die einfach nur - weiterhin - glanzvolle Zeiten erlebten. Das mutet zwar widerspruchsvoll an. Aber womöglich liegt gerade in diesem Widerspruch der Reiz dieses Epochenwechsels.

Die "Ilias" stellt also das Erleben der Griechen dar wie es sich ergeben hatte in den Jahrhunderten nach 1200 v. Ztr. aber noch vor der Lebenszeit des Homer, der um 750 v. Ztr. lebte. In der "Ilias" ist aber nicht der leiseste Anklang von Umwälzungen, wie sie um 1200 v. Ztr. stattgehabt haben müssen, zu finden. 

Die freien Gefolgsleute der homerischen Helden - etwa Patroklos als Gefolgsmann des Achill - werden von Gschnitzer als "primitive Anfänge einer Beamtenschaft" gedeutet. Gschnitzer arbeitet auch sonst sehr gut die Unterschiede heraus der homerischen Zeit sowohl zu der Zeit zuvor wie auch zu der Zeit, die ihr folgte. So schreibt er etwa (2, S. 57):

... In anderer Hinsicht erweisen sich unsere homerischen Helden eben doch als Bauern. Die Landwirtschaft ist nicht nur ihre wichtigste Lebensgrundlage, sie arbeiten auch selbst mit. Es ist für den homerischen Helden ebenso selbstverständlich und ehrenvoll, daß er Sichel und Pflug, wie daß er die Waffe zu führen versteht. Ihre Jugend pflegen diese Helden zu einem großen Teil als Hirten (ihrer väterlichen Herden) auf den Bergen zu verbringen; und wenn einer so geschickt und vielseitig ist wie Odysseus, dann kann er sich selbst ein schönes Möbelstück anfertigen, ja im Notfall ein Schiff zimmern. Auch die Frauen dieser Großen arbeiten fleißig mit: (...) besondere Kunstfertigkeit im Weben und Schneidern ist, neben Schönheit und vornehmer Abkunft, der größte Ruhmestitel einer Frau. Die manuelle Arbeit ist also in diesen Kreisen, anders als in den griechischen Oberschichten späterer Zeiten, hoch angesehen.

Wir haben es bei der Epoche, die sich in der "Ilias" wiederspiegelt, grob mit der Zeit 1200 bis 750 v. Ztr. zu tun. Diese Zeit stellte im Vergleich zur mykenischen Palastzeit eine Verfallszeit dar. Sie war aber zugleich - nach dem sehr eindeutigen Zeugnis der "Ilias" - in der Eigenwahrnehmung der Griechen voller Glanz.

Exkurs: Der Königswagen des Gilgamesch - von Mauleseln gezogen

Wie genau mündliche Überlieferung von Epen über viele Jahrhunderte hin sein kann, dafür sei im Vorübergehen noch ein Beispiel aus einem ganz anderen Kulturkreis heran gezogen: Der einzige prächtige, geschmückte Königs-Wagen, der im berühmten, eindrucksvollen, etwa um 800 v. Ztr. nieder geschriebenen - aber nach der Forschung viele Jahrhunderte älteren - babylonischen Gilgamesch-Epos (Wiki) erwähnt wird, ist ein Wagen, der von Mauleseln gezogen wird (Text)!***) Und doch ist er bestimmt für den "Held der Helden", für Gilgamesch. Dies zeigt, daß die bronzezeitliche babylonische Kultur des Zweistromlandes ursprünglich eine ganz andere Kriegstechnik kannte. Vielleicht ist auch an diesem Umstand ablesbar, wie alt das Epos sein muß und wie zuverlässig sein Inhalt - schriftlich - überliefert worden ist. Zugleich ist zu erfahren (Wiki):

Wurden von den Sumerern im 3. Jahrtausend v. Chr. noch schwere zwei- oder vierrädrige Wagen mit Scheibenrädern eingesetzt, so wurden ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. zweirädrige Streitwagen mit Speichenrädern genutzt. Sie waren bis etwa zum 5. Jahrhundert v. Chr. allgemein verbreitet.

Auch dies wird man als einen Hinweis darauf gelten lassen dürfen, daß das Gilgamesch-Epos deutlich älter ist als die Ilias, nämlich daß es - wohlgemerkt: in präziser schriftlicher Überlieferung - aus dem 3. Jahrtausend v. Ztr. überliefert worden ist. Der von Pferden gezogene Streitwagen kam erst ab 1700 v. Ztr. mit den Hyksos nach Ägypten und mit den Mittanni nach Sumer (Wiki). 

Abb. 5: Kampfszene auf einem Siegelstein aus dem Grab des Greifenkriegers (Wiki) bei Pylos in Westgriechenland, 2015 entdeckt (1450 v. Ztr.). Der Siegelstein ist nur 3,4-Zentimeter lang. Die ganze Szene wirkt in einem außergewöhnlich faszinierenden Maße "modern", geradezu Jugendstil-mäßig (oder ähnlich)

Soweit unser Entwurf von 2021. 

Aber auch mit diesen Ausführungen haben wir noch so gut wie gar nichts darüber verstanden, warum vor 1200 v. Ztr. - auch in Attika - ein Steppengenetik-Anteil von 22 Prozent vorgeherrscht hat und sich die Griechen ab 700 v. Ztr. nur noch mit acht Prozent Steppenanteil über den Mittelmeer-Raum ausgebreitet haben. 

Sollten die "Seevölker" tatsächlich aus Mitteleuropa oder gar aus Nordeuropa stammen, wofür wir hier auf dem Blog den einen oder anderen Hinweis zusammen getragen haben (zuletzt: Stgen2019), so hätten sie überraschend wenig von ihrem höheren Steppengenetik-Anteil im östlichen Mittelmeer-Raum zurück gelassen. Viel mehr hätten gerade sie zu seiner Verminderung beigetragen. Da hätten dann Laienforscher wie Jürgen Spanuth (1907-1998) (Wiki) dann doch einmal Anlaß, droben im Himmel mancherlei ihrer Sichtweisen differenzierter zu fassen (um uns zurückhaltend auszudrücken).

Es ist also alles noch sehr stark im Fluß und man wird auf weitere Erkenntnisse in näherer Zukunft gespannt bleiben dürfen.

Unterschiedliche Heiratskreise im mykenischen Griechenland?

Nachtrag 25.1.23: In unserem Beitrag von vor vier Monanten haben wir eine genauere Auseinandersetzung mit den mykenischen Griechen inzwischen nachgetragen (Stgen2022). Die Kernsätze dort lauten nun (nach den Angaben in der dort behandelten "Southern Arc"-Studie): Acht Menschenfunde aus mykenischer Zeit im südlichen Griechenland weisen 20 % Steppengenetik oder mehr auf, noch mal acht weisen 10 bis 15 % Steppengenetik auf. Und eine ähnliche Zahl weist null Prozent Steppengenetik auf. Die ursprünglich in Griechenland einheimische Bevölkerung, zum Beispiel die Pelasger, lebten also womöglich in Teilen auch noch in mykenischer Zeit unvermischt weiter. So wie es ja auch in Sparta und Messenien noch lange Bevölkerungsteile gab, die ausdrücklich keine Spartaner waren, zum Beispiel die Heloten.

Aber auch gar zu einfach gestrickte Aufteilung unterschiedlicher Herkunft auf soziale Schichten findet sich im mykenischen Griechenland nicht. Aber wenn bei den mykenischen Griechen - wie wir in diesem Beitrag oben gesehen haben - ein hoher Anteil der Ehen Verwandtenehen war, dann wird man vielleicht annehmen können, daß bestimmte genetische Herkunft (Steppen-Herkunft oder Abwesenheit derselben) auf bestimmte Familien, Heiratskreise beschränkt blieb, ohne daß damit eine soziale Schichtung hätte verbunden sein müssen (Stgen2022). 

Philipp Stockhammer stellt sich in Harvard der Diskussion

Weiterer Nachtrag 25.1.23: Philipp Stockhammer, einer der Autoren der Studie, referierte im November 2022 an der Harvard-Universität in Boston Teile der Forschungsergebnisse der hier behandelten neuen Studie. Im Publikum saßen David Reich und viele seiner Mitarbeiter, die am Ende des Vortrages eine außerordentlich spannende Diskussion mit Stockhammer führten.


Im Anschluß an das Thema Verwandten-Ehen referierte Stockhammer auch Inhalte (4; ab 32'14), die womöglich noch gar nicht veröffentlicht sind, die man aber mindestens ebenso super spannend finden kann. Nämlich Erkenntnisse aus einem Familien-Schachtgrab in Nea Styra auf Euböa aus dem Frühhelladikum II um 2.700 v. Ztr.. Und zwar über die Vorgänge, die womöglich auch dazu führten, daß sonst im Mittelmeer-Raum - etwa auf Sardinien - eine ausländische Elite die einheimische Bevölkerung unterwarf (s. Stgen2021). Womöglich ist Ähnliches auch in Griechenland geschehen, wie hier deutlich wird.

Zwei Menschen sind in diesem Grab begraben, die die traditionelle ägäisch-neolithische Herkunft in sich tragen. Drei Menschen sind in demselben Grab begraben, die eine andere Herkunft in sich tragen, nämlich eine solche anatolisch-kupferzeitlich-bronzezeitlicher genetischer Signatur. Sie haben keine genetische Herkunft aus der Ägäis. Alle Menschen stammen nach der Radiocarbon-Datierung aus derselben Zeitstufe. Das paßt zu archäologischen Annahmen über das Hereinkommen von neuen Technologien (schnell drehende Töpferscheibe) und von Menschen von Anatolien oder Levante aus in die Ägäis und in den Mittelmeerraum hinein während der Frühbronzezeit.

Danach (ab Minute 35'00) referiert Stockhammer die Eroberung Kretas durch die Festland-Griechen in der Zeit um 1600 v. Ztr., wobei er noch einmal deutlicher heraus stellt, daß die Festland-Griechen sich vor allem in den damaligen "Ballungszentren" angesiedelt haben, während die ursprünglich einheimische Bevölkerung in abgelegeneren Siedlungsräumen weitgehend unvermischt weiter lebte.

Womöglich ist die anschließende Diskussion noch spannender als der Vortrag selbst. In ihr werden viele neue Fragen aufgeworfen und Einsichten vermittelt. Etwa daß erste Daten darauf hinweisen, daß sich in der Frühbronzezeit sowohl Gruppen aus Anatolien wie aus der Levante im Mittelmeerraum ausbreiteten. Und noch mehr die Vermutung, daß ab 1300 v. Ztr. das Steppen-Signal auf Kreta so stark ist, daß es womöglich nicht allein mit dem Hereinkommen von Festland-Griechen erklärt werden kann, sondern daß ggfs. auf das Hereinkommen von Menschen aus Süditalien oder gar aus dem Balkan nach Kreta, womöglich also der Seevölker (!). 

Die Tatsache, daß sich David Reich am Anfang der Diskussion zu der Verwandtenehen-Thematik so engagiert eingebracht hat, zeigt, daß ihn dieses Thema brennend interessiert. Und dafür gibt es wahrlich viele gute Gründe, von denen wir einige oben schon genannt haben. Er sagt, daß es eine so hohe Dichte von Verwandtenehen sehr wohl auch in anderen kulturellen Zusammenhängen gab oder gibt, etwa im antiken Peru. Ob das wirklich vergleichbar ist, wird sicher in künftigen Forschungen noch genauer heraus gebracht werden. 

Das ganze Video ist also hochgradig zu empfehlen (4). Und man muß den Machern sehr dankbar sein. So geht Wissenschaft. So geht Wissenschaftsvermittlung.

Nachtrag 28.1.23: Das Szenario der Ankunft der indogermanischen Glockenbecher-Leute auf Sardinien ist ja übrigens schon außerordentlich detailliert charakterisiert worden (s. Stgen2021). Womöglich können mancherlei Aspekte des dortigen Szenario's in Parallele gesetzt werden zur Ankunft der Indogermanen in Griechenland.

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*) Aber man muß bedenken, daß diese Studie schon im Mai 2022 zum Review-Verfahren eingereicht wurde, also womöglich noch gar nicht auf die Erkenntnisse jener Studie reagieren konnte, die im September 2022 veröffentlicht worden ist. Haben die Forscher ihre Preprints nicht untereinander ausgetauscht? Vermutlich nicht, denn sonst hätte es ja nahegelegen, beide Studien zu einer zusammen zu fassen oder zumindest auf die Erkenntnisse der jeweils anderen zu reagieren. Womöglich spielt hier auch wissenschaftliche Konkurrenz eine Rolle. Es würde sich dann um Konkurrenz handeln zwischen Harvard und Jena, zwischen der Gruppe um David Reich und der Gruppe um Johannes Krause, von denen doch sonst bekannt ist, daß sie oft eng zusammengearbeitet haben.
**) Nach einer Lokalsage Thebens hat der nachmalige König Ödipus von Theben unwissentlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet. Gemeinsam hatten sie die Kinder Antigone, Eteokles, Polyneikes und Ismene. In unterschiedlichen Überlieferungen werden unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse genannt. Die am häufigsten tradierte Version stammt erst von Sophokles aus der Zeit zwischen 442 und 402 v. Ztr. (Wiki): "Keiner seiner Helden ist schuldlos, und doch trifft sie ein ungerechtes Strafmaß, so daß sie Mitleid verdienen. (...) Sophokles erzielt die psychologische Wirkung seiner Stücke durch die unverhältnismäßige Vergeltung von Fehltaten (...) durch ein Übermaß an Leiden."
***) Hierbei wäre zu prüfen, ob es sich nicht um jene Kunga-Streitesel gehandelt hat, die wir hier auf dem Blog schon behandelt hatten, nachdem sie von der Forschung als eigene Domestikations-Erscheinung erkannt worden sind.

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  1. Skourtanioti, E., Ringbauer, H., Gnecchi Ruscone, G.A. et al. Ancient DNA reveals admixture history and endogamy in the prehistoric Aegean. Nat Ecol Evol (2023). https://doi.org/10.1038/s41559-022-01952-3, 16.1.2023, https://www.nature.com/articles/s41559-022-01952-3
  2. Gschnitzer, Fritz: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. 2. Aufl. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 (EA: 1981)
  3. Zeit der Helden. Die "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands 1200-700 v. Chr.. Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Offizieller Katalog zur Ausstellung im Schloß Karlsruhe 2008/09, Primus 2008
  4. Stockhammer, Philipp (Max Planck-Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean [MHAAM]): Family, Foods, & Health in Bronze Age Greece, Harvard University, 28.11.2022, https://youtu.be/GTqGXZksFZw.

Montag, 9. Januar 2023

Hölderlin in Bordeaux

"Die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter annehmen"
- Hölderlin verstehen, heißt, die Aufgaben der Deutschen in der Zukunft verstehen

... Dort an der luftigen Spitz 
An Traubenbergen, wo herab 
Die Dordogne kommt, 
Und zusammen mit der prächtgen 
Garonne meerbreit 
Ausgehet der Strom. ..
(Hölderlin / Andenken )

Gewidmet dem Gedenken an Dieter Henrich, 
gestorben am 17. Dezember 2022 in München.*)

Nach Hölderlin lautet die große Frage: Wie lernen wir, "das Eigene frei zu gebrauchen"? Bis heute haben wir Deutschen, wir Abendländer unser Eigenes nie wirklich "frei gebraucht". Und das heißt: Unsere Aufgabe in der Weltgeschichte ist noch gar nicht erfüllt, harrt noch der Erfüllung.

Der Friedenschluß von Luneville zwischen Frankreich und Österreich im Jahr 1801 beendete die Revolutionskriege.

Abb. 1: Ein typisches Weingut in der Nähe von Bordeaux (50 Kilometer nordöstlich davon) (Wiki)

Im tiefsten Winter der Jahreswende von 1801/1802 reist der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) von Straßburg über Lyon, durch das Zentralmassiv nach Bordeaux im Südwesten Frankreichs, nahe der dortigen Atlantikküste.

Parallel zu dieser Reise, vor ihrem Antritt und nach seiner Rückkehr entwirft Hölderlin in zwei Briefen an seinen Freund Böhlendorf die Aufgaben der Deutschen und des Abendlandes für die Zukunft, Aufgaben, die die Deutschen und das Abendland 220 Jahre später immer noch nicht ins Auge gefaßt haben und angegangen sind. ... Sie waren zwischenzeitlich mit "dürftigerer" Kost zufrieden.

Hölderlin sagt in diesen Briefen, daß uns Abendländern Klarheit und Nüchternheit als Begabung angeboren sind, während dem "südlichen Menschen", insbesondere den antiken Griechen Leidenschaft und Pathos als Begabung angeboren wären. Aus diesem Gegensatz heraus erklärt er die Aufgaben der Deutschen in der Zukunft. Und da er dem "südlichen Menschen" - wie er ihn versteht - in Bordeaux im Südwesten Frankreichs unter einem ihm ganz anderen Himmel erlebt, stehen seine diesbezüglichen Worte immer zugleich auch in Zusammenhang mit dieser Reise.

Das Gedicht "Andenken", das letzte Gedicht, das Hölderlin selbst noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, enthält Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Bordeaux im März 1802.

In dem noch zu zitierenden Brief sagt er weiterhin, daß es für eine Kultur nichts Schwereres gibt, als das Eigene, Angeborene "frei zu gebrauchen". Wir Deutschen und Abendländer sind diese Aufgabe noch nicht angegangen. Diese Aufgabe ergibt sich daraus, daß jeder Kultur das Eigene, das Angeborene zu sehr Gewohnheit ist und ihr das Leben des Eigenen zu leicht fällt, also daraus, daß ihr das Leben des Eigenen zu selbstverständlich ist. Wir Deutschen und Abendländer haben also, so Hölderlin, unser Eigenes viel zu selbstverständlich gelebt, haben es nie genügend infrage gestellt und mit etwas "ganz anderem" konfrontiert. Für Hölderlin gilt aber, was auch sein Zeitgenosse Goethe in Worte faßte, nämlich:

"Was du ererbt von deinen Vätern - erwirb es, um es zu besitzen."

Dieses Erwerben des Eigenen ist nach Hölderlin jedoch nicht leicht, sondern vielmehr das Gegenteil: das Schwerste. Und dieses Erwerben des Eigenen gelingt nach Hölderlin einer Kultur und einem in dieser Kultur lebenden Künstler erst dadurch, daß er eine "fremde Natur annimmt" und sich dieser "mitteilt".

Abb. 2: Der Hafen von Bordeaux, gemalt von Joseph Vernet, 1759

Merkwürdig genug, daß solche Gedanken in deutschen Landen über 220 Jahre hinweg so selten erörtert worden sind, obwohl doch die ernsthafte Beschäftigung mit Hölderlin schon vor mehr als hundert Jahren in Deutschland und Europa begonnen hat.

Aber Hölderlin hat eben eine Tiefe, aus der heraus sich erst nach und nach immer mehr von dem entfaltet, was in seinem Dichten und Denken alles beschlossen lag und liegt. (Womöglich könnte das in Parallele gesetzt werden zum Grundgedanken der Inhärenz, den der Evolutionsforscher Simon Conway Morris in der biologischen Evolution auf der Erde und in der Kosmologie ebenfalls verwirklicht sieht: Stgen2016, Stgen2017.)

Um sich diesem ungewöhnlichen Gedanken anzunähern, ist es aber sicher sinnvoll, daran zu erinnern, daß das ein Gedanke ist, der sich auch schon in der bedeutenden philosophischen Schrift von Friedrich Schiller "Die ästhetischen Erziehung des Menschen" (Wiki) aus dem Jahr 1795 findet, wo auch von dem Künstler gefordert wird, eine fremde Natur anzunehmen. Durch das Humboldtsche Bildungsideal im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts ist das Bewußtsein in den Hintergrund getreten, daß antik-griechische Kultur etwas "Fremdes" sein könnte. Erst mit der Germanen-Verehrung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hätte das Bewußtsein dafür wieder wachsen können. Sie war aber wiederum oft so bigott-engstirnig, daß sie sich selten genug durch Hölderlin belehren ließ, daß das Eigene nur dann "frei" gebraucht würde werden können, wenn es sich mit dem Fremden konfrontierte. Es hat bezüglich solcher Gedanken derartige schmähliche "Niederungen" während des Elends des 20. Jahrhunderts gegeben**), daß ein solcher Gedanke erst nach und nach wieder in der Gegenwart Gestalt gewinnen könnte. Schiller jedenfalls schrieb da 1795:

"Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbniß der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen."

Wer mit der Milch eines besseren Zeitalters, dem der antiken Griechen, aufgewachsen ist, kehrt "fremd" in sein eigenes Zeitalter zurück, sagt Schiller. Bei Schiller kommt der Künstler durch diese Fremdheit zum Eigenen. 

Abb. 3: "Das Wilde, Kriegerische, das rein Männliche" des "südlichen Menschen" - Henri de La Rochejaquelein (1772-1794), der bedeutendste Anführer des Aufstandes in der Vendée, gemalt von Pierre-Narcisse Guérin (1817)

Hölderlin denkt diesen Gedanken aber nun noch deutlich weiter. Er will über die antiken Griechen hinweg zurück zu den Deutschen kommen und zu ihrer eigenen, besonderen Rolle in der Weltgeschichte. Diese kann nicht - wie dies bei Schiller noch dunkel anklingt - nur in der Nachahmung der antiken Griechen bestehen. Dennoch aber lernen die Deutschen erst in der Begegnung mit der "fremden", antik-griechischen Kultur ihr Nationales, Eigenes, ihre eigene besondere Begabung "frei zu gebrauchen". So Hölderlin. Und das ist - für ihn, Hölderlin - das Ziel aller Kunstausübung, ist für ihn der Ausdruck höchster Kultur.

Während des Jahres 1802 weilte Hölderlin also wie gesagt im südlichen Frankreich. Von dort zurückgekehrt, schrieb er im November 1802 aus Nürtingen an seinen Freund Böhlendorf über die "südliche Menschen", denen er dort begegnet sei, und die ihn "mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter" gemacht hätten:

"Ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten.
Dies bestimmte ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen, darum haben sie ihr Eigentümlichindividuelles, das lebendig erscheint, sofern der höchste Verstand im griechischen Sinne Reflexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir den heroischen Körper der Griechen begreifen; sie ist Zärtlichkeit, wie unsere Popularität."

"Ihre Popularität", ihre "Volkseigentümlichkeit" also ist "Zärtlichkeit" - so wie die unsere, so wie die von uns Abendländern. Wer hätte das sagen dürfen außer Hölderlin? Niemand. Niemand. Wie weit ist Hölderlin seiner Zeit voraus. Wie unendlich weit. Wie sehr sieht er voraus, daß wir, wir herzlosen, nüchternen Abendländer die Aufgabe haben, in diese Zärtlichkeit hinein zu kommen, in die uns eigene Volkseigentümlichkeit. 

Natürlich, Hölderlin schrieb im Zeitalter der Empfindsamkeit und konnte deshalb eine Eigenschaft wie "Zärtlichkeit" als "Charakter unserer Kultur", also seiner damaligen viel leichter begreifen als wir heute. Eine solche Kennzeichnung unserer heutigen Kultur würde natürlich einigermaßen bizarr anmuten - in der kulturellen Verrohung unserer Zeit. Man bedenke aber, daß sich das "Zeitalter der Empfindsamkeit" als so empfindsam nicht empfunden hat. Daß es sich vor allem gegen die Rohheit und Barbarei all der Jahrhunderte vom Mittelalter an, aufgelehnt hat, gewehrt hat und sich noch lange nicht vollständig von ihr losgerissen hatte. (Wie der weitere Geschichtsablauf ja auch zur Genüge zeigt ...)

Mit solchen Worten knüpfte Hölderlin an Gedanken an, die er schon ein Jahr zuvor, eine Woche vor seiner Abreise nach Südfrankreich, am 4. Dezember 1801 an Böhlendorf geschrieben hatte:

"Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen werden diese eher in schöner Leidenschaft (…) als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgabe zu übertreffen sein.
Es klingt paradox. Aber ich behaupte es noch einmal und stelle es Deiner Prüfung und Deinem Gebrauche frei: das eigentlich Nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen.
Bei uns ist's umgekehrt. Deswegen ist's auch so gefährlich, sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren. Ich habe lange daran laboriert und weiß nun, daß außer dem, was bei  den Griechen und uns das Höchste sein muß, nämlich dem lebendigen Verhältnis und Geschick, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen.
Aber das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das Schwerste ist."

Hölderlin will die antiken Griechen also "in schöner Leidenschaft" übertreffen. Wer sich klar macht, wie hoch Hölderlin über das Pathos und die "Leidenschaft" der antiken Griechen gedacht hat, der erst kann nachvollziehen, was für einen Anspruch Hölderlin hier formuliert, was für eine Art "Bildungsprogramm", "Kunstprogramm", was für eine Art künftige künstlerische Ausrichtung er hier für die Deutschen formuliert. 

Abb. 4: "An der luftigen Spitz" - Bec d'Ambès (Wiki) - Der Zusammenfluß von Dordogne (vorn) und Garonne (hinten) zur Gironde, von einem Rebhügel am rechten Ufer der Dordogne aus gesehen - Auf dem linken Ufer der Garonne hinten links vom Bildrand liegt Bordeaux - Nach rechts hin strömt die Gironde dem Atlantische Ozean zu (Wiki)

Hölderlin fordert von den Deutschen, was er in umgekehrter Weise Homer als Leistung zuspricht: Homer hat die südliche, griechische angeborene Begabung für Pathos und Leidenschaft "gebändigt" durch "junonische Nüchternheit" und dadurch er hat er sein Kunstwerk zu den Göttern erhoben. ("Junonisch" ist abgeleitet von der römischen Göttin Juno, der Gattin des Jupiter. Juno ist in der Antike die griechische Göttin Hera parallel gesetzt worden, der Gattin des Zeus.)

Umgekehrt muß nun aber der Deutsche und der Abendländer seine angeborene Nüchternheit und Klarheit erst durch die Leidenschaft und den Pathos in - für ihn, den "nüchternen" Abendländer exzentrischer Weise - zu den Göttern empor heben und schafft erst dadurch jenes Kunstwerk, in dem das ihm Eigene in vollendetstem Maße zum Ausdruck kommt und durch den es zu den Göttern empor gehoben wird.*****)

Wo fanden die antiken Griechen die ihnen fremde "junonische Nüchternheit"? - Antwort: In der indogermanischen Religion und Kultur

Für uns finden diese Gedanken gleich eine Fortsetzung und so sei dies gleich an dieser Stelle eingeschoben: Worin fanden denn dann die antiken Griechen die ihnen fremde - aber notwendige - "junonische Nüchternheit"? Das Abendland war damals doch noch kaum in ihren Gesichtskreis getreten, hatte sich ja selber noch kaum gefunden (wozu als erstes Schriftkultur notwendig wäre). Selbst von der römischen Göttin Juno dürften sie vergleichsweise wenig erfahren haben. Und was an östlichen oder orientalischen Einflüssen zu ihnen kam, trug viel eher fast immer "dionysischen Charakter", verstärkte also den ihnen eigenen Charakter des Leidenschaftlichen und Feurigen und Ungebändigten. 

Nun, heute wissen wir es durch die Archäogenetik: die antiken Griechen waren von ihrer Herkunft her zu größten Teilen zwar durchaus "südliche", "mediterrane Menschen", mit - angenommenerweise - dementsprechender auch südlicher Begabung zu Pathos, Leidenschaft und Extase. Sie wurden dann aber - ab 2.200 v. Ztr. - Menschen, die eine Sprache, Religion und Kultur aus dem Norden, von einer stärker indogermanisch beeinflußten Kultur her angenommen haben. (Nach ihrer Überlieferung: von den Hyperboräern [s. Stgen2023].) Durch diese also vor allem kam "junonische Nüchternheit" zu ihnen. Die indogermanische "junonisch-nüchterne" Kultur bändigte die ungezügelten Leidenschaften des südlichen Menschen in gerade ausreichendem Maße und schuf so das klassische Griechenland, das bis in seine Endzeit hinein im Spannungsfeld dieser beiden von Hölderlin benannten Tendenzen steht und daraus seine kulturschöpferischen Kräfte gewinnt. 

Abb. 5: Lormont, am rechten Ufer der Garonne, gegenüber von Bordeaux (Postkarte)

Dies ist ein Interpretationsrahmen, den wir sehr spannend finden, und der uns sehr gut zu den neuesten Erkenntnissen der Archäogenetik zu passen scheint, die ja nach einem solchen neuen Interpretationsrahmen auch geradezu "schreien" und der durch sie zugleich - erstmals - vollste Bekräftigung erhält. 

Womöglich wird man sogar sagen können, daß der Interpretationsrahmen Hölderlins erst durch die neuesten Erkenntnisse der Archäogenetik seine volle Schlagkraft und Treffsicherheit beweist. Oder noch genauer: Dieser Interpretationsrahmen Hölderlins konnte vor den Erkenntnissen der Archäogenetik längst nicht so viel Zugkraft gewinnen, brachte längst nicht so viel Überzeugungskraft mit sich. Denn bis zum Jahr 2022 wäre es ja viel schwerer gewesen, die Menschen davon zu überzeugen, daß uns die antiken Griechen viel "fremder" sind als das den meisten Denkenden wirklich bewußt war. 

Davon kann sich auch der Verfasser dieser Zeilen nicht ausnehmen. Er hatte immer gedacht, die antiken Griechen wären vornehmlich "blonde Indogermanen" gewesen. Aber das stimmt ja nun gar nicht. Das stellte nur ein gewisses kulturelles Ideal dar, war keine gelebte Wirklichkeit.

Die Antigone-Übersetzung Hölderlins

Um seiner genannten Einsichten und Erfahrungen willen hat Hölderlin dann auch seine "Antigone" so ungewöhnlich exzentrisch übersetzt, daß die Zeitgenossen davon ganz abgestoßen waren und die Übersetzung schon für Zeichen von Verrücktheit angesehen haben. Aber Hölderlin hatte es ja nicht für antike Griechen übesetzt. Sie brauchten eine solche Exzentrizität ja nicht, sie lag ihnen ja sowieso schon im Blut. Deren Leidenschaft war ja gerade durch die Nüchternheit der Dichtung der "Antigone" "schön" gebändigt. Aber Hölderlin sah, daß die Deutschen allein durch solche Nüchternheit, durch die sich die antiken Griechen "bändigten", dem Gehalt solcher antiken Tragödien gar nicht wirklich nahe kamen, weil sie viel zu leicht bei sich blieben, beim Eigenen blieben in der Rezeption dieser Tragödie, viel zu sehr in ihrer Nüchternheit blieben. In seinen "Anmerkungen zur Antigone" schreibt er über die "griechischen Vorstellungen":

"Ihre Haupttendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, dahingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, Geschick zu haben, da das Schicksallose (...) unsere Schwäche ist."

Mit Schicksalslosigkeit spielt Hölderlin zugleich auf die Leidenschaftslosigkeit des "Ancient regime" und des ihm vorausgehenden christlich-bigotten Mittelalters an. (Leidenschaftslos zumindest in Vergleich mit der griechischen Antike.) Etwas anderes hatten Menschen in Europa bis dahin nicht kennen gelernt. Das wirklich Große und Heroische, zu dem der Abendländer als Schicksal fähig ist, war damals noch lange nicht in die Welt getreten. Das geschah erst im 20. Jahrhundert, unter anderem mit dem - durch Hölderlins Denken (über Hegel) angestoßenen - Marxismus, unter anderem mit Friedrich Nietzsche. Und nachdem dieses 20. Jahrhundert vorbei ist, und sicherlich kein Abendländer mehr wird sagen können, daß das Schicksallose für sich genommen unsere Schwäche wäre, wissen wir: Schicksal genug hatten wir inzwischen, Schicksal genug, Abgründe genug. Wir Deutschen, die Völker des Erdballs insgesamt in den letzten hundert Jahren. Mehr als genug ..... 

Im November 1802 faßt Hölderlin am Ende seines Briefes an Böhlendorf seine diesbezüglichen Gedanken noch einmal prägnant zusammen:

"Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Charakter nehmen und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen."

"Nicht aufkommen", weil das ja, wie Hölderlin schon sagte, das Schwerste ist, weil sich die abendländische Kultur nun diesem Schwersten gegenüber sieht und von dem hier zu erobernden "Feuer des Himmels" im ersten Anblick nieder gedrückt wird. 

Abb. 6: Blick vom Schloßturm Lormont (Wiki) flußabwärts auf die Garonne, bei Bordeaux

Hölderlin will also insgesamt sagen: Wir Deutschen und Abendländer sind zu "gefaßt". Unsere Aufgabe ist es nicht, "um Fassung zu ringen" (wie bei den Griechen), sondern umgekehrt, aus zu viel "Fassung" herauszutreten, exzentrisch, ungebändigt, "fassungslos" dem Äther nahe zu kommen - und dabei dann das Besondere, Einzigartige zu "treffen", punktgenau, "buchstabengetreu" - ganz so wie dies in seinen späten Dichtungen und Übersetzungen in einem ersten Ansatz geschieht. Mit diesen hat Hölderlin uns und unserer Kultur die ersten Schneisen gelegt, begonnen, die Wege zu bahnen. Soweit übersehbar, hat er das weit und breit als einziger seines Jahrhundert und auch noch unseres Jahrhunderts getan. Am 28. September 1803 sollte er die Antigone-Übersetzung an Wilmans senden und dazu schreiben:

"Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herumbeholfen hat, dadurch lebendiger als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verleugnet hat, mehr heraushebe und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere."

Was für Worte: "Das Orientalische, das sie verleugnet hat". Ja, mit der Archäogenetik verstehen wir viel viel klarer, wovon Hölderlin hier spricht.

In welchem Verhältnis steht Nietzsche zu diesen Entwürfen Hölderlins?

Es wäre übrigens auch noch einmal zu überprüfen, in welchem Verhältnis Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Wiki) der Sache nach etwas zum Verständnis Hölderlins beigetragen hätte oder dessen Gedanken weiter geführt hätte. In dieser Schrift setzt er dem in sich sicheren und klaren (indogermanischen) "Apollinischen" das exzentrische und ungezügelte, frei schweifende (südlich-orientalische) "Dionysische" entgegen.

Diese Entgegensetzung ist erstmals von dem Hölderlin-Jugendfreund F. W. J. Schelling formuliert worden (Wiki), also dürfte wohl doch auch der Grundgedanke von Nietzsche in letzter Instanz auf Hölderlin zurück gehen, von dem seine Jugendfreunde Schelling und Hegel durch die besten philosohischen Ideen beschenkt worden sind. (Winckelmann und Schlegel werden allerdings auch als solche bezeichnet, die diesen Gegensatz schon umsonnen haben.) Wie wir oben aber schon gelesen haben, hat Hölderlin selbst das nicht so formelhaft begriffen. Läßt er doch den Homer 

"die abendländische junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich erbeuten".

Nach diesem Zitat steht Apollon eher auf der Seite des Dionysischen. Und das dürfte auch historisch richtiger sein, schließlich ist Apoll kein ursprünglich indogermanischer Gott, sondern war ebenfalls ursprünglich ein orientalischer Orakel-Gott (siehe letzter Beitrag). Auch hier wieder würden wir (wie so oft) sehen, daß Hölderlin "treffsicherer" war als seine Freunde.

Daß Nietzsche mit seinem "Zarathustra" dann ansatzweise durchaus etwas im Sinne der Forderungen Hölderlins geleistet hat, wird man nur wenig bezweifeln wollen. Von Hölderlin aus gesehen, wären das aber nur erste, marginale Anfänge der von ihm vorausgesehenen künftigen Kulturentwicklung. (Wobei Nietzsche auch viel zu viel Anlaß zur Mißdeutung und zum Mißbrauch gegeben hat - mit seinem Sozialdarwinismus und seinem "Willen zur Macht".)

Wir möchten außerdem bemerken, daß die Auseinandersetzungen mit der orphischen Weltauffassung (Wiki) uns Abendländer aus unserer Gesetztheit und Nüchternheit heraus reißen kann, und daß überall, wo Bezug genommen wurde auf Orpheus, sicherlich wichtige Schritte unternommen wurden (durch R. M. Rilke etwa).

Peter Szondi - "Dem eigenen Ursprung als einem fremden begegnen"

All diese Hölderlin'schen Gedanken hat der Hölderlin-Forscher ungarisch-jüdischer Herkunft Peter Szondi (1929-1971) (Wiki) schon 1967 in die Formel gefaßt (zit. n. Wiki),

"dem eigenen Ursprung als einem fremden (zu) begegnen".

Wir sind uns nicht ganz sicher, ob diese Formel nicht zu Mißverständnissen verleiten könnte. Wir sehen nicht, daß Hölderlin es so gemeint hatte.

Wir stießen auf diese Worte auf Wikipedia in dem Abschnitt über die Wirkungsgeschichte von Johann Joachim Winckelmann. Da wird darauf hingewiesen, daß Hölderlin die bloße Nachahmung der Griechen - die von Winckelmann gefordert worden war - in der späteren Phase seines Schaffens ablehnte. 

Abb. 7: Tanzgruppe in Bordeaux in traditioneller Kleidung, 1950er Jahre

Und wir führen diese Formel hier nur deshalb an, weil sie einerseits so tiefen Gehalt zu bergen scheint, daß man sie für ein Zitat von Friedrich Hölderlin selbst hält. Auf Wikipedia wird derzeit diesem Eindruck nicht entgegen getreten (Wiki). Genauere Recherche zeigt aber: Diese Worte stammen von Peter Szondi. Im "Hölderlin-Handbuch" lasen wir dann: Das Verhältnis der griechischen Antike zur "hesperischen" (abendländischen) Moderne hat Hölderlin behandelt (Hölderlin-Handbuch, S. 417):

  • in dem Brief an Böhlendorf vom 4. Dezember 1801 
  • in dem Aufsatzfragment "Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben" und 
  • in den "Anmerkungen zur Antigone"

All das haben wir dann in dem vorliegenden Beitrag aufgearbeitet. Aber auch hier, im Hölderlin-Handbuch, wird ausgeführt, daß Hölderlin in dem erstgenannten Brief schreibt:

Nicht das Fremde des antiken Vorbilds sei nachzubilden, sondern das im Eigenen als Fremdes liegende "Ungebildete". Dabei fordert Hölderlin nicht die Aufgabe des Fremden zugunsten des Eigenen: "Die Griechen sind dem hesperischen Dichter unentbehrlich, weil er in ihrer Kunst dem eigenen Ursprung als einem Fremden begegnet." (Szondi 1970)

Hölderlin-Forschern also ist dieses Wort von Peter Szondi sehr wichtig. Es klingt ja auch tief. Szondi hatte eine Professur für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin inne und beendete sein Leben mit 42 Jahren durch Freitod im Halensee in Berlin.

Man möchte doch auch vermuten, daß in dem Wort von Szondi - zugleich - eine jüdische Sichtweise auf die Welt widerklingt, bzw. vielleicht gegebenfalls auch eine jüdische Selbstvergewisserung. Denn dem eigenen Ursprung als einem fremden zu begegnen, könnte ja auch aus jüdischer Sicht ein Anliegen sein. Das Wort "Ursprung" hat Hölderlin unseres Wissens nach aber so nie benutzt und würde er so auch nie benutzen. Ihm war ja auch zum Beispiel das Wort "Urteil" sehr wichtig und er erweiterte es zur "Ur-Teilung" in seinem Text "Urteil und Sein". Insofern halten wir es für gefährlich, so schwere Worte wie "Ursprung" Hölderlin in Zusammenhängen unterzuschieben, in denen er sie selbst nicht verwendet hat (soweit uns bislang übersehbar), sondern sich vielmehr anders ausgedrückt hat (wie oben referiert).

In Auseinandersetzungen rund um solche Fragen stoßen wir aber auch auf andere aufwühlende Ausführungen. Etwa auf diese (Wolfgang Binder 1987, S. 183):  

Die Griechen, sagten wir, haben die Klarheit gefunden, die uns natürlich ist. Nicht als ob uns unsere bloß schematische Klarheit der erfüllten griechischen zu vergleichen wäre. Was man sich erwirbt, das besitzt man, und man weiß, was man besitzt, weil man es einer widerstrebenden Natur abverlangt hat. Was einem angeboren ist, das besitzt man gerade nicht, weil man es bloß ist und unreflektiert lebt. Die Vorstellung, das erste der einen Seite sei mit dem zweiten der anderen Seite identisch und umgekehrt, hat in der Hellas-Hesperien-Diskussion manche Verwirrung gestiftet.

Es dürfte viel Sinn machen, sich diese Hellas-Hesperien-Diskussion in der Forschung der letzten Jahrzehnten noch einmal sehr genau anzuschauen und sie auf ihre Fruchtbarkeit für die hier umrissene künftige Kulturgestaltung hin zu untersuchen.****) Hat man gesehen, was zu tun ist? Oder hat man es - wie so oft - "zerredet"? 

Hölderlins Reise nach Bordeaux

Das soll aber in diesem Beitrag im weiteren nicht mehr geschehen. Im weiteren wollen wir uns einfach noch sehr konkret mit der Reise Hölderlins nach Bordeaux und zurück beschäftigen, um vielleicht aus dem Leben- und Schicksalssumfeld, aus dem heraus Hölderlin damals seine Gedanken entwickelte, vielleicht auch noch etwas besser diese Gedanken selbst zu verstehen. Eine Woche vor Beginn der Reise, am 4. Dezember 1801 schreibt er an seinen Freund Böhlendorf:

"Mit nächstem will ich Dir aus der Nachbarschaft Deines Spaniens, nämlich aus Bordeaux, schreiben, wohin ich als Hauslehrer und Privatprediger in einem deutsch-evangelischen Hause nächste Woche abreise. Ich werde den Kopf ziemlich beisammenhalten müssen, in Frankreich, in Paris; auf den Anblick des Meeres, auf die Sonne der Provence freue ich mich auch." 

Die "Sonne der Provence" verlegt Hölderlin hier einfach einmal fröhlich in die Gegend um Bordeaux, obwohl die Provence ja eigentlich im Südosten Frankreichs, weit weg von Bordeaux liegt. Schon dieser Umstand macht darauf aufmerksam, daß für Hölderlin die Erfahrung Bordeaux gleichbedeutend war mit der Erfahrung "Süden" überhaupt.  Am 10. Dezember, also noch vor Weihnachten, begibt sich Hölderlin auf die Reise. "Reise" heißt für Hölderlin vor allem: Fußreise, Wandern. Er könnte zwischendurch auch Postkutschen benutzt haben, die Dauer der jeweiligen "Reisen" legt aber auch nahe, daß er weite Strecken zu Fuß zurück gelegt hat. Wie es ja auch in früheren Jahren schon oft seine Art gewesen war.

Da er über Paris reisen will, "geht" er von Nürtingen zunächst nach Straßburg. Dort wird er aber als verdächtiger Ausländer 14 Tage festgehalten. Was heißt verdächtiger Ausländer? 1799 war Napoleon Bonaparte durch Staatsstreich Erster Konsul in Frankreich geworden. Er hatte im Februar 1801 Frieden mit Österreich geschlossen, fürchtete aber hochverräterische Umtriebe. 1803 hat er eine solche Verschwörung gegen ihn auch tatsächlich durch Hinrichtung vormaliger Revolutiosgeneräle unterdrückt und einegschüchtert. Am 9. Januar 1802 schreibt Hölderlin dann überraschenderweise aus Lyon an seine Mutter:

"Ich muß Ihnen noch sagen, daß mir die Reise über Lyon, als einem Fremden, von der Obrigkeit in Straßburg angeraten worden ist. Ich sehe also Paris nicht. Ich bin auch damit zufrieden."

Über Lyon ist es ein ähnlicher Umweg wie es ein solcher über Paris gewesen wäre. Zu Fuß braucht man von Nürtingen über Straßburg nach Lyon 120 Stunden (laut G-Maps). Wenn Hölderlin in Straßburg laut den Quellen 14 Tage festgehalten worden war, würden für den Weg selbst 15 Tage übrig bleiben. Und das würde heißen, daß er täglich acht Stunden hätte wandern müssen. Hölderlin spricht aber außerdem auch noch von Überschwemmungen und anderen Widrigkeiten, die die Reise verlängert hätten, so daß er gut auch einmal zehn Stunden täglich unterwegs gewesen sein könnte (oder aber für einzelne Strecken eben doch auch einmal eine Postkutsche nahm). 

Durch die gefürchteten, überschneiten Höhen der Auvergne

Der Weg nach Lyon führte also grob über Schlettstadt, Colmar und Cernay durch das Elsaß, sowie über Belfort, Montbeliard und Besancon durch Burgund. Und das alles Ende Dezember und Anfang Januar, also im tiefsten Winter. Der Weg ist vor einem Jahrzehnt einmal von einem Deutschen - auch im Winter - abgewandert worden (Knubben). Dieser kam dabei noch im 21. Jahrhundert durch einsame und abgelegene Dörfer. Hölderlin schreibt dann aus Lyon auch:

"Ich bin noch müde, liebe Mutter! von der langen kalten Reise."

Der Weg von Lyon nach Bordeaux geht dann über Clermont-Ferrand mitten durchs Zentralmassiv, mitten durch die Auvergne. 

Abb. 8: Die Brücke "de la Guillotière" in Lyon, Aquarell von Jean-Jacques de Boissieu  (1736-1810) um 1760 (Städelsches Kunstmuseum Frankfurt am Main) (W)

Ab Naves, Tulle und Ussac kommt er dann in das wärmere, südwestliche Frankreich hinunter. Am 28. Januar 1802, knapp 20 Tage nach seiner Abreise aus Lyon, meldet er seiner Mutter seine glückliche Ankunft in Bordeaux:

"Diese letzten Tage bin ich schon in einem schönen Frühlinge gewandert, aber kurz zuvor, auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette - da hab ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde."

Der Konsul Meyer, der ihn als Hauslehrer eingeladen hatte, bewohnte in Bordeaux ein für damalige Zeiten hoch modernes, gerade erst neu erbautes Palais. Es ist noch heute erhalten. Der Hausherr besaß auch ein Weingut an der Gironde, am breiten Fluß, zu dem sich Garonne und Dordogne hinter Bordeaux vereinigten, um in den Atlantischen Ozean zu münden. Vielleicht hat Hölderlin auch den Pointe de Grave (Wiki) kennengelernt, die Landspitze an der Mündung der Gironde in das Meer, in den Atlantischen Ozean. Der Hausherr begrüßte Hölderlin mit den Worten "Sie werden glücklich sein". Und nach allem, was man erfährt, war Hölderlin dies in diesem Haus auch. Nach seiner Abreise stellte ihm der Konsul das "schönste Zeugnis" aus wie er an seinen Geschäftspartner Landauer in Stuttgart schrieb.

"Das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen"

Das Interesse Hölderlin's am "südlichen Menschen", den er in Bordeaux kennen lernte, war auch mitgeleitet von seinem Wissen um die blutigen Kämpfe in der Vendée, etwa 180 Kilometer weiter nördlich zwischen den Jahren 1793 bis 1796. In blutigen Kämpfen sind hier erbitterte Aufstände gegen die Französische Revolution niederschlagen worden (Wiki). Nach seiner Rückkehr aus Bordeaux schrieb Hölderlin im November 1802 an Böhlendorf:

"Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn, die Hirten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind.
Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels, und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt und seinen Durst, zu wissen, erfüllt.
Das Athletische des südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter. ..."

Wenn er davon spricht, daß die Menschen "im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität" fühlen, dann sieht erzunächst natürlich eigene Lebenseinstellungen und Weltsichten in die Menschen vor Ort hinein und spricht vielleicht sogar noch mehr über sich selbst als über die Menschen, die er dort kennen lernte.

Vielleicht wird man auch sagen können: die Menschen damals hatten eine Sehnsucht nach einem "Wilhelm Tell", nach einem ursprünglicheren Menschen, eine Sehnsucht, der Friedrich Schiller gerade in jener Zeit begann, Ausdruck zu verleihen (Wiki).

Abb. 9: Friedrich Beißner - Früher Beitrag zur "Hellas-Hesperien-Diskussion", 1932/33, 1961

Und welchen Helden spricht Hölderlin nun nach, wenn er sagt, daß ihn "Apollo geschlagen" hätte? Bei dieser Gelegenheit gibt es Anlaß, sich klar zu machen: Ausgerechnet der "griechischste" aller griechischen Götter stand im Trojanischen Krieg gegen die Griechen! Er halt den Trojanern. Apoll hatte die Mauern von Troja errichten helfen und brachte die Griechen während des Krieges wiederholt in die furchtbarsten Katastrophen (Wiki): Agamemnon hatte die Tochter des Apollon-Priesters Chryses geraubt, die dieser zurückforderte und nicht erhielt, woraufhin Apoll die Pest über das Heer der Griechen sandte. Erst dann rückten die Griechen zerknirscht die Tochter heraus.

Agamemnon forderte aber nun - als Ersatz - die Briseis und beschwor damit dann den berühmten Zorn des Achill herauf, der schon für sich allein den Griechen den allergrößten Schaden brachte. Doch auch ohne Achill kämpften sich die Griechen vorwärts, bis der urgewaltige Kriegsruf des Apoll die Griechen bis zu ihren Schiffen zurück trieb und die Trojaner neuerlich tapfer vordringen ließ. Der Held Patroklos konnte dann von Hektor erschlagen werden - weil Apoll ihm beistand. Achill selbst hatte vor dem Krieg schon zwei Söhne des Apoll erschlagen. Und nun nahm Apoll blutige Rache, indem er den Pfeil des Paris in die Ferse des Achill lenkte. Insgesamt hatten die Griechen also wahrlich Grund genug zu sagen, sie wären von "Apoll geschlagen" gewesen, nämlich im Kampf um Troja. Und diesen Helden nun also spricht Hölderlin nach, wenn er von sich sagt daß auch er in seinem Lebensringen "von Apollo geschlagen" wäre. ... Die Götter sind halt neidisch auf allzu großes Glück der Menschen ...

Und was hat es mit der "Angst des patriotischen Zweifels" auf sich? Sie fragt "Wie soll es weitergehen mit unserem schönen Frankreich?" Sie ergab sich für Hölderlin aus den Mißbräuchen, die sowohl vor wie während der Französischen Revolution statthatten, und in denen sich für ernstere Beobachter Zuversicht und Sorgen zu ähnlichen Teilen mischten. Die Aufständischen der Vendée sahen die Mißbräuche seit Ausbruch der Revolution, diejenigen, die die Aufständischen bekämpften, sahen die Mißbräuche vor der Revolution. Beide Seiten hatten Grund genug zur "Angst des patriotischen Zweifels" - in einem solchen Krieg gegen die eigenen Landsleute.

Die Briefteilte, die diesem Zitat folgten, hatten wir schon ganz oben angeführt.

Ende Mai 1802 - In Paris

Der Grund für die so bald schon wieder erfolgte Abreise aus Bordeaux ist der Forschung bislang nicht zugänglich geworden. Susette Gontard ist erst am 12. Juni erkrankt, dies kann nicht der Anlaß gewesen sein. Außerdem wäre Hölderlin, wenn die Nachricht von einer ernsthaften Erkrankung ihrerseits der Anlaß für seine Abreise gewesen wäre, direkt nach Deutschland gereist und hätte nicht noch den Umweg über Paris genommen, um dort im Louvre die "Antiken" zu sehen.

Sicher ist zunächst nur: Am 16. April schreibt er noch sehr vage an die Mutter:

"Ich hoffe auch das, was meine Lage mir gibt, allmählich zu verdienen und einmal, wenn ich in die Heimat wiederkomme, der wahrhaft vortrefflichen Menschen, denen ich hier verbunden bin, nicht ganz unwürdig zu sein."

"Einmal" - diese Zeilen setzen also noch voraus, daß er auf lange in Bordeaux bleiben würde. Aber schon vier Wochen später, am 10. Mai 1802 erhält er in Bordeaux seinen Ausreise-Paß nach Straßburg, am 7. Juni 1802 erhält er dann das Visum für Kehl. Der Konsul Meyer stellt in seinem Briefwechsel mit Landauer in Stuttgart Hölderlin nach seiner Abreise nur das "schönste Zeugnis" aus (Höld.-Handb, S. 47f) wie wir schon sagten. Äußerer Unfrieden kann also auch nicht Anlaß für die Abreise gewesen sein.

Waren die Eindrücke zu stark für ihn? Fühlte er sich auf die Dauer in Bordeaux zu entwurzelt? Suchte er, "Mutterboden", Heimat? Er berichtet ja am Ende des Jahres ausdrücklich davon, daß er in Frankreich "von Apoll geschlagen" gewesen sei. Wollte er, wenn er schon krank war, tiefe Niedergeschlagenheit, Trauer und Erschütterungen zu verarbeiten hatte, dafür dann doch lieber zu Hause sein? Solche Überlegungen erscheinen uns bis auf weiteres die plausibelste Erklärung.

Ende Mai ist Hölderlin dann in Paris und besucht die "Antiken" im Louvre. Dieser ist in diesem Jahr 1802 zum "Musée Napoléon" umbenannt worden. Hölderlin verläßt dann Straßburg in Richtung Kehl am 7. Juni und besucht von dort seine Freunde in Stuttgart. Am 12. Juni 1802 bricht bei Susette Gontard die Krankheit aus. Soweit wir wissen, ahnt Hölderlin nichts. Zehn Tage später, am 22. Juni ist sie in Frankfurt am Main dann schon - mit 33 Jahren - gestorben. Den Brief, in dem Sinclair Hölderlin die Mitteilung von ihrem Tod machte, schickte er nach Bordeaux, weil er noch gar nichts von der Rückkehr von Hölderlin wußte. Hölderlin hatte Sinclair also auch gar nicht Auskunft über seine Rückreise gegeben. Dieser Brief langte bei Hölderlin in Stuttgart dann erst Anfang Juli ein.***) 

Dem Gedicht "Andenken", in dem sich die Erfahrung des Bordeaux-Aufenthaltes wiederspiegelt, hat Dieter Henrich ein ganzes Buch gewidmet. Auf der Grundlage desselben wird ausgeführt (Lefebvre/Handbuch):

Die schöne Garonne, die Stadt Bordeaux und die Gärten werden von dem (damals fast 90 m) hoch liegenden Hügel von Lormont auf dem rechten Ufer der Garonne aus gegrüßt, 1 km nordöstlich von der Stadtmitte: Dort befinden sich der in die Garonne tief fallende Bach (heute eine steile Gasse zum Fluß hinunter), der Ulmwald, die Eichen, die Silberpappeln, die Mühle (auf der damaligen Landkarte als Moulin de Mercadet verzeichnet), unten am Fluß entlang die Stege. Der Ort mit seiner Fähre befand sich auf der ehemaligen Route d'Espagne der Santiago-Pilger und war vor allem für seine Werften bekannt. Eine von der Höhe vom Fluß her sichtbare Kapelle war von allen Schiffern und Seeleuten wegen ihrer schützenden Exvotos bekannt. Er war aber auch ein sehr bekannter Belustigungsort. (...) An Feiertagen, am 22. März zum Beispiel ("wenn gleich ist Nacht und Tag"), wurde hier getanzt, getrunken und gesungen. (...)
Nachdem der Dichter in der ersten Strophe den Strom, die Stadt und die Gärten von der hohen Klippe von Lormont aus gegrüßt hat, kommt er auf die Seeleute in den letzten zwei Strophen zu sprechen, deren Segelschiffe am von Lormont aus gut sichtbaren Bec D'Ambes (die "luftige Spiz") vorbeiziehen, das heißt gerade an dem Ort, wo Garonne und Dordogne ineinander münden und die "meerbreite" Gironde bilden. Das Gedicht protokolliert mit großer Genauigkeit einen bestimmten Tag (22.3.1802) an einem bestimmten Ort.

Wenn Hölderlin dem Nordost-Wind eine besondere Bedeutung zuspricht, dann spielt hier vielleicht eine Rolle, daß dem Nordost auch im zentralen Mittelmeer-Raum auf der Insel Malta eine Bedeutung zugesprochen wird, nämlich als "Gregale", als "griechischer Wind". Ein Wind also, der grob gesagt von Hellas hinüber nach "Hesperien", nach Westen weht. Ein ähnlicher Wind (allerdings mit wechselnder Windrichtung) wird im östlichen Mittelmeerraum als "Euroklydon" bezeichnet.

Als Hölderlin in Bordeaux selbst weilte, konnte ihm der Nordost auch deshalb der liebste unter den Winden sein, weil er von Frankfurt am Main her kam, dem Lebensort von Susette Gontard (s. Baumann 2020, S. 18).

Wenn Hölderlin aber in der vierten Strophe nach den Freunden und Gefährten fragt, dann stellt er sie sich als Seeleute und Fernreisende vor, die - mit dem Nordost - längst nach Indien abgereist sind. Und von diesen ist dann bis zum Ende des Gedichtes nur noch die Rede. Denn "mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn", nämlich ans Meer, "es beginnet nämlich der Reichtum / Im Meere". Sie aber, seine Gefährten, sie scheuen das Meer nicht, "sie," - die Seeleute - "wie Maler, bringen zusammen / Das Schöne der Erd", sie führen den "geflügelten Krieg", nämlich die Seefahrt und dabei können sie an einsamen Gestaden stranden und dort trostlos den "entlaubten Mast" hinauf schauen, während in der Heimat "die Lieb auch heftet fleißig die Augen" und sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartet:

Andenken  
 
Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.
Geh aber nun und grüße
Die schöne Garonne,
Und die Gärten von Bordeaux
Dort, wo am scharfen Ufer
Hingehet der Steg und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln!
 
Noch denket das mir wohl und wie
Die breiten Gipfel neiget
Der Ulmwald, über die Mühl,
Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum,
An Feiertagen gehn
Die braunen Frauen daselbst
Auf seidnen Boden,
Zur Märzenzeit,
Wenn gleich ist Nacht und Tag,
Und über langsamen Stegen,
Von goldenen Träumen schwer,
Einwiegende Lüfte ziehen.
 
Es reiche aber,
Des dunkeln Lichtes voll,
Mir einer den duftenden Becher,
Damit ich ruhen möge; denn süß
Wär unter Schatten der Schlummer.
Nicht ist es gut,
Seellos von sterblichen
Gedanken zu sein. Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb,
Und Taten, welche geschehen.
 
Wo aber sind die Freunde? Bellarmin
Mit dem Gefährten? Mancher
Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn;
Es beginnet nämlich der Reichtum
Im Meere. Sie,
Wie Maler, bringen zusammen
Das Schöne der Erd und verschmähn
Den geflügelten Krieg nicht, und
Zu wohnen einsam, jahrlang, unter
Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen
Die Feiertage der Stadt,
Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht. 
 
Nun aber sind zu Indiern
Die Männer gegangen,
Dort an der luftigen Spitz
An Traubenbergen, wo herab
Die Dordogne kommt,
Und zusammen mit der prächtgen Garonne meerbreit
Ausgehet der Strom.
Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

 

/  Deutung und Erläuterung 
des Begriffes "Popularität"
in diesem Text nun 
besser gefaßt: 28.12.23  /

____________ 

*) Dieter Henrich hat erstmals die große philosophische Bedeutung Friedrich Hölderlins in aller Deutlichkeit heraus gearbeitet und hat damit reichste Anregungen für weitere Forschungen und für die künftige Kulturentwicklung Deutschlands und Europas gegeben.  Ihm sei in Dankbarkeit dieser Beitrag gewidmet, der in einigen ( uns viel zu großen ) Fußstapfen von Henrich wandelt ....
**) Man denke etwa - nur als Beispiel - an Erörterungen des deutschen Philosophen Eduard Baumgarten mit NS-Partei-Philosophen im Jahr 1939 in Buderose, in denen er genau diesen Gedanken gegenüber einer grenzenlosen Borniertheit und Engstirnigkeit hervorheben mußte (St.gr. Nat.2011).
***) Eine sehenswerte Filmdokumentation zu Hölderlin ist 2020 erschienen (11). Etwa im November 2022 ist auf Youtube der Kommentar dazu hinterlassen worden: "@scottthompson7635 vor 3 Monaten (bearbeitet) An excellent production. Ausgezeichnet! Ich fühle den Einfluß von Pierre Bertaux. I will watch it many times, and it will make me cry each time. Gern würde ich diesen Film für eine Englisch-sprechende Zuhörerschaft übersetzen. Obwohl sie nicht eine sehr große Menge ist, gibt es trotzdem  hier - eben hier in San Francisco - ein wachsendes Interesse für Hölderlin."
****) Nachtrag 10.6.23: Peter Szondi knüpft in seinen Forschungen insbesondere an die Dissertation des Germanisten Friedrich Beißner (1905-1977) (Wiki) aus dem Jahr 1932 an, die 1961 in zweiter Auflage erschien. 2017 erschien ein Nachdruck (13). Beißner gehörte - nach Norbert von Hellingrath - zu den wichtigsten frühen Hölderlin-Forschern des 20. Jahrhunderts (14). Seine Dissertation behandelt im ersten Teil die Pindar-Übertragungen und im zweiten Teil die Sophokles-Übertragungen Hölderlin. Das siebte und letzte Kapitel des zweiten Teiles - und des ganzen Buches - lautet "Griechenland und Hesperien". 
*****) Nachtrag 12.1.24: Eine der aktuellsten Zusammenfassungen zum Thema ist übrigens 2020 erschienen (15). - Ob im Zusammenhang mit der Hellas-Hesperien-Erörterung schon einmal dem Gedanken nachgegangen worden ist, daß die Musik Beethoven's als jene Art von Kunstäußerung gewertet werden könnte, die dieser Forderung Hölderlins hinreichend gerecht geworden ist? (Und daß Richard Strauß eine ähnliche Notwendigkeit auch durchaus sah und in ähnliche Richtung strebte, ihr aber womöglich dann doch in der Praxis nicht gerecht werden konnte [DVHS2016]?) Und daß hier auch einer der Ursprünge liegen könnte für die Vorliebe Hölderlins für die Musik eines Scarlatti? Schon allein die zeitlichen Parallelen sind ja außerordentlich überraschend: Beethoven begann seine 3. Sinfonie, die "Eroica" 1802 zu komponieren, also zu eben jener Zeit, in der Hölderlin diese Gedanken nieder schrieb. Das "Heiligenstädter Testament" Beethovens als Ausdruck der inneren Krise und Wende bei Beethoven entstand im Oktober 1802, fast zur gleichen Zeit wie der zweite Brief Hölderlins an Böhlendorf.

__________

  1. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Zwei Bände. Hrsg. von Günter Mieth. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1970, 5. Auflage 1989
  2. Szondi, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte von Hölderlins hymnischem Spätstil. Insel, Frankfurt am Main 1963
  3. Szondi, Peter: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, 1970
  4. Binder, Wolfgang: Hölderlin und Sophokles. In: Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder. Frankfurt am Main 1987 
  5. Lefebvre, Jean-Pierre: Frankreich (Dezember 1801-Juni 1802). In: Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. von Johann Kreuzer. J. B. Metzler, Stuttgart 2002 / 2011 (GB), S. 46-50
  6. Löhr, Christiane: Briefe. In: Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. von Johann Kreuzer. J. B. Metzler, Stuttgart 2002 / 2011 (GB), S. 410-419
  7. Knubben, Thomas: Hölderlin. Eine Winterreise. Mit einer Carte Itinéraire von 1806 auf der Innenseite. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2011 (Amaz)
  8. Schäfer, Barbara: Wandern wie der Dichter - Auf den Spuren von Hölderlin nach Frankreich. Rez. Knubben 2011. In: Tagesspiegel 2012
  9. Keuschnig, Gregor: Rez. von Knubben 2011, https://www.begleitschreiben.net/thomas-knubben-hoelderlin-eine-winterreise/
  10. Henrich, Dieter: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Klett-Cotta. 1986
  11. Schmutte, Hedwig; Lambert, Rolf (Buch und Regie): Friedrich Hölderlin - Dichter sein - Unbedingt! Along Mekong Productions mit SWR und Arte 2020, https://youtu.be/LYhBvEGhIEA, auch: https://youtu.be/MFX7pF2IN-g [darin als Hölderlin der Schauspieler Thorsten Hierse] 
  12. Baumann, Eberhard: Das Geheimnis wird Licht. Friedrich Hölderlins Gedicht "Andenken". Die blaue Eule, Essen 1997; erneut 2020 (GB)
  13. Beissner, Friedrich: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. J. B. Metzler, Stuttgart 1933 (Dissertation Göttingen 1932) (194 S.); zweite Auflage 1961, 2017 (GB)
  14. Ennen, Jörg: 75 Jahre Hölderlin-Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek. In: WLBforum 2016 (pdf)
  15. Schäfer, Rainer: Aus der Erstarrung. Hellas und Hesperien im "freien Gebrauch des Eigenen" beim späten Hölderlin. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020 (GB)