... Dort an der luftigen SpitzAn Traubenbergen, wo herabDie Dordogne kommt,Und zusammen mit der prächtgenGaronne meerbreitAusgehet der Strom. ..(Hölderlin / Andenken )
Gewidmet dem Gedenken an Dieter Henrich,gestorben am 17. Dezember 2022 in München.*)
Nach Hölderlin lautet die große Frage: Wie lernen wir, "das Eigene frei
zu gebrauchen"? Bis heute haben wir Deutschen, wir Abendländer unser Eigenes nie wirklich "frei
gebraucht". Und das heißt: Unsere Aufgabe in der
Weltgeschichte ist noch gar nicht erfüllt, harrt noch der Erfüllung.
Der Friedenschluß von Luneville zwischen Frankreich und Österreich im Jahr 1801 beendete die Revolutionskriege.
Abb. 1: Ein typisches Weingut in der Nähe von Bordeaux (50 Kilometer nordöstlich davon) (Wiki) |
Im tiefsten Winter der Jahreswende von 1801/1802 reist der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) von Straßburg über Lyon, durch das Zentralmassiv nach Bordeaux im Südwesten Frankreichs, nahe der dortigen Atlantikküste.
Parallel zu dieser Reise, vor ihrem Antritt und nach seiner Rückkehr entwirft Hölderlin in zwei Briefen an seinen Freund Böhlendorf die Aufgaben der Deutschen und des Abendlandes für die Zukunft, Aufgaben, die die Deutschen und das Abendland 220 Jahre später immer noch nicht ins Auge gefaßt haben und angegangen sind. ... Sie waren zwischenzeitlich mit "dürftigerer" Kost zufrieden.
Hölderlin sagt in diesen Briefen, daß uns Abendländern Klarheit und Nüchternheit als Begabung angeboren sind, während dem "südlichen Menschen", insbesondere den antiken Griechen Leidenschaft und Pathos als Begabung angeboren wären. Aus diesem Gegensatz heraus erklärt er die Aufgaben der Deutschen in der Zukunft. Und da er dem "südlichen Menschen" - wie er ihn versteht - in Bordeaux im Südwesten Frankreichs unter einem ihm ganz anderen Himmel erlebt, stehen seine diesbezüglichen Worte immer zugleich auch in Zusammenhang mit dieser Reise.
Das Gedicht "Andenken", das letzte Gedicht, das Hölderlin selbst noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, enthält Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Bordeaux im März 1802.
In dem noch zu zitierenden Brief sagt er weiterhin, daß es für eine Kultur nichts Schwereres gibt, als das Eigene, Angeborene "frei zu gebrauchen". Wir Deutschen und Abendländer sind diese Aufgabe noch nicht angegangen. Diese Aufgabe ergibt sich daraus, daß jeder Kultur das Eigene, das Angeborene zu sehr Gewohnheit ist und ihr das Leben des Eigenen zu leicht fällt, also daraus, daß ihr das Leben des Eigenen zu selbstverständlich ist. Wir Deutschen und Abendländer haben also, so Hölderlin, unser Eigenes viel zu selbstverständlich gelebt, haben es nie genügend infrage gestellt und mit etwas "ganz anderem" konfrontiert. Für Hölderlin gilt aber, was auch sein Zeitgenosse Goethe in Worte faßte, nämlich:
"Was du ererbt von deinen Vätern - erwirb es, um es zu besitzen."
Dieses Erwerben des Eigenen ist nach Hölderlin jedoch nicht leicht, sondern vielmehr das Gegenteil: das Schwerste. Und dieses Erwerben des Eigenen gelingt nach Hölderlin einer Kultur und einem in dieser Kultur lebenden Künstler erst dadurch, daß er eine "fremde Natur annimmt" und sich dieser "mitteilt".
Abb. 2: Der Hafen von Bordeaux, gemalt von Joseph Vernet, 1759 |
Merkwürdig genug, daß solche Gedanken in deutschen Landen über 220 Jahre hinweg so selten erörtert worden sind, obwohl doch die ernsthafte Beschäftigung mit Hölderlin schon vor mehr als hundert Jahren in Deutschland und Europa begonnen hat.
Aber Hölderlin hat eben eine Tiefe, aus der heraus sich erst nach und nach immer mehr von dem entfaltet, was in seinem Dichten und Denken alles beschlossen lag und liegt. (Womöglich könnte das in Parallele gesetzt werden zum Grundgedanken der Inhärenz, den der Evolutionsforscher Simon Conway Morris in der biologischen Evolution auf der Erde und in der Kosmologie ebenfalls verwirklicht sieht: Stgen2016, Stgen2017.)
Um sich diesem ungewöhnlichen Gedanken anzunähern, ist es aber sicher sinnvoll, daran zu erinnern, daß das ein Gedanke ist, der sich auch schon in der bedeutenden philosophischen Schrift von Friedrich Schiller "Die ästhetischen Erziehung des Menschen" (Wiki) aus dem Jahr 1795 findet, wo auch von dem Künstler gefordert wird, eine fremde Natur anzunehmen. Durch das Humboldtsche Bildungsideal im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts ist das Bewußtsein in den Hintergrund getreten, daß antik-griechische Kultur etwas "Fremdes" sein könnte. Erst mit der Germanen-Verehrung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hätte das Bewußtsein dafür wieder wachsen können. Sie war aber wiederum oft so bigott-engstirnig, daß sie sich selten genug durch Hölderlin belehren ließ, daß das Eigene nur dann "frei" gebraucht würde werden können, wenn es sich mit dem Fremden konfrontierte. Es hat bezüglich solcher Gedanken derartige schmähliche "Niederungen" während des Elends des 20. Jahrhunderts gegeben**), daß ein solcher Gedanke erst nach und nach wieder in der Gegenwart Gestalt gewinnen könnte. Schiller jedenfalls schrieb da 1795:
"Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbniß der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen."
Wer mit der Milch eines besseren Zeitalters, dem der antiken Griechen, aufgewachsen ist, kehrt "fremd" in sein eigenes Zeitalter zurück, sagt Schiller. Bei Schiller kommt der Künstler durch diese Fremdheit zum Eigenen.
Hölderlin denkt diesen Gedanken aber nun noch deutlich weiter. Er will über die antiken Griechen hinweg zurück zu den Deutschen kommen und zu ihrer eigenen, besonderen Rolle in der Weltgeschichte. Diese kann nicht - wie dies bei Schiller noch dunkel anklingt - nur in der Nachahmung der antiken Griechen bestehen. Dennoch aber lernen die Deutschen erst in der Begegnung mit der "fremden", antik-griechischen Kultur ihr Nationales, Eigenes, ihre eigene besondere Begabung "frei zu gebrauchen". So Hölderlin. Und das ist - für ihn, Hölderlin - das Ziel aller Kunstausübung, ist für ihn der Ausdruck höchster Kultur.
Während des Jahres 1802 weilte Hölderlin also wie gesagt im südlichen Frankreich. Von dort zurückgekehrt, schrieb er im November 1802 aus Nürtingen an seinen Freund Böhlendorf über die "südliche Menschen", denen er dort begegnet sei, und die ihn "mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter" gemacht hätten:
"Ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten.Dies bestimmte ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen, darum haben sie ihr Eigentümlichindividuelles, das lebendig erscheint, sofern der höchste Verstand im griechischen Sinne Reflexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir den heroischen Körper der Griechen begreifen; sie ist Zärtlichkeit, wie unsere Popularität."
"Ihre Popularität", ihre "Volkseigentümlichkeit" also ist "Zärtlichkeit" - so wie die unsere, so wie die von uns Abendländern. Wer hätte das sagen dürfen außer Hölderlin? Niemand. Niemand. Wie weit ist Hölderlin seiner Zeit voraus. Wie unendlich weit. Wie sehr sieht er voraus, daß wir, wir herzlosen, nüchternen Abendländer die Aufgabe haben, in diese Zärtlichkeit hinein zu kommen, in die uns eigene Volkseigentümlichkeit.
Natürlich, Hölderlin schrieb im Zeitalter der Empfindsamkeit und konnte deshalb eine Eigenschaft wie "Zärtlichkeit" als "Charakter unserer Kultur", also seiner damaligen viel leichter begreifen als wir heute. Eine solche Kennzeichnung unserer heutigen Kultur würde natürlich einigermaßen bizarr anmuten - in der kulturellen Verrohung unserer Zeit. Man bedenke aber, daß sich das "Zeitalter der Empfindsamkeit" als so empfindsam nicht empfunden hat. Daß es sich vor allem gegen die Rohheit und Barbarei all der Jahrhunderte vom Mittelalter an, aufgelehnt hat, gewehrt hat und sich noch lange nicht vollständig von ihr losgerissen hatte. (Wie der weitere Geschichtsablauf ja auch zur Genüge zeigt ...)
Mit solchen Worten knüpfte Hölderlin an Gedanken an, die er schon ein Jahr zuvor, eine Woche vor seiner Abreise nach Südfrankreich, am 4. Dezember 1801 an Böhlendorf geschrieben hatte:
"Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen werden diese eher in schöner Leidenschaft (…) als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgabe zu übertreffen sein.Es klingt paradox. Aber ich behaupte es noch einmal und stelle es Deiner Prüfung und Deinem Gebrauche frei: das eigentlich Nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen.Bei uns ist's umgekehrt. Deswegen ist's auch so gefährlich, sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren. Ich habe lange daran laboriert und weiß nun, daß außer dem, was bei den Griechen und uns das Höchste sein muß, nämlich dem lebendigen Verhältnis und Geschick, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen.Aber das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das Schwerste ist."
Hölderlin will die antiken Griechen also "in schöner Leidenschaft" übertreffen. Wer sich klar macht, wie hoch Hölderlin über das Pathos und die "Leidenschaft" der antiken Griechen gedacht hat, der erst kann nachvollziehen, was für einen Anspruch Hölderlin hier formuliert, was für eine Art "Bildungsprogramm", "Kunstprogramm", was für eine Art künftige künstlerische Ausrichtung er hier für die Deutschen formuliert.
Abb. 4: "An der luftigen Spitz" - Bec d'Ambès (Wiki) - Der Zusammenfluß von Dordogne (vorn) und Garonne (hinten) zur Gironde, von einem Rebhügel am rechten Ufer der Dordogne aus gesehen - Auf dem linken Ufer der Garonne hinten links vom Bildrand liegt Bordeaux - Nach rechts hin strömt die Gironde dem Atlantische Ozean zu (Wiki) |
Hölderlin fordert von den Deutschen, was er in umgekehrter Weise Homer als Leistung zuspricht: Homer hat die südliche, griechische angeborene Begabung für Pathos und Leidenschaft "gebändigt" durch "junonische Nüchternheit" und dadurch er hat er sein Kunstwerk zu den Göttern erhoben. ("Junonisch" ist abgeleitet von der römischen Göttin Juno, der Gattin des Jupiter. Juno ist in der Antike die griechische Göttin Hera parallel gesetzt worden, der Gattin des Zeus.)
Umgekehrt muß nun aber der Deutsche und der Abendländer seine angeborene Nüchternheit und Klarheit erst durch die Leidenschaft und den Pathos in - für ihn, den "nüchternen" Abendländer exzentrischer Weise - zu den Göttern empor heben und schafft erst dadurch jenes Kunstwerk, in dem das ihm Eigene in vollendetstem Maße zum Ausdruck kommt und durch den es zu den Göttern empor gehoben wird.*****)
Wo fanden die antiken Griechen die ihnen fremde "junonische Nüchternheit"? - Antwort: In der indogermanischen Religion und Kultur
Für uns finden diese Gedanken gleich eine Fortsetzung und so sei dies gleich an dieser Stelle eingeschoben: Worin fanden denn dann die antiken Griechen die ihnen fremde - aber notwendige - "junonische Nüchternheit"? Das Abendland war damals doch noch kaum in ihren Gesichtskreis getreten, hatte sich ja selber noch kaum gefunden (wozu als erstes Schriftkultur notwendig wäre). Selbst von der römischen Göttin Juno dürften sie vergleichsweise wenig erfahren haben. Und was an östlichen oder orientalischen Einflüssen zu ihnen kam, trug viel eher fast immer "dionysischen Charakter", verstärkte also den ihnen eigenen Charakter des Leidenschaftlichen und Feurigen und Ungebändigten.
Nun, heute wissen wir es durch die Archäogenetik: die antiken Griechen waren von ihrer Herkunft her zu größten Teilen zwar durchaus "südliche", "mediterrane Menschen", mit - angenommenerweise - dementsprechender auch südlicher Begabung zu Pathos, Leidenschaft und Extase. Sie wurden dann aber - ab 2.200 v. Ztr. - Menschen, die eine Sprache, Religion und Kultur aus dem Norden, von einer stärker indogermanisch beeinflußten Kultur her angenommen haben. (Nach ihrer Überlieferung: von den Hyperboräern [s. Stgen2023].) Durch diese also vor allem kam "junonische Nüchternheit" zu ihnen. Die indogermanische "junonisch-nüchterne" Kultur bändigte die ungezügelten Leidenschaften des südlichen Menschen in gerade ausreichendem Maße und schuf so das klassische Griechenland, das bis in seine Endzeit hinein im Spannungsfeld dieser beiden von Hölderlin benannten Tendenzen steht und daraus seine kulturschöpferischen Kräfte gewinnt.
Abb. 5: Lormont, am rechten Ufer der Garonne, gegenüber von Bordeaux (Postkarte) |
Dies ist ein Interpretationsrahmen, den wir sehr spannend finden, und der uns sehr gut zu den neuesten Erkenntnissen der Archäogenetik zu passen scheint, die ja nach einem solchen neuen Interpretationsrahmen auch geradezu "schreien" und der durch sie zugleich - erstmals - vollste Bekräftigung erhält.
Womöglich wird man sogar sagen können, daß der Interpretationsrahmen Hölderlins erst durch die neuesten Erkenntnisse der Archäogenetik seine volle Schlagkraft und Treffsicherheit beweist. Oder noch genauer: Dieser Interpretationsrahmen Hölderlins konnte vor den Erkenntnissen der Archäogenetik längst nicht so viel Zugkraft gewinnen, brachte längst nicht so viel Überzeugungskraft mit sich. Denn bis zum Jahr 2022 wäre es ja viel schwerer gewesen, die Menschen davon zu überzeugen, daß uns die antiken Griechen viel "fremder" sind als das den meisten Denkenden wirklich bewußt war.
Davon kann sich auch der Verfasser dieser Zeilen nicht ausnehmen. Er hatte immer gedacht, die antiken Griechen wären vornehmlich "blonde Indogermanen" gewesen. Aber das stimmt ja nun gar nicht. Das stellte nur ein gewisses kulturelles Ideal dar, war keine gelebte Wirklichkeit.
Die Antigone-Übersetzung Hölderlins
Um seiner genannten Einsichten und Erfahrungen willen hat Hölderlin dann auch seine "Antigone" so ungewöhnlich exzentrisch übersetzt, daß die Zeitgenossen davon ganz abgestoßen waren und die Übersetzung schon für Zeichen von Verrücktheit angesehen haben. Aber Hölderlin hatte es ja nicht für antike Griechen übesetzt. Sie brauchten eine solche Exzentrizität ja nicht, sie lag ihnen ja sowieso schon im Blut. Deren Leidenschaft war ja gerade durch die Nüchternheit der Dichtung der "Antigone" "schön" gebändigt. Aber Hölderlin sah, daß die Deutschen allein durch solche Nüchternheit, durch die sich die antiken Griechen "bändigten", dem Gehalt solcher antiken Tragödien gar nicht wirklich nahe kamen, weil sie viel zu leicht bei sich blieben, beim Eigenen blieben in der Rezeption dieser Tragödie, viel zu sehr in ihrer Nüchternheit blieben. In seinen "Anmerkungen zur Antigone" schreibt er über die "griechischen Vorstellungen":
"Ihre Haupttendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, dahingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, Geschick zu haben, da das Schicksallose (...) unsere Schwäche ist."
Mit Schicksalslosigkeit spielt Hölderlin zugleich auf die Leidenschaftslosigkeit des "Ancient regime" und des ihm vorausgehenden christlich-bigotten Mittelalters an. (Leidenschaftslos zumindest in Vergleich mit der griechischen Antike.) Etwas anderes hatten Menschen in Europa bis dahin nicht kennen gelernt. Das wirklich Große und Heroische, zu dem der Abendländer als Schicksal fähig ist, war damals noch lange nicht in die Welt getreten. Das geschah erst im 20. Jahrhundert, unter anderem mit dem - durch Hölderlins Denken (über Hegel) angestoßenen - Marxismus, unter anderem mit Friedrich Nietzsche. Und nachdem dieses 20. Jahrhundert vorbei ist, und sicherlich kein Abendländer mehr wird sagen können, daß das Schicksallose für sich genommen unsere Schwäche wäre, wissen wir: Schicksal genug hatten wir inzwischen, Schicksal genug, Abgründe genug. Wir Deutschen, die Völker des Erdballs insgesamt in den letzten hundert Jahren. Mehr als genug .....
Im November 1802 faßt Hölderlin am Ende seines Briefes an Böhlendorf seine diesbezüglichen Gedanken noch einmal prägnant zusammen:
"Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Charakter nehmen und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen."
"Nicht aufkommen", weil das ja, wie Hölderlin schon sagte, das Schwerste ist, weil sich die abendländische Kultur nun diesem Schwersten gegenüber sieht und von dem hier zu erobernden "Feuer des Himmels" im ersten Anblick nieder gedrückt wird.
Abb. 6: Blick vom Schloßturm Lormont (Wiki) flußabwärts auf die Garonne, bei Bordeaux |
Hölderlin will also insgesamt sagen: Wir Deutschen und Abendländer sind zu "gefaßt". Unsere Aufgabe ist es nicht, "um Fassung zu ringen" (wie bei den Griechen), sondern umgekehrt, aus zu viel "Fassung" herauszutreten, exzentrisch, ungebändigt, "fassungslos" dem Äther nahe zu kommen - und dabei dann das Besondere, Einzigartige zu "treffen", punktgenau, "buchstabengetreu" - ganz so wie dies in seinen späten Dichtungen und Übersetzungen in einem ersten Ansatz geschieht. Mit diesen hat Hölderlin uns und unserer Kultur die ersten Schneisen gelegt, begonnen, die Wege zu bahnen. Soweit übersehbar, hat er das weit und breit als einziger seines Jahrhundert und auch noch unseres Jahrhunderts getan. Am 28. September 1803 sollte er die Antigone-Übersetzung an Wilmans senden und dazu schreiben:
"Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herumbeholfen hat, dadurch lebendiger als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verleugnet hat, mehr heraushebe und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere."
Was für Worte: "Das Orientalische, das sie verleugnet hat". Ja, mit der Archäogenetik verstehen wir viel viel klarer, wovon Hölderlin hier spricht.
In welchem Verhältnis steht Nietzsche zu diesen Entwürfen Hölderlins?
Es wäre übrigens auch noch einmal zu überprüfen, in welchem Verhältnis Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Wiki) der Sache nach etwas zum Verständnis Hölderlins beigetragen hätte oder dessen Gedanken weiter geführt hätte. In dieser Schrift setzt er dem in sich sicheren und klaren (indogermanischen) "Apollinischen" das exzentrische und ungezügelte, frei schweifende (südlich-orientalische) "Dionysische" entgegen.
Diese Entgegensetzung ist erstmals von dem Hölderlin-Jugendfreund F. W. J. Schelling formuliert worden (Wiki), also dürfte wohl doch auch der Grundgedanke von Nietzsche in letzter Instanz auf Hölderlin zurück gehen, von dem seine Jugendfreunde Schelling und Hegel durch die besten philosohischen Ideen beschenkt worden sind. (Winckelmann und Schlegel werden allerdings auch als solche bezeichnet, die diesen Gegensatz schon umsonnen haben.) Wie wir oben aber schon gelesen haben, hat Hölderlin selbst das nicht so formelhaft begriffen. Läßt er doch den Homer
"die abendländische junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich erbeuten".
Nach diesem Zitat steht Apollon eher auf der Seite des Dionysischen. Und das dürfte auch historisch richtiger sein, schließlich ist Apoll kein ursprünglich indogermanischer Gott, sondern war ebenfalls ursprünglich ein orientalischer Orakel-Gott (siehe letzter Beitrag). Auch hier wieder würden wir (wie so oft) sehen, daß Hölderlin "treffsicherer" war als seine Freunde.
Daß Nietzsche mit seinem "Zarathustra" dann ansatzweise durchaus etwas im Sinne der Forderungen Hölderlins geleistet hat, wird man nur wenig bezweifeln wollen. Von Hölderlin aus gesehen, wären das aber nur erste, marginale Anfänge der von ihm vorausgesehenen künftigen Kulturentwicklung. (Wobei Nietzsche auch viel zu viel Anlaß zur Mißdeutung und zum Mißbrauch gegeben hat - mit seinem Sozialdarwinismus und seinem "Willen zur Macht".)
Wir möchten außerdem bemerken, daß die Auseinandersetzungen mit der orphischen Weltauffassung (Wiki) uns Abendländer aus unserer Gesetztheit und Nüchternheit heraus reißen kann, und daß überall, wo Bezug genommen wurde auf Orpheus, sicherlich wichtige Schritte unternommen wurden (durch R. M. Rilke etwa).
Peter Szondi - "Dem eigenen Ursprung als einem fremden begegnen"
All diese Hölderlin'schen Gedanken hat der Hölderlin-Forscher ungarisch-jüdischer Herkunft Peter Szondi (1929-1971) (Wiki) schon 1967 in die Formel gefaßt (zit. n. Wiki),
"dem eigenen Ursprung als einem fremden (zu) begegnen".
Wir sind uns nicht ganz sicher, ob diese Formel nicht zu Mißverständnissen verleiten könnte. Wir sehen nicht, daß Hölderlin es so gemeint hatte.
Wir stießen auf diese Worte auf Wikipedia in dem Abschnitt über die Wirkungsgeschichte von Johann Joachim Winckelmann. Da wird darauf hingewiesen, daß Hölderlin die bloße Nachahmung der Griechen - die von Winckelmann gefordert worden war - in der späteren Phase seines Schaffens ablehnte.
Abb. 7: Tanzgruppe in Bordeaux in traditioneller Kleidung, 1950er Jahre |
Und wir führen diese Formel hier nur deshalb an, weil sie einerseits so tiefen Gehalt zu bergen scheint, daß man sie für ein Zitat von Friedrich Hölderlin selbst hält. Auf Wikipedia wird derzeit diesem Eindruck nicht entgegen getreten (Wiki). Genauere Recherche zeigt aber: Diese Worte stammen von Peter Szondi. Im "Hölderlin-Handbuch" lasen wir dann: Das Verhältnis der griechischen Antike zur "hesperischen" (abendländischen) Moderne hat Hölderlin behandelt (Hölderlin-Handbuch, S. 417):
- in dem Brief an Böhlendorf vom 4. Dezember 1801
- in dem Aufsatzfragment "Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben" und
- in den "Anmerkungen zur Antigone"
All das haben wir dann in dem vorliegenden Beitrag aufgearbeitet. Aber auch hier, im Hölderlin-Handbuch, wird ausgeführt, daß Hölderlin in dem erstgenannten Brief schreibt:
Nicht das Fremde des antiken Vorbilds sei nachzubilden, sondern das im Eigenen als Fremdes liegende "Ungebildete". Dabei fordert Hölderlin nicht die Aufgabe des Fremden zugunsten des Eigenen: "Die Griechen sind dem hesperischen Dichter unentbehrlich, weil er in ihrer Kunst dem eigenen Ursprung als einem Fremden begegnet." (Szondi 1970)
Hölderlin-Forschern also ist dieses Wort von Peter Szondi sehr wichtig. Es klingt ja auch tief. Szondi hatte eine Professur für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin inne und beendete sein Leben mit 42 Jahren durch Freitod im Halensee in Berlin.
Man möchte doch auch vermuten, daß in dem Wort von Szondi - zugleich - eine jüdische Sichtweise auf die Welt widerklingt, bzw. vielleicht gegebenfalls auch eine jüdische Selbstvergewisserung. Denn dem eigenen Ursprung als einem fremden zu begegnen, könnte ja auch aus jüdischer Sicht ein Anliegen sein. Das Wort "Ursprung" hat Hölderlin unseres Wissens nach aber so nie benutzt und würde er so auch nie benutzen. Ihm war ja auch zum Beispiel das Wort "Urteil" sehr wichtig und er erweiterte es zur "Ur-Teilung" in seinem Text "Urteil und Sein". Insofern halten wir es für gefährlich, so schwere Worte wie "Ursprung" Hölderlin in Zusammenhängen unterzuschieben, in denen er sie selbst nicht verwendet hat (soweit uns bislang übersehbar), sondern sich vielmehr anders ausgedrückt hat (wie oben referiert).In Auseinandersetzungen rund um solche Fragen stoßen wir aber auch auf andere aufwühlende Ausführungen. Etwa auf diese (Wolfgang Binder 1987, S. 183):
Die Griechen, sagten wir, haben die Klarheit gefunden, die uns natürlich ist. Nicht als ob uns unsere bloß schematische Klarheit der erfüllten griechischen zu vergleichen wäre. Was man sich erwirbt, das besitzt man, und man weiß, was man besitzt, weil man es einer widerstrebenden Natur abverlangt hat. Was einem angeboren ist, das besitzt man gerade nicht, weil man es bloß ist und unreflektiert lebt. Die Vorstellung, das erste der einen Seite sei mit dem zweiten der anderen Seite identisch und umgekehrt, hat in der Hellas-Hesperien-Diskussion manche Verwirrung gestiftet.
Es dürfte viel Sinn machen, sich diese Hellas-Hesperien-Diskussion in der Forschung der letzten Jahrzehnten noch einmal sehr genau anzuschauen und sie auf ihre Fruchtbarkeit für die hier umrissene künftige Kulturgestaltung hin zu untersuchen.****) Hat man gesehen, was zu tun ist? Oder hat man es - wie so oft - "zerredet"?
Hölderlins Reise nach Bordeaux
Das soll aber in diesem Beitrag im weiteren nicht mehr geschehen. Im weiteren wollen wir uns einfach noch sehr konkret mit der Reise Hölderlins nach Bordeaux und zurück beschäftigen, um vielleicht aus dem Leben- und Schicksalssumfeld, aus dem heraus Hölderlin damals seine Gedanken entwickelte, vielleicht auch noch etwas besser diese Gedanken selbst zu verstehen. Eine Woche vor Beginn der Reise, am 4. Dezember 1801 schreibt er an seinen Freund Böhlendorf:
"Mit nächstem will ich Dir aus der Nachbarschaft Deines Spaniens, nämlich aus Bordeaux, schreiben, wohin ich als Hauslehrer und Privatprediger in einem deutsch-evangelischen Hause nächste Woche abreise. Ich werde den Kopf ziemlich beisammenhalten müssen, in Frankreich, in Paris; auf den Anblick des Meeres, auf die Sonne der Provence freue ich mich auch."
Die "Sonne der Provence" verlegt Hölderlin hier einfach einmal fröhlich in die Gegend um Bordeaux, obwohl die Provence ja eigentlich im Südosten Frankreichs, weit weg von Bordeaux liegt. Schon dieser Umstand macht darauf aufmerksam, daß für Hölderlin die Erfahrung Bordeaux gleichbedeutend war mit der Erfahrung "Süden" überhaupt. Am 10. Dezember, also noch vor Weihnachten, begibt sich Hölderlin auf die
Reise. "Reise" heißt für Hölderlin vor allem: Fußreise, Wandern. Er könnte zwischendurch auch Postkutschen benutzt haben, die Dauer der jeweiligen "Reisen" legt aber auch nahe, daß er weite Strecken zu Fuß zurück gelegt hat. Wie es ja auch in früheren Jahren schon oft seine Art gewesen war.
Da er über Paris reisen will, "geht" er von Nürtingen zunächst nach Straßburg. Dort wird er aber als verdächtiger Ausländer 14 Tage festgehalten. Was heißt verdächtiger Ausländer? 1799 war Napoleon Bonaparte durch Staatsstreich Erster Konsul in Frankreich geworden. Er hatte im Februar 1801 Frieden mit Österreich geschlossen, fürchtete aber hochverräterische Umtriebe. 1803 hat er eine solche Verschwörung gegen ihn auch tatsächlich durch Hinrichtung vormaliger Revolutiosgeneräle unterdrückt und einegschüchtert. Am 9. Januar 1802 schreibt Hölderlin dann überraschenderweise aus Lyon an seine Mutter:
"Ich muß Ihnen noch sagen, daß mir die Reise über Lyon, als einem Fremden, von der Obrigkeit in Straßburg angeraten worden ist. Ich sehe also Paris nicht. Ich bin auch damit zufrieden."
Über Lyon ist es ein ähnlicher Umweg wie es ein solcher über Paris gewesen wäre. Zu Fuß braucht man von Nürtingen über Straßburg nach Lyon 120 Stunden (laut G-Maps). Wenn Hölderlin in Straßburg laut den Quellen 14 Tage festgehalten worden war, würden für den Weg selbst 15 Tage übrig bleiben. Und das würde heißen, daß er täglich acht Stunden hätte wandern müssen. Hölderlin spricht aber außerdem auch noch von Überschwemmungen und anderen Widrigkeiten, die die Reise verlängert hätten, so daß er gut auch einmal zehn Stunden täglich unterwegs gewesen sein könnte (oder aber für einzelne Strecken eben doch auch einmal eine Postkutsche nahm).
Durch die gefürchteten, überschneiten Höhen der Auvergne
Der Weg nach Lyon führte also grob über Schlettstadt, Colmar und Cernay durch das Elsaß, sowie über Belfort, Montbeliard und Besancon durch Burgund. Und das alles Ende Dezember und Anfang Januar, also im tiefsten Winter. Der Weg ist vor einem Jahrzehnt einmal von einem Deutschen - auch im Winter - abgewandert worden (Knubben). Dieser kam dabei noch im 21. Jahrhundert durch einsame und abgelegene Dörfer. Hölderlin schreibt dann aus Lyon auch:
"Ich bin noch müde, liebe Mutter! von der langen kalten Reise."
Der Weg von Lyon nach Bordeaux geht dann über Clermont-Ferrand mitten durchs Zentralmassiv, mitten durch die Auvergne.
Abb. 8: Die Brücke "de la Guillotière" in Lyon, Aquarell von Jean-Jacques de Boissieu (1736-1810) um 1760 (Städelsches Kunstmuseum Frankfurt am Main) (W) |
Ab Naves, Tulle und Ussac kommt er dann in das wärmere, südwestliche Frankreich hinunter. Am 28. Januar 1802, knapp 20 Tage nach seiner Abreise aus Lyon, meldet er seiner Mutter seine glückliche Ankunft in Bordeaux:
"Diese letzten Tage bin ich schon in einem schönen Frühlinge gewandert, aber kurz zuvor, auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette - da hab ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde."
Der Konsul Meyer, der ihn als Hauslehrer eingeladen hatte, bewohnte in Bordeaux ein für damalige Zeiten hoch modernes, gerade erst neu erbautes Palais. Es ist noch heute erhalten. Der Hausherr besaß auch ein Weingut an der Gironde, am breiten Fluß, zu dem sich Garonne und Dordogne hinter Bordeaux vereinigten, um in den Atlantischen Ozean zu münden. Vielleicht hat Hölderlin auch den Pointe de Grave (Wiki) kennengelernt, die Landspitze an der Mündung der Gironde in das Meer, in den Atlantischen Ozean. Der Hausherr begrüßte Hölderlin mit den Worten "Sie werden glücklich sein". Und nach allem, was man erfährt, war Hölderlin dies in diesem Haus auch. Nach seiner Abreise stellte ihm der Konsul das "schönste Zeugnis" aus wie er an seinen Geschäftspartner Landauer in Stuttgart schrieb.
"Das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen"
Das Interesse Hölderlin's am "südlichen Menschen", den er in Bordeaux kennen lernte, war auch mitgeleitet von seinem Wissen um die blutigen Kämpfe in der Vendée, etwa 180 Kilometer weiter nördlich zwischen den Jahren 1793 bis 1796. In blutigen Kämpfen sind hier erbitterte Aufstände gegen die Französische Revolution niederschlagen worden (Wiki). Nach seiner Rückkehr aus Bordeaux schrieb Hölderlin im November 1802 an Böhlendorf:
"Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn, die Hirten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind.Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels, und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt und seinen Durst, zu wissen, erfüllt.Das Athletische des südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter. ..."
Wenn er davon spricht, daß die Menschen "im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität" fühlen, dann sieht erzunächst natürlich eigene Lebenseinstellungen und Weltsichten in die Menschen vor Ort hinein und spricht vielleicht sogar noch mehr über sich selbst als über die Menschen, die er dort kennen lernte.
Vielleicht wird man auch sagen können: die Menschen damals hatten eine Sehnsucht nach einem "Wilhelm Tell", nach einem ursprünglicheren Menschen, eine Sehnsucht, der Friedrich Schiller gerade in jener Zeit begann, Ausdruck zu verleihen (Wiki).
Abb. 9: Friedrich Beißner - Früher Beitrag zur "Hellas-Hesperien-Diskussion", 1932/33, 1961 |
Und welchen Helden spricht Hölderlin nun nach, wenn er sagt, daß ihn "Apollo geschlagen" hätte? Bei dieser Gelegenheit gibt es Anlaß, sich klar zu machen: Ausgerechnet der "griechischste" aller griechischen Götter stand im Trojanischen Krieg gegen die Griechen! Er halt den Trojanern. Apoll hatte die Mauern von Troja errichten helfen und brachte die Griechen während des Krieges wiederholt in die furchtbarsten Katastrophen (Wiki): Agamemnon hatte die Tochter des Apollon-Priesters Chryses geraubt, die dieser zurückforderte und nicht erhielt, woraufhin Apoll die Pest über das Heer der Griechen sandte. Erst dann rückten die Griechen zerknirscht die Tochter heraus.
Agamemnon forderte aber nun - als Ersatz - die Briseis und beschwor damit dann den berühmten Zorn des Achill herauf, der schon für sich allein den Griechen den allergrößten Schaden brachte. Doch auch ohne Achill kämpften sich die Griechen vorwärts, bis der urgewaltige Kriegsruf des Apoll die Griechen bis zu ihren Schiffen zurück trieb und die Trojaner neuerlich tapfer vordringen ließ. Der Held Patroklos konnte dann von Hektor erschlagen werden - weil Apoll ihm beistand. Achill selbst hatte vor dem Krieg schon zwei Söhne des Apoll erschlagen. Und nun nahm Apoll blutige Rache, indem er den Pfeil des Paris in die Ferse des Achill lenkte. Insgesamt hatten die Griechen also wahrlich Grund genug zu sagen, sie wären von "Apoll geschlagen" gewesen, nämlich im Kampf um Troja. Und diesen Helden nun also spricht Hölderlin nach, wenn er von sich sagt daß auch er in seinem Lebensringen "von Apollo geschlagen" wäre. ... Die Götter sind halt neidisch auf allzu großes Glück der Menschen ...
Und was hat es mit der "Angst des patriotischen Zweifels" auf sich? Sie fragt "Wie soll es weitergehen mit unserem schönen Frankreich?" Sie ergab sich für Hölderlin aus den Mißbräuchen, die sowohl vor wie während der Französischen Revolution statthatten, und in denen sich für ernstere Beobachter Zuversicht und Sorgen zu ähnlichen Teilen mischten. Die Aufständischen der Vendée sahen die Mißbräuche seit Ausbruch der Revolution, diejenigen, die die Aufständischen bekämpften, sahen die Mißbräuche vor der Revolution. Beide Seiten hatten Grund genug zur "Angst des patriotischen Zweifels" - in einem solchen Krieg gegen die eigenen Landsleute.
Die Briefteilte, die diesem Zitat folgten, hatten wir schon ganz oben angeführt.
Ende Mai 1802 - In Paris
Der Grund für die so bald schon wieder erfolgte Abreise aus Bordeaux ist der Forschung bislang nicht zugänglich geworden. Susette Gontard ist erst am 12. Juni erkrankt, dies kann nicht der Anlaß gewesen sein. Außerdem wäre Hölderlin, wenn die Nachricht von einer ernsthaften Erkrankung ihrerseits der Anlaß für seine Abreise gewesen wäre, direkt nach Deutschland gereist und hätte nicht noch den Umweg über Paris genommen, um dort im Louvre die "Antiken" zu sehen.
Sicher ist zunächst nur: Am 16. April schreibt er noch sehr vage an die Mutter:
"Ich hoffe auch das, was meine Lage mir gibt, allmählich zu verdienen und einmal, wenn ich in die Heimat wiederkomme, der wahrhaft vortrefflichen Menschen, denen ich hier verbunden bin, nicht ganz unwürdig zu sein."
"Einmal" - diese Zeilen setzen also noch voraus, daß er auf lange in Bordeaux bleiben würde. Aber schon vier Wochen später, am 10. Mai 1802 erhält er in Bordeaux seinen Ausreise-Paß nach Straßburg, am 7. Juni 1802 erhält er dann das Visum für Kehl. Der Konsul Meyer stellt in seinem Briefwechsel mit Landauer in Stuttgart Hölderlin nach seiner Abreise nur das "schönste Zeugnis" aus (Höld.-Handb, S. 47f) wie wir schon sagten. Äußerer Unfrieden kann also auch nicht Anlaß für die Abreise gewesen sein.
Waren die Eindrücke zu stark für ihn? Fühlte er sich auf die Dauer in Bordeaux zu entwurzelt? Suchte er, "Mutterboden", Heimat? Er berichtet ja am Ende des Jahres ausdrücklich davon, daß er in Frankreich "von Apoll geschlagen" gewesen sei. Wollte er, wenn er schon krank war, tiefe Niedergeschlagenheit, Trauer und Erschütterungen zu verarbeiten hatte, dafür dann doch lieber zu Hause sein? Solche Überlegungen erscheinen uns bis auf weiteres die plausibelste Erklärung.
Ende Mai ist Hölderlin dann in Paris und besucht die "Antiken" im Louvre. Dieser ist in diesem Jahr 1802 zum "Musée Napoléon" umbenannt worden. Hölderlin verläßt dann Straßburg in Richtung Kehl am 7. Juni und besucht von dort seine Freunde in Stuttgart. Am 12. Juni 1802 bricht bei Susette Gontard die Krankheit aus. Soweit wir wissen, ahnt Hölderlin nichts. Zehn Tage später, am 22. Juni ist sie in Frankfurt am Main dann schon - mit 33 Jahren - gestorben. Den Brief, in dem Sinclair Hölderlin die Mitteilung von ihrem Tod machte, schickte er nach Bordeaux, weil er noch gar nichts von der Rückkehr von Hölderlin wußte. Hölderlin hatte Sinclair also auch gar nicht Auskunft über seine Rückreise gegeben. Dieser Brief langte bei Hölderlin in Stuttgart dann erst Anfang Juli ein.***)
Dem Gedicht "Andenken", in dem sich die Erfahrung des Bordeaux-Aufenthaltes wiederspiegelt, hat Dieter Henrich ein ganzes Buch gewidmet. Auf der Grundlage desselben wird ausgeführt (Lefebvre/Handbuch):
Die schöne Garonne, die Stadt Bordeaux und die Gärten werden von dem (damals fast 90 m) hoch liegenden Hügel von Lormont auf dem rechten Ufer der Garonne aus gegrüßt, 1 km nordöstlich von der Stadtmitte: Dort befinden sich der in die Garonne tief fallende Bach (heute eine steile Gasse zum Fluß hinunter), der Ulmwald, die Eichen, die Silberpappeln, die Mühle (auf der damaligen Landkarte als Moulin de Mercadet verzeichnet), unten am Fluß entlang die Stege. Der Ort mit seiner Fähre befand sich auf der ehemaligen Route d'Espagne der Santiago-Pilger und war vor allem für seine Werften bekannt. Eine von der Höhe vom Fluß her sichtbare Kapelle war von allen Schiffern und Seeleuten wegen ihrer schützenden Exvotos bekannt. Er war aber auch ein sehr bekannter Belustigungsort. (...) An Feiertagen, am 22. März zum Beispiel ("wenn gleich ist Nacht und Tag"), wurde hier getanzt, getrunken und gesungen. (...)Nachdem der Dichter in der ersten Strophe den Strom, die Stadt und die Gärten von der hohen Klippe von Lormont aus gegrüßt hat, kommt er auf die Seeleute in den letzten zwei Strophen zu sprechen, deren Segelschiffe am von Lormont aus gut sichtbaren Bec D'Ambes (die "luftige Spiz") vorbeiziehen, das heißt gerade an dem Ort, wo Garonne und Dordogne ineinander münden und die "meerbreite" Gironde bilden. Das Gedicht protokolliert mit großer Genauigkeit einen bestimmten Tag (22.3.1802) an einem bestimmten Ort.
Wenn Hölderlin dem Nordost-Wind eine besondere Bedeutung zuspricht, dann spielt hier vielleicht eine Rolle, daß dem Nordost auch im zentralen Mittelmeer-Raum auf der Insel Malta eine Bedeutung zugesprochen wird, nämlich als "Gregale", als "griechischer Wind". Ein Wind also, der grob gesagt von Hellas hinüber nach "Hesperien", nach Westen weht. Ein ähnlicher Wind (allerdings mit wechselnder Windrichtung) wird im östlichen Mittelmeerraum als "Euroklydon" bezeichnet.
Als Hölderlin in Bordeaux selbst weilte, konnte ihm der Nordost auch deshalb der liebste unter den Winden sein, weil er von Frankfurt am Main her kam, dem Lebensort von Susette Gontard (s. Baumann 2020, S. 18).
Wenn Hölderlin aber in der vierten Strophe nach den Freunden und Gefährten fragt, dann stellt er sie sich als Seeleute und Fernreisende vor, die - mit dem Nordost - längst nach Indien abgereist sind. Und von diesen ist dann bis zum Ende des Gedichtes nur noch die Rede. Denn "mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn", nämlich ans Meer, "es beginnet nämlich der Reichtum / Im Meere". Sie aber, seine Gefährten, sie scheuen das Meer nicht, "sie," - die Seeleute - "wie Maler, bringen zusammen / Das Schöne der Erd", sie führen den "geflügelten Krieg", nämlich die Seefahrt und dabei können sie an einsamen Gestaden stranden und dort trostlos den "entlaubten Mast" hinauf schauen, während in der Heimat "die Lieb auch heftet fleißig die Augen" und sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartet:
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- Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Zwei Bände. Hrsg. von Günter Mieth. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1970, 5. Auflage 1989
- Szondi, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte von Hölderlins hymnischem Spätstil. Insel, Frankfurt am Main 1963
- Szondi, Peter: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, 1970
- Binder, Wolfgang: Hölderlin und Sophokles. In: Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder. Frankfurt am Main 1987
- Lefebvre, Jean-Pierre: Frankreich (Dezember 1801-Juni 1802). In: Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. von Johann Kreuzer. J. B. Metzler, Stuttgart 2002 / 2011 (GB), S. 46-50
- Löhr, Christiane: Briefe. In: Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. von Johann Kreuzer. J. B. Metzler, Stuttgart 2002 / 2011 (GB), S. 410-419
- Knubben, Thomas: Hölderlin. Eine Winterreise. Mit einer Carte
Itinéraire von 1806 auf der Innenseite. Klöpfer & Meyer Verlag,
Tübingen 2011 (Amaz)
- Schäfer, Barbara: Wandern wie der Dichter - Auf den Spuren von Hölderlin nach Frankreich. Rez. Knubben 2011. In: Tagesspiegel 2012
- Keuschnig, Gregor: Rez. von Knubben 2011, https://www.begleitschreiben.net/thomas-knubben-hoelderlin-eine-winterreise/
- Henrich, Dieter: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Klett-Cotta. 1986
- Schmutte, Hedwig; Lambert, Rolf (Buch und Regie): Friedrich Hölderlin - Dichter sein - Unbedingt! Along Mekong Productions mit SWR und Arte 2020, https://youtu.be/LYhBvEGhIEA, auch: https://youtu.be/MFX7pF2IN-g [darin als Hölderlin der Schauspieler Thorsten Hierse]
- Baumann, Eberhard: Das Geheimnis wird Licht. Friedrich Hölderlins Gedicht "Andenken". Die blaue Eule, Essen 1997; erneut 2020 (GB)
- Beissner, Friedrich: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. J. B. Metzler, Stuttgart 1933 (Dissertation Göttingen 1932) (194 S.); zweite Auflage 1961, 2017 (GB)
- Ennen, Jörg: 75 Jahre Hölderlin-Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek. In: WLBforum 2016 (pdf)
- Schäfer, Rainer: Aus der Erstarrung. Hellas und Hesperien im "freien Gebrauch des Eigenen" beim späten Hölderlin. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020 (GB)
Nachtrag 10.6.23: Peter Szondi knüpft in seinen Forschungen insbesondere an die Dissertation des Germanisten Friedrich Beißner (1905-1977) aus dem Jahr 1932 an, die 1961 in zweiter Auflage erschien. 2017 erschien ein Nachdruck (13). Beißner gehörte - nach Norbert von Hellingrath - zu den wichtigsten frühen Hölderlin-Forschern des 20. Jahrhunderts (14). Seine Dissertation behandelt im ersten Teil die Pindar-Übertragungen und im zweiten Teil die Sophokles-Übertragungen Hölderlin. Das siebte und letzte Kapitel des zweiten Teiles - und des ganzen Buches - lautet "Griechenland und Hesperien".
AntwortenLöschenNachtrag 12.1.24: Eine der aktuellsten Zusammenfassungen zum Thema ist übrigens 2020 von Rainer Schäfer erschienen ("Aus der Erstarrung"). - Ob im Zusammenhang mit der Hellas-Hesperien-Erörterung schon einmal dem Gedanken nachgegangen worden ist, daß die Musik Beethoven's als jene Art von Kunstäußerung gewertet werden könnte, die dieser Forderung Hölderlins hinreichend gerecht geworden ist? (Und daß Richard Strauß eine ähnliche Notwendigkeit auch durchaus sah und in ähnliche Richtung strebte, ihr aber womöglich dann doch in der Praxis nicht gerecht werden konnte [DVHS2016]?) Und daß hier auch einer der Ursprünge liegen könnte für die Vorliebe Hölderlins für die Musik eines Scarlatti? Schon allein die zeitlichen Parallelen sind ja außerordentlich überraschend: Beethoven begann seine 3. Sinfonie, die "Eroica" 1802 zu komponieren, also zu eben jener Zeit, in der Hölderlin diese Gedanken nieder schrieb. Das "Heiligenstädter Testament" Beethovens als Ausdruck der inneren Krise und Wende bei Beethoven entstand im Oktober 1802, fast zur gleichen Zeit wie der zweite Brief Hölderlins an Böhlendorf.
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