Samstag, 21. November 2009

4.100 v. Ztr.: Mecklenburger Jäger und Fischer tragen noch tausend Jahre später einige den Bandkeramiker-Genen verwandte Gene in sich

Aber auch ihre Gene sind heute ausgestorben

/ Achtung! Man lese womöglich erst den Nachtrag ganz unten! /

Die Erkenntnisse zur Humanevolution der frühesten Bauernvölker Europas wachsen derzeit exponentiell an. Fragen, über die sich die Archäologen und Anthropologen seit vielen Jahrzehnten weitgehend unentschieden die Köpfe zerbrochen haben, werden durch neue Studien an Genresten in überkommenen Skeletten ("ancient DNA") derzeit einer einigermaßen definitiven Klärung entgegengeführt. Dies ist ein ungeheurer Fortschritt in der Wissenschaft, über den "Studium generale" gerne sich und andere auf dem Laufenden halten möchte.

Abb. 1: Mesolithische Jäger und Sammler (rot) an den Grenzen des Ausbreitungsgebietes der Bandkeramiker (gelb) - Archäogenetisch sind beide Bevölkerungen klar zu unterscheiden (aus: 2)

Zur Rekapitulation: Um 4.100 v. Ztr. entstand in Ostholstein die älteste Bauernkultur im Ostseeraum, die Trichterbecherkultur (archäologische Stufe "Wangels"). Sie breitete sich in den weiteren Jahrhunderten rund um die Ostsee aus. Überraschenderweise lebten aber zu dieser Bauernkultur benachbart noch 2.000 Jahre lang sehr konservative Bevölkerungen von Fischern, Jägern und Sammlern. So in Südschweden und auf den Schweden vorgelagerten Ostsee-Inseln wie Gotland bis in die Zeit um 2.300 v. Ztr. hinein. Es handelte sich dort um die Kultur der sogenannten Grübchen- oder Kammkeramiker.

Im vorigen St. gen.-Beitrag behandelten wir DNA-Untersuchungen an Skeletten dieser mesolithischen Bevölkerung auf Gotland (1). Sie weist wenig genetische Verwandtschaft mit heutigen Bevölkerungen in Nordeuropa auf. So das Ergebnis. Weder mit heutigen Schweden, noch mit heutigen Saamen. Noch am ehesten kann man von einer genetischen Verwandtschaft mit heutigen Letten sprechen. Aufgrund dieser Untersuchungen kann gefolgert werden, daß die ersten Bauern des Ostseeraumes, die Trichterbecherleute, genetisch ein anderes Profil hatten als die letzten Jäger und Sammler in diesem Raum.

Und genau dieses Ergebnis ergibt sich auch aus einer zweiten, im Oktober an prominenter Stelle veröffentlichten Studie an mesolithischen Skeletten. Unter anderem an Skeletten einer tausend Jahre älteren, ebenfalls sehr konservativ lebenden Bevölkerung im Seengebiet Mecklenburgs, nämlich im Bereich der heutigen Stadt Schwerin (2-4). Genauer in Schwerins südlichem Vorort Ostorf.

Die frühen Schweriner und ihre Stellung in der Weltgeschichte (3.100 v. Ztr.)

Wie man auf Karten sieht, liegen die Stadt Schwerin und ihre Seen zwar geographisch einigermaßen benachbart zu Ostholstein und der Ostseeküste (GMapsa). Aber sie liegen doch zugleich auch viele Kilometer im Landesinneren. Und noch heute kann man an der starken Bewaldung der Seeufer (siehe auch Abb. 2) sehen, daß diese Seeufer bis in unsere Zeit hinein als nicht sehr geeignet für Ackerbau und Viehzucht scheinen angesehen worden zu sein. Und hier wurden 1961 auf der kleinen, seither "Toteninsel" genannten Insel "Tannenwerder" im Ostorfer See (Wiki) etwa 70 Flachgräber aus der Zeit von 3.200 bis 3.000 v. Ztr. ergraben.

Abb. 2: Osdorfer See bei Schwerin

Da diese Skelette sich in den Lagerräumen gut erhalten haben, konnten aus ihnen für die neue Studie DNA-Reste extrahiert und analysiert werden. Überraschenderweise haben auch am Ostorfer See noch um 3.000 v. Ztr., also 1.000 Jahre nach Entstehung der Trichterbecherkultur in Ostholstein (!), Fischer, Jäger und Sammler gelebt. Neueste anthropologische Studien bestätigen die schon 1961, während der DDR-Zeit gemachten, bislang wenig bekannt gewordenen archäologischen Erkenntnisse (3, 4):

„Das waren keine Bauern, sondern Paddler“, sagt Thomas Terberger über die Ostorfer von einst. Ihre Armknochen weisen die modifizierten Muskelansatzstellen auf, wie sie für Kajakfahrer oder Kanuten typisch sind. Und zwar bei Männern wie Frauen. Das jedenfalls entdeckten Mainzer Anthropologen vor kurzem bei einer morphologischen Untersuchung. Die Kiefer verrieten ihnen, dass die Jäger und Sammler das frugale Mahl intensiv kauen mussten. Sie verzehrten Fleisch und Rohkost, aber kaum Kohlenhydrate. Trotzdem konnte ihre mesolithische Diät sie nicht vor Karies bewahren. Auch zeigen die bei Ostorf geborgenen Skelette Abnutzungsspuren auf; die veränderten Bein- und Hüftknochen zeugen von starker Mobilität. Ähnliche Merkmale sind heute bei Marathon- und Langstreckenläufern zu beobachten.

Diese Skelette weisen also auf eine ganz andere, viel konservativere Lebensweise hin, als die Skelette von zeitgleichen Bauern in Norddeutschland. Diese "Ostorfer" müssen eine so ausreichend große Siedlungsdichte an den Seen gehabt haben, daß es ihnen über Jahrhunderte hinweg gelungen ist, sich wahrscheinlich auch militärisch gegenüber den sie umgebenden Bauernvölkern zu behaupten. Schon vom gesunden Menschenverstand ausgehend kann angenommen werden, daß man auch in einem gewissen arbeitsteiligen Austausch-Verhältnis mit den umgebenden Bauernvölkern gestanden haben kann. Wie die Ernährung zeigt, kann dieser Tauschhandel zugleich aber auch nicht sehr intensiv und umfangreich gewesen sein.

Frühe Schweriner waren Langstreckenläufer, Kajakfahrer oder Kanuten

Und exakt dieser Umstand scheint sich auch in ihren Genen widerzuspiegeln. Unter den vielen in der neuen Studie untersuchten DNA-Resten in mesolithischen Skeletten aus Litauen, Polen, Rußland und Deutschland, die alle heute in Europa weitgehend ausgestorbene Gentypen und auch keine Verwandtschaft mit frühen europäischen Bauernvölkern aufweisen, fallen nur die Ostorfer Skelette etwas aus dem Rahmen (2):

Die einzige Ausnahme ist der Ausgrabungsort Ostorf (Norddeutschland), wo zwei Individuen die Haplogruppe T2 besaßen, die auch in unserer Bandkeramik-Stichprobe zu finden ist. Wir sind vorsichtig, wenn wir dies als Zeichen lokaler Vermischung interpretieren, insbesondere weil die T2-Typen Jäger und Sammler und frühe Landwirte unterschiedlichen Unterlinien angehören. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Ostorf kulturell eine mesolithische Enklave ist, die von neolithischen Trichterbecherbauern umgeben ist und der einziger Jäger-Sammler-Ausgrabungsort, an dem Nicht-U-mtDNA-Typen beobachtet wurden.
The only exception is the site Ostorf (northern Germany), where two individuals carried haplogroup T2, which is also found in our LBK sample. We are cautious about interpreting this as a signature of local admixture, particularly because the hunter-gatherer and early farmer T2 types belong to different sublineages, but it is notable that Ostorf is culturally a Mesolithic enclave surrounded by Neolithic Funnel-beaker farmers and is the only hunter-gatherer site where any non-U mtDNA types were observed.

Im Unterschied zu allen sonstigen mesolithisch lebenden, untersuchten Bevölkerungen fand man nur bei den Mecklenburgischen Ostorfern in zwei Skeletten DNA-Reste, die man auch bei dem - nach derzeitigem Stand - heute genetisch weitgehend ausgestorbenen Volk der Bandkeramiker ("LBK") schon in einer früheren Studie gefunden hatte.

Ein kleiner Anteil genetischer Einmischungen von Bauern?

Da die Ostorfer umgeben waren von Trichterbecher-Leuten ("Funnelbeacker farmers"), kann das auf einige Vermischungen entweder mit den Trichterbecherleuten oder mit der vorhergehenden Michelsberger Kultur zurückgeführt werden, welche wiederum in Teilen das genetische Erbe der Bandkeramik oder ihr nahestehender Bevölkerungen in sich getragen haben könnte. Ein genetisches Erbe, das zumindest in seiner Spezifität in den weiteren Jahrhunderten bis heute in Mitteleuropa dann zum größten Teil verloren gegangen ist.

Ausblick

Schon diese ersten "ancient DNA"-Forschungen zeichnen ein sehr differenziertes Bild der frühneolithischen Bevölkerungsgeschichte Europas. Sie werden sicherlich in den nächsten Jahren nach und nach noch viele weitere, differenzierte Erkenntnisse zur Bevölkerungsgeschichte Europas erbringen, auf die man sehr gespannt sein darf.

Nachtrag 2024

Nachtrag 5.4.2024: Indem wir heute eher zufällig auf die Grafik in Abbildung 1 stoßen, die aus der hier behandelten Studie stammt (2), und die wir gemeinsam mit diesen Worten diesem Beitrag als Nachtrag hinzufügen, stellen wir erst fest, daß wir - auch allein anhand des Titels der Studie (2) - schon damals hätten bemerken können, daß die Forscher im Jahr 2009 schon viel mehr zur Völkergeschichte Europas verstanden hatten als wir das in diesem Beitrag hier auf dem Blog damals wahrgenommen und referiert hatten.

Die Grafik illustriert noch heute, fünfzehn Jahre später den ganz erstaunlichen Forschungsstand und der Titel der Studie hatte ihn ebenso klar formuliert: "Keine genetische Kontinuität zwischen den einheimischen Jägern und Sammlern und den mitteleuropäischen ersten Bauern". Dieser Umstand vor allem wäre im vorliegenden Blogartikel zu behandeln gewesen. Aber das war noch zu neu und "ungewöhnlich", unverständlich für den Bloginhaber, als daß er das so einfach hätte wahrnehmen können. Erst ein Jahr später tastete er sich an diese Erkenntnis mit großem Zögern heran (Stgen2010) und fügte in den genannten Beitrag von 2010 erst 2017 Worte ein, die ihn völlig von der neuen Erkenntnis überzeugt zeigten.

Ein gutes Zeugnis dafür, wie sich neue Erkenntnisse am Anfang nur mühsam in schon verkrustete Denkstrukturen einfügen können und diese erst nach und nach "aufbrechen" können. Das mag dem wissenschaftsgeschichtlich Interessierten einmal wieder mancherlei zu denken geben! 

_________________
  1. Bading, Ingo: 4.100 v. Ztr.: Die modernen Nordeuropäer entstehen in Ostholstein. In: Studium generale, 18.9.09.
  2. Bramanti B, Thomas MG, Haak W, Unterlaender M, Jores P, Tambets K, Antanaitis-Jacobs I, Haidle MN, Jankauskas R, Kind CJ, Lueth F, Terberger T, Hiller J, Matsumura S, Forster P, & Burger J (2009). Genetic discontinuity between local hunter-gatherers and central Europe's first farmers. Science (New York, N.Y.), 326 (5949), 137-40 PMID: 19729620; Supplement als freies -->pdf.
  3. Kastilan, Sonja: Die Insel der Zurückgebliebenen. FAZ, 6.9.09.
  4. Zessin, Wolfgang: Steinzeitliche Funde von Ostorf, Kreis Schwerin-Stadt. In: Informationen des Bezirksarbeitskreises für Ur- und Frühgeschichte Schwerin 22 (1982), S. 3 - 15; --> als freies pdf..
  5. Pinhasi R, & von Cramon-Taubadel N (2009). Craniometric data supports demic diffusion model for the spread of agriculture into Europe. PloS one, 4 (8) PMID: 19707595

Mittwoch, 18. November 2009

4.100 v. Ztr.: Menschen anderer Genetik als die Mesolithiker besiedeln als Trichterbecherkultur den Ostseeraum

Zusammenfassung: Eine neue Studie an DNA-Resten aus 19 spätmesolithischen Skeletten von der Ostseeinsel Bornholm (um 2.500 v. Ztr.) (1) vermehrt die Belege dafür, daß die heutigen Nordeuropäer zu größeren Teilen von den ersten Ackerbauern des Ostseeraumes abstammen und nicht von den vormaligen spätmesolithischen Jägern und Fischern des Ostseeraumes. Dies braucht aber nicht zu heißen, daß die spätmesolitischen Fischer durch Bauern- und bronzezeitliche Kulturen aus ganz anderen geographischen Regionen ersetzt worden sind. Vielmehr wird es sich vergleichsweise kleine Gründerpopulation zwischen dem Nordrand der Mittelgebirge und der Ostseeküste gehandelt haben (archäologische Stufe "Wangels"; um 4.100 v. Ztr.), in denen sich auch über kürzere historische Zeiträume hinweg stärkere genetische Veränderungen ergeben haben können, und die in Auseinandersetzung - und ggfs. auch Vermischung - mit Menschen der südlicheren Michelsberger Kultur eine neue Ethnie mit neuer Genetik und neuer Lebensweise herausgebildet haben könnten: die Trichterbecher-Kultur.

Diese Feststellungen können wiederum als ein weiterer Hinweis darauf gelten, daß die Humanevolution in einem (dialektischen?) Wechselspiel von Aussterbeereignissen größerer Völkerschaften und Kulturen stattfindet, die mehr oder weniger regelmäßiger wiederkehrend (von weniger komplexer Kulturstufe schrittweise zu komplexerer Kulturstufe fortschreitend) durch das jeweilige explosive Bevölkerungswachstum aus ursprünglich vergleichsweise kleinen Gründerpopulationen heraus ersetzt werden. Die kleinen Gründerpopulationen wären es dann vor allem, in denen die wesentlichsten genetischen und kulturellen Veränderungen und Neuanpassungen stattfinden, die für den Übergang zu der jeweils nächsten gesellschaftlichen Komplexitätsstufe erforderlich waren (Gen-Kultur-Koevolution).

Die Geschichte des europäischen Frühneolithikums, der ersten Bauernvölker Mitteleuropas, insbesondere aber auch derjenigen Nordeuropas, ist eine ungeheuer spannende (1-13; einen außerordentlich aktuellen Überblick bietet auch: 14). In den Jahrtausenden des Rückzugs des Eises nach der Eiszeit hatte sich in Mitteleuropa schließlich flächendeckend der Wald ausgebreitet, vor allem Lindenwälder. In Nordeuropa hingegen konnten die Menschen noch für viele Jahrhunderte die traditionelle eiszeitliche Lebensweise der Rentierjäger fortsetzen.

In den mitteleuropäischen Urwäldern lebten nur noch vergleichsweise wenige Menschen. Die wenigen Funde, die auf menschliche Besiedlung deuten, werden von der Wissenschaft unter dem Begriff "Mesolithikum" ("Mittelsteinzeit") zusammen gefaßt. Die Mesolithiker lebten vor allem an den Ufern von Gewässern, von Seen, auch an überhängenden Abbruchkanten von Bergen. Schließlich an den Küsten von Nord- und Ostsee. Sie lebten als Rentierjäger, später als Fischer und als Jäger von vielfältigen Wildarten, sowie als Sammler, auch von Muscheln, Baum- und Strauchfrüchten.

Eine neue Lebensweise breitet sich aus (5.500 v. Ztr.)


Über den Balkan breitete sich dann - von der anatolischen Halbinsel aus kommend - die Kultur von Ackerbau und Viehzucht als eine Dorfkultur aus. Durch Begegnung der einheimischen mesolithischen Gruppen mit den neolithischen Dorfkulturen des Balkanraumes formte sich vor allem am Ufer des Plattensees und in seiner näheren Umgebung - also im heutigen österreichisch-ungarisch-mährischen Grenzraum - eine weltgeschichtlich ungeheuer einflußreiche, neue Kultur aus: Die Kultur der Bandkeramiker (Wiki). Sie ist charakterisiert nicht durch eine Siedlungsweise in kleinen, zu Dörfern zusammengestellten Häusern, sondern durch einzeln oder locker in Weiler zusammen stehende, bis zu 30 Meter lange Langhäuser. Eine weltgeschichtlich völlig neue Art des Siedelns und Wohnens.

Aus einer kleinen Ausgangsregion hervorgehend breitete sich die Kultur der Bandkeramik innerhalb von nur wenigen Jahrhunderten ab 5.500 v. Ztr. über ganz Mitteleuropa bis zum Nordrand der Mittelgebirge aus. Dies war nur möglich durch einen Kinderreichtum, wie er etwa auch noch bei den stark religiös geprägten deutschen Rodungsbauern in Wolhynien im 19. Jahrhundert festgestellt werden kann, die noch im 19. Jahrhundert in Ostpolen eine vergleichbare Arbeit an Rodungsarbeit geleistet haben wie sie auch für die Bandkeramiker 7.500 Jahre zuvor vorausgesetzt werden muß. (s. Stud. gen.)

Die noch pferde- und räderlose Kultur der Bandkeramik existierte etwa 800 Jahre lang und wurde von nachfolgenden kleinräumiger verteilten Bauernkulturen abgelöst. Jedoch erreichten alle nachfolgenden Bauernkulturen in Mitteleuropa bis zum Frühmittelalter niemals mehr die vergleichsweise hohe Siedlungsdichte der Bandkeramiker. (Siehe frühere Beiträge auf St. gen..) Dieses Charakteristikum und noch so manches andere deutet auf die Besonderheit und Einzigartigkeit der Kultur der Bandkeramik hin.

Im Ostseeraum wird man moderner, bleibt aber bei der Lebensweise der Fischer und Jäger (5.100 v. Ztr.)


In der norddeutschen Tiefebene kam es zu Begegnungen und Kulturkontakten der südlichen, seßhaften Bandkeramiker mit dort lebenden, bislang nur halbseßhaften mesolithischen Gruppen. Sicherlich auch auf diese Einflüsse zurückzuführen ist die Ausbildung einer vergleichweise siedlungsdichten, spätmesolithischen Kultur im Ostseeraum, nämlich der "Ertebølle"-Kultur (Wiki) (seit 5.100 v. Ztr.), wahrscheinlich aus der dort bestehenden, siedlungsärmeren mesolithischen Vorgängerkultur heraus. Diese Menschen der Ertebølle-Kultur lebten an der Küste der Ostsee - zeitgleich zur Bandkeramik - vor allem von der Jagd und vom Fischfang.

Zur Zeit des Untergangs der Bandkeramik, um 4.750 v. Ztr. herum, ging auch die Ertebølle -Kultur in eine zweite, jüngere Phase über, die vor allem dadurch charakterisiert ist, daß nun auch im Ostseeraum Keramik benutzt wurde.

Tausend Jahre später: Auch im Ostseeraum beginnt sich die neue Lebensweise vollständig zu etablieren (4.100 v. Ztr.) ...


Um 4.100 v. Ztr. wird die Ertebølle-Kultur an der Südküste der Ostsee und in Dänemark abgelöst von der berühmten Ackerbau und Viehzucht, also Milchwirtschaft betreibenden Trichterbecher-Kultur (Wiki), die ab 3.500 v. Ztr. auch ihre berühmten Großsteingräber errichtet.

An der Südküste Schwedens, der Nordostküste Dänemarks und an der Südküste Norwegens, sowie auf den Schweden benachbarten Ostsee-Inseln wie Gotland und Aaland hielten die Menschen jedoch außerordentlich zäh und konservativ an der bisherigen mesolithischen Lebensweise fest. Hier entstand etwa zeitgleich mit der Trichterbecher-Kultur und dauerte parallel zu ihr fort die spätmesolithische Kultur der Grübchen- oder Kammkeramik (WikiWiki engl.). Eine Kultur von Jägern und Fischern. Mit Übernahme der Schaf- und Schweinehaltung dauerte diese Kultur sogar bis weit in die Bronzezeit hinein fort, also bis etwa 2.300 v. Ztr.. Sie erlebte damit auch noch die Überlagerung der nordeuropäischen Trichterbecherkultur durch die indogermanischen Schnurkeramiker (Wiki) (den erstmals berittenen "Streitaxt"-Leuten) - ursprünglich wohl aus dem Nordschwarzmeer-Raum stammend - mit.

... aber letzte Jäger- und Fischerkulturen des Ostseeraumes halten zäh an der alten Lebensweise fest (2.300 v. Ztr.)



Abb. 1: Der Ostseeraum (- blaue Linie bitte nicht beachten!)
In der nordeuropäischen Archäologie ist es nun eine seit Jahrzehnten diskutierte Frage, ob die Trichterbecherkultur direkt von der Ertebølle-Kultur abstammt oder ob es zu einem umfangreicheren Bevölkerungswechsel bei der Ablösung der beiden Kulturen gekommen ist. In einer neuen Studie, veröffentlicht am 24. September, wurden 19 Skelette der Grübchen-Keramik-Kultur, die auf der Insel Gotland (siehe Abb. 1) begraben worden waren, auf Reste von mitochondrialer DNA hin untersucht (1; siehe auch: Dienekes). Die Skelette werden auf 2.800 bis 2000 v. Ztr. datiert.

Man fand in diesen Skeletten vor allem mitochondriale DNA der Haplogruppen U4/H1b, U5 und U5a. Eine genauere Analyse und der Vergleich mit heute in Nordeuropa lebenden Bevölkerungen zeigt, daß diese Haplogruppen noch am ähnlichsten Haplogruppen der heute in Lettland und angrenzenden Ländern lebenden Menschen sind. Nicht aber Haplogruppen von Menschen, die heute sonst noch rund um die Ostsee leben und deshalb wahrscheinlich zu größeren Anteilen eher von den Trichterbecherleuten (vermischt zu bislang nicht bekannten Anteilen mit den Schnurkeramikern) abstammen.

(Ergänzung 9.12.17: Dieser Anteil ist heute bekannt, er liegt bei 70 %, auch das Volk der Trichterbecher-Kultur muß man damit als solches als weitgehend ausgestorben ansprechen. Soweit war der Erkenntnisstand 2009 noch nicht gedrungen.)

Nachdem Untersuchungen von DNA-Resten in Skeletten der Bandkeramiker, der Etrusker oder des "Ötzi" (St. gen.) schon viele Hinweise dafür lieferten, daß die Gene jeweils zuvor großer Völkerschaften im Großen und Ganzen heute als genetisch ausgestorben angesehen werden müssen, scheint dies nun auch für die spätmesolithischen Kulturen des Ostseeraumes, also für die Ertebølle- und Grübchenkeramik-Kultur gelten zu müssen. Am ehesten scheint noch in baltischen Ländern wie Lettland ein genetisches Erbe dieser Kulturen fortzuleben. Hier erfolgte der Umbruch zur seßhaften Lebensweise offenbar noch weniger plötzlich als im nördlichen Ostseeraum, wodurch sich ansässige Jäger und Fischer zu Bauern wandeln konnten, ohne dabei zu stark von neu zuwandernden Bevölkerungen genetisch verdrängt zu werden.

Die vormals oft von Archäologen geäußerte Vermutung, daß die Spätmesolithiker im Ostseeraum Verwandtschaft mit den heute noch in Finnland lebenden Saamen aufgewiesen haben könnten, konnten durch diese neue DNA-Studie auffallenderweise nicht bestätigt werden.

Eine Population mit neuer Kultur - und mit neuer Genetik


Damit festigt sich eine Erkenntnis, für die man schon in vielen anderen Fällen Hinweise erkennen konnte, nämlich zu der Frage, wie Humanevolution und Weltgeschichte in den groben Zügen überhaupt abläuft. Und wie dabei vor allem jüngste Selektionsereignisse im menschlichen Genom sich etablieren konnten, wie sich der jeweilige anthropologische Typus genetisch ändern konnte bis heute. Und wie das deshalb voraussichtlich auch künftig geschehen wird. Dies wird vornehmlich dadurch geschehen, daß vormals kleine Gründerpopulationen, wie sie etwa auch für die Trichterbecherkultur in der Stufe Wangels in Ostholstein angenommen werden kann, bevölkerungsmäßig anwachsen und sich ausbreiten in weite Räume hinein, in Räume, die zuvor von anderen Populationen bewohnt worden waren, deren Gene mittelfristig in der Geschichte größtenteils aussterben - aufgrund von Prozessen, die künftig sicherlich noch detaillierten zu charakterisieren sein werden. Neue, einwandernde, siedlungsdichtere Kulturen und ihrer Träger etablieren in einem Raum neue auch genetische Selektionsbedingungen, unter denen sich die zuvor Einheimischen nicht mehr so erfolgreich fortpflanzen wie zuvor.

Für alle Fragen, die in Diskussionen rund um das Theorem der "Gruppenselektion" aufgetaucht sind, dürften solche Erkenntnisse aus der unmittelbaren Empirie künftig immer größere Bedeutung erlangen. Und man wird immer mehr erkennen, daß man die "Bevölkerungsweise" einer Bevölkerung, ihr "demographisches Regime" im Sinne von Gerhard Mackenroth - und anderer Historischer Demographen - sehr genau analysieren muß, wenn man die hier vorliegenden Prozesse möglichst detailgenau charakterisieren will.

Die modernen Nordeuropäer und ihre Genetik


Auch bekommt man durch diese neuen Erkenntnisse einen schärferen Blick darauf, wie und unter welchen Umständen die nordeuropäischen Bevölkerungen mit ihrem typischen und auffälligen genetischen Merkmalsmuster - u.a.: blonde Haare, blaue Augen (St. gen.), die Fähigkeit, im Erwachsenenalter Rohmilch verdauen zu können (St. gen.), die Fähigkeit, Alkohol in größeren Mengen zu sich nehmen zu können, unter ihnen vergleichsweise hohe Anteile von Trägern der Hyperaktivitäts-(ADHS-)Gene, vergleichsweise wenige Trägern von Genen, die einen anfällig machen für Depressionen (Serotonin-Transporter-Gene) (s. Spektr. d. Wiss.), sowie mit vergleichsweise hohem Intelligenz-Quotienten - entstanden sein könnten. Vor allem die Erkenntnis der letzten Jahre, daß die Genmutation, die blaue Augenfarbe hervorruft, weltweit ursprünglich auf nur einen oder wenige Merkmalsträger zurückgeführt werden kann (St. gen.), deutet auf eine sehr kleine Gründerpopulation hin, die im Ostseeraum wird gesucht werden müssen.

Wenn nun die heutige Bevölkerung im Ostseeraum höchstwahrscheinlich genetisch so im allgemeinen nicht von den zuvor im Ostseeraum ansässigen Mesolithikern abstammt, wie die neue Studie aufzuzeigen scheint, ... wird im Wesentlichen die Trichterbecherkultur übrig bleiben, die ja auch die Fähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können, im Zusammenspiel mit der Milchviehhaltung evoluiert haben wird.

Korrektur: 9.12.2017:
... bleibt - zusammengenommen mit ancient-DNA-Studien seit dem Jahr 2015 - die indogermanische Schnurkeramik-Kultur übrig, von denen die heutigen Nordeuropäer zu den wesentlichsten Anteilen abstammen.

Steht eine etwaige Siedlungskontinuität in Ostholstein seit dem Spätmesolithikum im Widerspruch dazu?


Zur Entstehung der Trichterbecher-Kultur sind der Forschungsliteratur unter anderem folgende Angaben zu entnehmen (11):
In Wangels läßt sich zwischen 4.300 und 4.100 v. Chr. ein kleiner Niederschlag der Ertebølle-Kultur nachweisen. In dieses Inventar gehören auch die ersten Knochen von Haustieren. Nach 4.100 v. Chr. tauchen dann völlig neue Gefäßformen auf, die mit kleinen, fast unmerklichen Neuerungen im Steinwerkzeuginventar vergesellschaftet sind. Von nun an bilden Nutzviehhaltung und Getreideanbau die Basis für die Nahrungsmittelproduktion. (...)

Als Auslöser für den kulturellen Wandel machten die Steinzeitforscher übrigens eine Kultur aus, die um 4.200 v. Chr. vom west- und mitteldeutschen Raum aus eine starke kulturelle Dynamik entfaltet: die sogenannte Michelsberger Kultur.
Der Prozeß der Neolithisierung, der "Verbäuerlichung" wurde also an der südlichen Ostseeküste von der einheimischen Bevölkerung getragen, wie die Forscher meinen (12):
Dafür spricht die an mehreren Orten zu beobachtende Platzkontinuität. Einige Küstensiedlungen wie Rosenhof und Wangels bestanden hunderte von Jahren und überdauerten den Wechsel von der Ertebølle- zur Trichterbecher-Kultur.
Platzkontinuität muß noch nicht heißen, daß die Ortsansässigen sich nicht dennoch mit Menschen der Michelsberger Kultur könnten vermischt haben bei der Akkulturation an die seßhafte Lebensweise.

/Anmerkung 9.12.2017: Genau das ist inzwischen noch weitaus eindrucksvoller bestätigt worden als es hier allzu behutsam vermutet worden war. Die Menschen der Trichterbecherkultur sind - so wie die Menschen der Michelsberger Kultur - mehrheitlich neolithisch-anatolischer, also mediterraner Abstammung und nur zu etwa 20 % mesolithisch-mitteleuropäischer Abstammung./

Auch bei der Entstehung der Bandkeramik am Plattensee findet man ja in diversen "Mischformen" der Siedlungsweise "Platzkontinuität" vor. Und dennoch darf davon ausgegangen werden, daß hier zugleich auf genetischem Gebiet sich sehr viele Selektionsprozesse abgespielt haben können. Man wird hier einfach noch weitere Forschungsergebnisse abwarten müssen. (Siehe dazu auch --> Sincos.) /Anmerkung 9.12.2017: Für die Bandkeramik gilt in noch ausgeprägterem Maße das, was auch für die Michelsberger und Trichterbecherkultur gilt./

Es werden jedenfalls sehr spannende Ereignisse gewesen sein, die sich in der norddeutschen Tiefebene zwischen Hude am Dümmer, dem Nordrand des Harzes und Ostholstein bei der Herausbildung der frühen Trichterbecherkultur abgespielt haben werden - unter Einflußnahme älterer Bauernkulturen aus dem Süden.

Im östlichen Ostseeraum behaupten sich also mehr als tausend Jahre die einheimischen Fischer-Völker


Ergänzung (9.12.2017): Daß es noch bis 2.300 v. Ztr. auf der Ostsee-Insel Bornholm ein Fischer-Volk gegeben hat, das genetisch auf die einheimische Ertebolle-Kultur zurück geführt werden kann, wo es also noch um 2.500 v. Ztr. weder die Trichterbecher-Kultur noch die Schnurkeramik-Kultur gegeben hat, macht deutlich, daß hier die Verhältnisse ähnlich lagen wie im zeitgleichen Lettland, wohin sich auch erst mit den Schnurkeramikern der Ackerbau ausgebreitet hat. Das heißt, daß entweder die Trichterbecher-Kultur sich nicht besonders aggressiv expansiv Richtung Osten ausgedehnt hat oder daß die dort einheimischen Völker sich gegen die Trichterbecher-Kultur mehr als 1.500 Jahre lang lebenskräftig behauptet haben. Auch letzterer Umstand könnte als bemerkenswert erachtet werden. Daß diese einheimischen Völker weitreichenden Handel per Schiff über die Ostsee und über die in sie mündenden Flüsse betrieben haben, zeigen die Ausgrabungen von Neuwasser in Hinterpommern (Wiki), eine Siedlung, die zwischen 5.000 und 3.000 v. Ztr. besiedelt gewesen ist (15).

/Veröffentlicht unter einem Titel, der sich 
inzwischen als falsch herausgestellt hat, nämlich : 
"4.100 v. Ztr.: Die modernen Nordeuropäer entstehen 
in Ostholstein"; geändert 9.12.2017/

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Literatur

ResearchBlogging.org



  1. Malmström H, Gilbert MT, Thomas MG, Brandström M, Storå J, Molnar P, Andersen PK, Bendixen C, Holmlund G, Götherström A, & Willerslev E (2009). Ancient DNA reveals lack of continuity between neolithic hunter-gatherers and contemporary Scandinavians. Current biology : CB, 19 (20), 1758-62 PMID: 19781941
  2. Price, T., Ambrose, S., Bennike, P., Heinemeier, J., Noe-Nygaard, N., Petersen, E., Petersen, P., & Richards, M. (2007). NEW INFORMATION ON THE STONE AGE GRAVES AT DRAGSHOLM, DENMARK Acta Archaeologica, 78 (2), 193-219 DOI: 10.1111/j.1600-0390.2007.00106.x
  3. Richards, M., Price, T., & Koch, E. (2003). Mesolithic and Neolithic Subsistence in Denmark: New Stable Isotope Data Current Anthropology, 44 (2), 288-295 DOI: 10.1086/367971
  4. Zvelebil, M., & Dolukhanov, P. (1991). The transition to farming in Eastern and Northern Europe Journal of World Prehistory, 5 (3), 233-278 DOI: 10.1007/BF00974991
  5. Hartz, S. & Lübke, H. (2006): New Evidence for a Chronostratigraphic Division of the Ertebølle Culture and the Earliest Funnel Beaker Culture on the Southern Mecklenburg Bay. - In: C.-J. Kind (Ed.), After the Ice Age. Settlements, subsistence and social development in the Mesolithic of Central Europe. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 78 (Stuttgart 2006, Konrad Theiss Verlag), --> pdf..
  6. The Final Frontier: Foragers to Farmers in Southern Scandinavia. In: Gebauer, A.B./Price, T. D. (eds.): Transitions to agriculture in prehistory. Madison, Wisconsin 1992
  7. Ein Lagerplatz der Mittelsteinzeit in Dänemark. In: Spektrum d. Wissenschaft, Mai 1987, S. 114 - 122
  8. Lübke, Harald: Versunkene Welten am Ostseegrund. In: AiD 5/2002, S. 8 - 12
  9. Raetzel-Fabian, Dirk: Ur- und frühgeschichtliche Archäologie. Literaturbericht. In: GWU (= Geschichte in Wissenschaft und Unterricht), Heft 5/6, 2002, S. 375 - 392
  10. Curry, Andrew: A Stone Age World Beneath the Baltic Sea. In: Science, Vol. 314, 8.12.2006, S. 1533 - 1535
  11. Schmölcke, Ulrich; Hartz, Sönke: Revolution an der Küste? Die ersten Bauern Schleswig-Holsteins. In: Schleswig-Holstein 3/2006, S. 6 - 9
  12. Hartz, Sönke; Schmölcke, Ulrich: Spurensuche an der Ostseeküste. In: AiD (= Archäologie in Deutschland), 3/2006, S. 36f
  13. Lübke, Harald; Terberger, Thomas: Abschied vom Wildbeutertum. AiD 3/2006, S. 38f
  14. Rowley-Conwy, Peter: Human Prehistory: Hunting for the Earliest Farmers. Current Biology, Vol. 19, No. 20, R948 --> pdf..
  15. Bading, Ingo: Ostsee-Handels-Schifffahrt lange vor dem Ackerbau. Über die Ausgrabungen in Neuwasser in Hinterpommern seit 2003. Studium generale, 11.7.2017, https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/07/ostsee-handels-schifffahrt-lange-vor.html

Freitag, 17. Juli 2009

Wie breiten sich menschliche Gene und kulturelle Merkmale aus?

Welche Faktoren bestimmen die heutige Verbreitung von kulturell und genetisch bestimmten Merkmalen des Menschen?

Es kann sich dabei im wesentlichen um Zufallsfaktoren handeln. Also es kann sich etwa um das eher zufällige "Herumdriften" von genetisch und kulturell bestimmten Eigenschaften handeln. Diese Eigenschaften "driften" dann - etwa so wie ein Korken, der im Meer schwimmt - auf eher zufällige Weise über die Erdoberfläche, von Kontinent zu Kontinent. Menschen haben, bevor sie sterben, Kinder oder nicht auf eher zufällige Weise und geben an sie auf eher zufällige Weise bestimmte kulturelle Eigenschaften weiter, andere nicht.

Menschen - oder nur die von ihnen weitergegebenen kulturellen Merkmale - wandern über die Erdoberfläche oder bleiben an einem Ort, wo sie geboren wurden und wo die Merkmale entstanden sind - auch eher zufällig. Und dort werden sie von Generation zu Generation weitergegeben oder sie sterben dort wieder aus - auch eher zufällig.

Es kommt an dem einen Ort zur explosiven, zahlenmäßigen Zunahme von Trägern genetisch oder kulturell bestimmter Eigenschaften (durch Bevölkerungswachstum oder durch kulturelle "Moden", Meinungsumschwünge, Anpassungen an eine neue Lebensart, etwa an den "american", "hellenistic", "roman" oder "agrarian" "way of life"). Und an einem anderen Ort vielleicht kommt es zum implosiven Aussterben von Trägern bestimmter genetischer oder kultureller Merkmale.

All das könnte mehr oder weniger regellos, gesetzlos geschehen. Es könnte kaum vorhersehbar, kaum berechenbar sein. Wenn irgendwo vor Ort sich Träger genetischer oder kultureller Merkmale sehr plötzlich vermehren sollten, könnte das bloß ein eher zufälliges "Aufbauschen" von ebenso eher zufällig dort vorhandenen Merkmalen sein.

"Selektion" oder "Drift" - Zufall oder Regelhaftigkeit?


In all diesen Fällen würde man aus Sicht eines evolutionären Denkens sagen, daß hier überall keine oder kaum "Selektion" stattfindet, sondern bloßes "Driften" von Eigenschaften und Merkmalen. Und wenn behauptet wird, die letzten 200.000 Jahre Humanevolution wären insgesamt von "wenig Selektion" bestimmt gewesen (siehe Stud. gen., Alles was lebt), dann wird eben genau das behauptet, was eben ausgeführt worden ist. Zumindest der Tendenz nach.

Nun ist es aber so, daß sich das menschliche Denken - und im Anschluß daran erst recht die Wissenschaft - selten und höchst ungern damit zufrieden geben, wenn von bestimmten Phänomenen bloß gesagt wird, es handele sich halt um - wenig nachvollziehbare - Zufallsereignisse. Dazu ist menschliches Denken und Wissenschaft ja vor allem da, in das Chaos der dem Menschen begegnenden Erscheinungen Ordnung hineinzubringen, in ihnen Muster zu erkennen, wiederkehrende und damit irgendwie regelhafte Abläufe, Gesetzmäßigkeiten zu finden. Vielleicht sogar schließlich Kausalitäten zu entdecken, das heißt Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Und aus der Kenntnis derselben können dann wieder neue Schlußfolgerungen abgeleitet werden, "Nutzanwendungen".

Wir geben uns also selten einfach damit zufrieden, von einem Phänomen zu sagen, es handele sich um ein bloßes Zufalls-Ereignis. - In der Quantenphysik hat man den Charakter der Zufälligkeit und Unbestimmtheit des Umlaufbahnenwechsels eines Elektrons auch erst nach außerordentlich heftigen Debatten anerkannt. Wobei Albert Einstein wohl bis zum Ende seines Lebens daran festhielt, daß Gott "nicht würfele", daß hier also doch noch Kausalzusammenhänge vorliegen müßten.

Würfelt Gott in der Humanevolution?


Um so verwunderlicher, daß manche Wissenschaftler und Wissenschaftsberichterstatter dazu neigen, derzeit vor allem Zufallsfaktoren, statt konkrete selektive Faktoren zu betonen zur Erklärung der heutigen Verbreitung kulturell und genetisch bestimmter Merkmale des Menschen und in der Humanevolution überhaupt. Und zwar das sogar auffällig schnell, noch bevor es überhaupt zu hartnäckigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, wie sie - etwa - zwischen Heisenberg, Bohr und Einstein geführt worden sind. (siehe Stud. gen., Alles was lebt)

Ein Nebengedanke drängt sich hier auf: Überall, wo bloßer Zufall im Spiel ist im menschlichen Handeln, hat das menschliche Verantwortungsbewußtsein weniger Anlaß, sich angesprochen zu fühlen, denn dann handelt es sich ja bloß um eine weitgehend unbeeinflußbare "Glückssache" oder um "Pech". (siehe Stud. gen.). (Ebenso wenig übrigens dann, wenn ein Vorgang stur und unbeeinflußbar, "starr" gesetzmäßig abläuft.)

Wenn also irgendwo von einem Phänomen gesagt wird, es sei weitgehend ein Zufallsereignis (etwa von der Entstehung des Weltalls überhaupt, von der Entstehung des Lebens auf der Erde oder eben von der derzeitigen Verbreitung kulturell und genetisch bestimmter Merkmale des Menschen), dann könnte das auch auf der psychologischen Tendenz und Neigung von Menschen beruhen, sich von eigener Verantwortung bezüglich irgendwelcher Dinge - etwa gar der Natur insgesamt gegenüber oder der eigenen Natur gegenüber - freisprechen zu wollen. Auf diese Möglichkeit soll ja hier nur einmal hingewiesen werden. Sie soll sonst nicht Thema dieses Beitrages sein.

Wünschen wir es uns heute, daß gewürfelt worden sein soll in der Humanevolution?


(Es könnten sich hier jedenfalls immer wieder un-, halbbewußt oder bewußt naturalistische Schlüsse und Fehlschlüsse mit hineinmogeln bei der Beurteilung wissenschaftlich zu erforschender Phänomene. Das würde also dazu führen, daß man jene Aspekte hervorhebt, die einem besonders angenehm erscheinen - für das eigene Selbst- und Weltbild - und man würde versuchen zu vermeiden, solche Aspekte in ihrem Wahrheitsgehalt als richtig anzuerkennen oder zumindest ihren Wahrheitsanspruch ernsthaft zu überprüfen, die einem aufgrund naturalistischer Schlüsse und Fehlschlüsse sowieso schon irgendwie "unangenehm" oder "suspekt" erscheinen.)

Bezüglich solcher Fragen liest sich die im vorletzten Beitrag (Stud. gen.) behandelte Studie "The Role of Geography in Human Adaption" - recht "kryptisch". Sehen wir uns deshalb doch einmal nach Studien um, die sich bezüglich solcher Fragen weniger "kryptisch" lesen und darum eine erste und zugleich auch günstigere Annäherung an die eingangs gewählte Fragestellung ermöglichen.

Dazu soll hier auf den eingängigen Aufsatz "Semes and Genes in Africa" von Barry S. Hewlett (siehe Bild rechts) und Koautoren hingewiesen werden. (1, pdf., siehe auch: 2) In ihren einleitenden Überlegungen im theoretischen Teil nennen Hewlett und Mitarbeiter drei verschiedene Möglichkeiten, wie sich kulturelle Merkmale des Menschen ausbreiten können: 1. zusammen mit der Ausbreitung eines Volkes oder Stammes ("Demic diffusion"), 2. durch Übernahme ursprünglich "ausländischer", fremder Kultur aus einer anderen geographischen Region ("Cultural diffusion"), 3. dadurch, daß lokale Stämme durch Versuch und Irrtum jeweils selbständig bestimmte kulturelle Merkmale entdecken und annehmen ("Local adaption"). Im empirischen Teil untersuchen sie dann, wie es sich bezüglich dieser drei Modelle in der Empirie von 36 ethnischen Gruppen im afrikanischen Raum verhält. Für diese untersuchen sie jeweils 109 scharf umrissene kulturelle Merkmalen, wie sie im viel benutzten "Ethnographischen Atlas" (erstmals von Murdock 1967) weltweit für alle Ethnien zusammengestellt worden sind. (Z. B. Hausbauform, Eheformen, Siedlungsweise, Wirtschaftsweise und vieles andere mehr.)

Drei Möglichkeiten der Ausbreitung kultureller Merkmale


Auf die statistischen Detailerläuterungen und viele andere Detailfragen soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ihr erstes, recht auffälliges Ergebnis ist, daß die natürliche Umwelt wenig Einfluß auf die Verbreitung der untersuchten kulturellen Merkmale hatte. Das würde also zunächst einmal schon sehr gut zu einigen Erkenntnissen der im vorletzten Beitrag behandelten Studie "The Role of Geography in Human Adaption" passen, wo ebenfalls keine sehr engen Zusammenhänge zwischen Klimazonen und genetisch bestimmten Eigenschaften des Menschen festgestellt worden sind (obwohl es sich unter anderem um Hautfarben-Gene handelte), wo aber solche engen Zusammenhänge zwischen genetisch bestimmten Eigenschaften und dem genetischen Verwandtschaftsgrad überhaupt zwischen Bevölkerungen sehr wohl festgestellt worden sind.

Dieses Ergebnis von Hewlett und Mitarbeitern würde - sollte es sich verifizieren und auch die Genetik deutet in diese Richtung - schon so an dem einen oder anderen Lehrsatz der modernen Völkerkunde (Ethnologie, Kulturanthropologie) rütteln, die eben zunächst einmal besonders eine recht paßgenaue genetische und kulturelle Anpassung an die natürlichen Klimaverhältnisse vor Ort unterstellen. Das wäre ja zunächst auch eine der simpelsten und sparsamsten Hypothesen.

Hewlett und Mitarbeiten führen weiter aus, daß sie - entsprechend ihrer Detailstatistik - für 45 der untersuchten 109 kulturellen Merkmale (also für 41 % von ihnen) Erklärungsmodelle der im theoretischen Teil erörterten Art zuordnen können. Für die restlichen kulturellen Merkmale bieten sich noch mehrere unterschiedliche Erklärungsmodelle gleichzeitig an, von denen die Forscher noch keine Gründe wissen, warum sie für sie ein Erklärungsmodell für die Ausbreitung eines kulturellen Merkmals dem anderen gegenüber bevorzugen sollten. Und nun das Hauptergebnis weiter in wörtlicher Wiedergabe (in Eigenübersetzung):
Das demische Diffusionsmodell erklärt die größte Zahl der kulturellen Merkmale (20) und war besonders wichtig, um Verwandtschaft, Familie und (dörfliches, staatliches) Gemeinschaftsleben zu erklären. Die Daten stimmen überein mit den Ergebnissen jüngster Studien (...), die nahelegen, daß Verwandtschaft und Sozialorganisation in Afrika und anderen kulturellen Regionen die Ausbreitung von Gruppen mit bestimmten Arten von Verwandtschaft und Sozialorganisation wiederspiegelt. (...) Es sind dies die klassischen Merkmale südsaharischer, afrikanischer, sozialer Strukturen: unabhängige polygyne Familien mit Frauen in seperaten Behausungen, keine Heirat mit Cousins/Cousinen ersten oder zweiten Grades, clan-basierte Nachbarschaften und shifting cultivation (z.B. Gartenbau). Das demische Diffusionsmodell war ebenfalls besonders wichtig zur Erklärung politischer Stratifikation (Schichtung) oberhalb der Dorfebene. Die Daten legen nahe, daß die politische Komplexität in Afrika vornehmlich auf die Ausbreitung bestimmter Völker zurückzuführen ist und nicht auf kulturelle Diffusion oder lokale Anpassung.

(...) Kulturelle Diffusion erklärte 12 kulturelle Merkmale und war besonders nützlich, um die Verteilung von Hausbauformen und des nachgeburtlichen Verbotes der geschlechtlichen Gemeinschaft zu erklären.
Dieses Forschungsergebnis kann man zunächst einmal auf sich wirken lassen. Der häufigste Fall von Ausbreitung kultureller Merkmale würde also dadurch geschehen, daß ein Stamm einen größeren Bevölkerungszuwachs hat als andere Stämme und dadurch zusammen mit seinem Bevölkerungszuwachs zugleich auch die damit zusammenhängenden kulturellen Merkmale ausbreitet.

Völker breiten sich aus und mit ihnen kulturelle Merkmale


Sicherlich nicht gerade einer der ungewöhnlichsten Fälle, was die Humanevolution und Weltgeschichte überhaupt betrifft. In Nordamerika vermehrt sich etwa das kulturelle Merkmalsmuster "Lebensweise als Amischer" oder "Lebensweise als Hutterer" ebenfalls so gut wie ausschließlich aufgrund des demischen Modells, nämlich aufgrund der Tatsache, daß sich die Populationen der Amischen und Hutterer fast alle 25 Jahre schlichtweg verdoppeln. (Aufgrund ihres Kinderreichtums.)

Wenn man nun noch die oben genannte Erkenntnis dazu nimmt, daß sich möglicherweise auch genetisch bestimmte Merkmale des Menschen vor allem durch ethnisch bestimmte Gemeinschaften ausbreiten (wie man auch an den indischen Stämmen des vorigen Beitrages erkennen konnte und wie man sicherlich auch am Bevölkerungszuwachs staatstragender Mehrheitsbevölkerungen wie der Han-Chinesen erkennen kann), dann schält sich doch mehr oder weniger einfach eine Gesetzmäßigkeit der Humanevolution heraus:

Es mag - weltgeschichtlich gesehen - "flüchtige" kulturelle Diffussion von Lebensweisen geben, nennen wir sie Christentum, nennen wir sie Hellenismus, nennen wir sie globalisierenden "american way of life". Solange sich Ethnien durch diese weltgeschichtlichen "Moden" nicht gar zu sehr beirren lassen und etwa - wie in Indien - trotz Missionierung sich ihren endogamen und sonstigen kulturellen Zusammenhalt bewahren, bewahren sie damit zugleich auch ihr jeweils einzigartiges Muster von kulturell und genetisch bestimmten Merkmalen. Geben sie diesen Zusammenhalt auf, gehen sie einfach - wie etwa in China - in größeren kulturellen und genetischen "Kommunen" auf. Aber auch diese größeren genetischen und kulturellen "Kommunen" gingen hervor aus Ursprungsbevölkerungen, die ursprünglich mit jenen vergleichbar waren, die nun in sie aufgehen.

Humanevolution und Kulturgeschichte vollziehen sich im Wesentlichen in Ethnien


Die Quintessenz dieser Ausführungen wäre also schlicht: Humanevolution und menschliche Kulturgeschichte vollziehen sich im wesentlichen in Ethnien und Völkern und haben sich auch im Wesentlichen nie anders vollzogen. Und es scheint auch kein einziges weltgeschichtliches oder völkerkundliches oder humangenetisches Beispiel zu geben, wo sich all das nun alles ganz anders verhalten hätte oder verhalten würde.

Denn selbst wenn sich bei der Ethnogenese, bei der Entstehung von Völkern vormals ganz unterschiedliche Ausgangspopulationen miteinander verschmelzen sollten (in einem "melting pot of races"), so wäre das Ergebnis ja dennoch wieder eine Ethnie (siehe etwa die von Derek Bickerton erforschten, neu entstandenen Kreolen-Sprachen und die sich mit ihnen potentiell neu formierenden "Ethnien"). (Möglicherweise sind nach diesem Modell viele Sprachen, etwa auch das Deutsche, das Englische, das Französische zunächst einmal ihrer Natur nach - also während der Ethnogenese dieser Völker selbst - "Kreolen-Sprachen" gewesen.) Die menschliche Psyche selbst scheint - schon über die tiefgreifenden, frühen Prägungsmechnismen was Mutterspachen-Erwerb und kindlichen Sprachgebrauch betrifft - in sehr tiefgehender Weise ethnischer Natur zu sein. Und dementsprechend auch viele wesentliche Elemente der Kultur und der Häufigkeitsverteilung von Verhaltens- und Wahrnehmungsgenen.

- Ein Essay von Paul R. Ehrlich und Simon A. Levin betitelt "The Evolution of Norms" in PLoSBiology vom Juni 2005 (2) (siehe auch "Spektrum Direkt" dazu) trägt zu der hier behandelten Thematik zwar keine eigenen empirischen Forschungen vor, scheint aber insgesamt die Aufmerksamkeit von der Erforschung der parallelen Evolution von Genen und Kultur, wie sie von Hewlett und anderen vorangebracht worden ist, abziehen zu wollen auf die Erforschung von bloß soziologischer, bloß kultureller Ausbreitung von Normen und Werten. Besonders interessant erscheint in dem Zusammenhang auch die Verwendung des Begriffs des "moral entrepreneuers (individuals engaged in changing norms)", also des Begriffs eines "moralischen Unternehmers", von "Individuen, die sich darin engagieren, Normen zu ändern". -

Menschliche Gene und kulturelle Merkmale breiten sich parallel aus


Natürlich wollen auch Wissenschaftler Normen verändern. Und natürlich ist auch Wissenschaft dazu angetan, implizit Normen zu verändern. Damit stellen sich Wissenschaftler zunehmend stärker an jene Stelle, die vormals Priester und andere "Geschichtenerzähler" innegehabt hatten.

Aber um die Beantwortung der Frage "Wie breiten sich kulturelle Normen aus?" abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Kulturelle Werte und Normen breiten sich in der Humanevolution, soweit wir bislang sehen, am häufigsten dadurch aus, daß ethnische Gruppen Kinder haben und sich auf diese Weise die kulturellen Werte zusammen mit der Genetik der jeweiligen Gruppen ausbreiten oder zumindest zusammen mit ihnen fortbestehen. Dies gilt, soweit wir aufgrund des Aufsatzes "Semes and Genes" annehmen können, zumindest für Afrika. Und auch die ursprünglich sogar von Cavalli-Sforza vertretene These, daß sich der Ackerbau in Europa nach 5.700 v. Ztr. im Wesentlichen kulturell und nicht demisch ausgebreitet hätte, kann inzwischen seit den Forschungen von Bryan Sykes und anderen sowohl aus der Sicht der Genetik als auch aus Sicht der Archäologie als widerlegt angesehen werden.

ResearchBlogging.orgDie Frage zu klären, wie an einen solchen Sachverhalt dann Konzepte von kultureller und genetischer Gruppenselektion und Gruppenkonkurrenz heranzutragen sind, ist wohl einer der nächsten, bedeutsamen Schritte, den die Forschung in schlüssiger und allgemeingültig nachvollziehbarer Weise aufzuzeigen haben wird.


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  1. Barry S. Hewlett, Annalisa De Silvestri, and C. Rosalba Guglielmino: Semes and Genes in Africa. In: Current Anthropology 43, no. 2 (April 2002): 313-321.  https://doi.org/10.1086/339379
  2. Ehrlich, P., & Levin, S. (2005). The Evolution of Norms PLoS Biology, 3 (6) DOI: 10.1371/journal.pbio.0030194
  3. Wilson, Edward O.; Lumsden, Charles: Das Feuer des Prometheus. Piper-Verlag 1987