Samstag, 21. November 2009

4.100 v. Ztr.: Mecklenburger Jäger und Fischer tragen noch tausend Jahre später einige den Bandkeramiker-Genen verwandte Gene in sich

Aber auch ihre Gene sind heute ausgestorben

/ Achtung! Man lese womöglich erst den Nachtrag ganz unten! /

Die Erkenntnisse zur Humanevolution der frühesten Bauernvölker Europas wachsen derzeit exponentiell an. Fragen, über die sich die Archäologen und Anthropologen seit vielen Jahrzehnten weitgehend unentschieden die Köpfe zerbrochen haben, werden durch neue Studien an Genresten in überkommenen Skeletten ("ancient DNA") derzeit einer einigermaßen definitiven Klärung entgegengeführt. Dies ist ein ungeheurer Fortschritt in der Wissenschaft, über den "Studium generale" gerne sich und andere auf dem Laufenden halten möchte.

Abb. 1: Mesolithische Jäger und Sammler (rot) an den Grenzen des Ausbreitungsgebietes der Bandkeramiker (gelb) - Archäogenetisch sind beide Bevölkerungen klar zu unterscheiden (aus: 2)

Zur Rekapitulation: Um 4.100 v. Ztr. entstand in Ostholstein die älteste Bauernkultur im Ostseeraum, die Trichterbecherkultur (archäologische Stufe "Wangels"). Sie breitete sich in den weiteren Jahrhunderten rund um die Ostsee aus. Überraschenderweise lebten aber zu dieser Bauernkultur benachbart noch 2.000 Jahre lang sehr konservative Bevölkerungen von Fischern, Jägern und Sammlern. So in Südschweden und auf den Schweden vorgelagerten Ostsee-Inseln wie Gotland bis in die Zeit um 2.300 v. Ztr. hinein. Es handelte sich dort um die Kultur der sogenannten Grübchen- oder Kammkeramiker.

Im vorigen St. gen.-Beitrag behandelten wir DNA-Untersuchungen an Skeletten dieser mesolithischen Bevölkerung auf Gotland (1). Sie weist wenig genetische Verwandtschaft mit heutigen Bevölkerungen in Nordeuropa auf. So das Ergebnis. Weder mit heutigen Schweden, noch mit heutigen Saamen. Noch am ehesten kann man von einer genetischen Verwandtschaft mit heutigen Letten sprechen. Aufgrund dieser Untersuchungen kann gefolgert werden, daß die ersten Bauern des Ostseeraumes, die Trichterbecherleute, genetisch ein anderes Profil hatten als die letzten Jäger und Sammler in diesem Raum.

Und genau dieses Ergebnis ergibt sich auch aus einer zweiten, im Oktober an prominenter Stelle veröffentlichten Studie an mesolithischen Skeletten. Unter anderem an Skeletten einer tausend Jahre älteren, ebenfalls sehr konservativ lebenden Bevölkerung im Seengebiet Mecklenburgs, nämlich im Bereich der heutigen Stadt Schwerin (2-4). Genauer in Schwerins südlichem Vorort Ostorf.

Die frühen Schweriner und ihre Stellung in der Weltgeschichte (3.100 v. Ztr.)

Wie man auf Karten sieht, liegen die Stadt Schwerin und ihre Seen zwar geographisch einigermaßen benachbart zu Ostholstein und der Ostseeküste (GMapsa). Aber sie liegen doch zugleich auch viele Kilometer im Landesinneren. Und noch heute kann man an der starken Bewaldung der Seeufer (siehe auch Abb. 2) sehen, daß diese Seeufer bis in unsere Zeit hinein als nicht sehr geeignet für Ackerbau und Viehzucht scheinen angesehen worden zu sein. Und hier wurden 1961 auf der kleinen, seither "Toteninsel" genannten Insel "Tannenwerder" im Ostorfer See (Wiki) etwa 70 Flachgräber aus der Zeit von 3.200 bis 3.000 v. Ztr. ergraben.

Abb. 2: Osdorfer See bei Schwerin

Da diese Skelette sich in den Lagerräumen gut erhalten haben, konnten aus ihnen für die neue Studie DNA-Reste extrahiert und analysiert werden. Überraschenderweise haben auch am Ostorfer See noch um 3.000 v. Ztr., also 1.000 Jahre nach Entstehung der Trichterbecherkultur in Ostholstein (!), Fischer, Jäger und Sammler gelebt. Neueste anthropologische Studien bestätigen die schon 1961, während der DDR-Zeit gemachten, bislang wenig bekannt gewordenen archäologischen Erkenntnisse (3, 4):

„Das waren keine Bauern, sondern Paddler“, sagt Thomas Terberger über die Ostorfer von einst. Ihre Armknochen weisen die modifizierten Muskelansatzstellen auf, wie sie für Kajakfahrer oder Kanuten typisch sind. Und zwar bei Männern wie Frauen. Das jedenfalls entdeckten Mainzer Anthropologen vor kurzem bei einer morphologischen Untersuchung. Die Kiefer verrieten ihnen, dass die Jäger und Sammler das frugale Mahl intensiv kauen mussten. Sie verzehrten Fleisch und Rohkost, aber kaum Kohlenhydrate. Trotzdem konnte ihre mesolithische Diät sie nicht vor Karies bewahren. Auch zeigen die bei Ostorf geborgenen Skelette Abnutzungsspuren auf; die veränderten Bein- und Hüftknochen zeugen von starker Mobilität. Ähnliche Merkmale sind heute bei Marathon- und Langstreckenläufern zu beobachten.

Diese Skelette weisen also auf eine ganz andere, viel konservativere Lebensweise hin, als die Skelette von zeitgleichen Bauern in Norddeutschland. Diese "Ostorfer" müssen eine so ausreichend große Siedlungsdichte an den Seen gehabt haben, daß es ihnen über Jahrhunderte hinweg gelungen ist, sich wahrscheinlich auch militärisch gegenüber den sie umgebenden Bauernvölkern zu behaupten. Schon vom gesunden Menschenverstand ausgehend kann angenommen werden, daß man auch in einem gewissen arbeitsteiligen Austausch-Verhältnis mit den umgebenden Bauernvölkern gestanden haben kann. Wie die Ernährung zeigt, kann dieser Tauschhandel zugleich aber auch nicht sehr intensiv und umfangreich gewesen sein.

Frühe Schweriner waren Langstreckenläufer, Kajakfahrer oder Kanuten

Und exakt dieser Umstand scheint sich auch in ihren Genen widerzuspiegeln. Unter den vielen in der neuen Studie untersuchten DNA-Resten in mesolithischen Skeletten aus Litauen, Polen, Rußland und Deutschland, die alle heute in Europa weitgehend ausgestorbene Gentypen und auch keine Verwandtschaft mit frühen europäischen Bauernvölkern aufweisen, fallen nur die Ostorfer Skelette etwas aus dem Rahmen (2):

Die einzige Ausnahme ist der Ausgrabungsort Ostorf (Norddeutschland), wo zwei Individuen die Haplogruppe T2 besaßen, die auch in unserer Bandkeramik-Stichprobe zu finden ist. Wir sind vorsichtig, wenn wir dies als Zeichen lokaler Vermischung interpretieren, insbesondere weil die T2-Typen Jäger und Sammler und frühe Landwirte unterschiedlichen Unterlinien angehören. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Ostorf kulturell eine mesolithische Enklave ist, die von neolithischen Trichterbecherbauern umgeben ist und der einziger Jäger-Sammler-Ausgrabungsort, an dem Nicht-U-mtDNA-Typen beobachtet wurden.
The only exception is the site Ostorf (northern Germany), where two individuals carried haplogroup T2, which is also found in our LBK sample. We are cautious about interpreting this as a signature of local admixture, particularly because the hunter-gatherer and early farmer T2 types belong to different sublineages, but it is notable that Ostorf is culturally a Mesolithic enclave surrounded by Neolithic Funnel-beaker farmers and is the only hunter-gatherer site where any non-U mtDNA types were observed.

Im Unterschied zu allen sonstigen mesolithisch lebenden, untersuchten Bevölkerungen fand man nur bei den Mecklenburgischen Ostorfern in zwei Skeletten DNA-Reste, die man auch bei dem - nach derzeitigem Stand - heute genetisch weitgehend ausgestorbenen Volk der Bandkeramiker ("LBK") schon in einer früheren Studie gefunden hatte.

Ein kleiner Anteil genetischer Einmischungen von Bauern?

Da die Ostorfer umgeben waren von Trichterbecher-Leuten ("Funnelbeacker farmers"), kann das auf einige Vermischungen entweder mit den Trichterbecherleuten oder mit der vorhergehenden Michelsberger Kultur zurückgeführt werden, welche wiederum in Teilen das genetische Erbe der Bandkeramik oder ihr nahestehender Bevölkerungen in sich getragen haben könnte. Ein genetisches Erbe, das zumindest in seiner Spezifität in den weiteren Jahrhunderten bis heute in Mitteleuropa dann zum größten Teil verloren gegangen ist.

Ausblick

Schon diese ersten "ancient DNA"-Forschungen zeichnen ein sehr differenziertes Bild der frühneolithischen Bevölkerungsgeschichte Europas. Sie werden sicherlich in den nächsten Jahren nach und nach noch viele weitere, differenzierte Erkenntnisse zur Bevölkerungsgeschichte Europas erbringen, auf die man sehr gespannt sein darf.

Nachtrag 2024

Nachtrag 5.4.2024: Indem wir heute eher zufällig auf die Grafik in Abbildung 1 stoßen, die aus der hier behandelten Studie stammt (2), und die wir gemeinsam mit diesen Worten diesem Beitrag als Nachtrag hinzufügen, stellen wir erst fest, daß wir - auch allein anhand des Titels der Studie (2) - schon damals hätten bemerken können, daß die Forscher im Jahr 2009 schon viel mehr zur Völkergeschichte Europas verstanden hatten als wir das in diesem Beitrag hier auf dem Blog damals wahrgenommen und referiert hatten.

Die Grafik illustriert noch heute, fünfzehn Jahre später den ganz erstaunlichen Forschungsstand und der Titel der Studie hatte ihn ebenso klar formuliert: "Keine genetische Kontinuität zwischen den einheimischen Jägern und Sammlern und den mitteleuropäischen ersten Bauern". Dieser Umstand vor allem wäre im vorliegenden Blogartikel zu behandeln gewesen. Aber das war noch zu neu und "ungewöhnlich", unverständlich für den Bloginhaber, als daß er das so einfach hätte wahrnehmen können. Erst ein Jahr später tastete er sich an diese Erkenntnis mit großem Zögern heran (Stgen2010) und fügte in den genannten Beitrag von 2010 erst 2017 Worte ein, die ihn völlig von der neuen Erkenntnis überzeugt zeigten.

Ein gutes Zeugnis dafür, wie sich neue Erkenntnisse am Anfang nur mühsam in schon verkrustete Denkstrukturen einfügen können und diese erst nach und nach "aufbrechen" können. Das mag dem wissenschaftsgeschichtlich Interessierten einmal wieder mancherlei zu denken geben! 

_________________
  1. Bading, Ingo: 4.100 v. Ztr.: Die modernen Nordeuropäer entstehen in Ostholstein. In: Studium generale, 18.9.09.
  2. Bramanti B, Thomas MG, Haak W, Unterlaender M, Jores P, Tambets K, Antanaitis-Jacobs I, Haidle MN, Jankauskas R, Kind CJ, Lueth F, Terberger T, Hiller J, Matsumura S, Forster P, & Burger J (2009). Genetic discontinuity between local hunter-gatherers and central Europe's first farmers. Science (New York, N.Y.), 326 (5949), 137-40 PMID: 19729620; Supplement als freies -->pdf.
  3. Kastilan, Sonja: Die Insel der Zurückgebliebenen. FAZ, 6.9.09.
  4. Zessin, Wolfgang: Steinzeitliche Funde von Ostorf, Kreis Schwerin-Stadt. In: Informationen des Bezirksarbeitskreises für Ur- und Frühgeschichte Schwerin 22 (1982), S. 3 - 15; --> als freies pdf..
  5. Pinhasi R, & von Cramon-Taubadel N (2009). Craniometric data supports demic diffusion model for the spread of agriculture into Europe. PloS one, 4 (8) PMID: 19707595

1 Kommentar:

  1. Indem wir heute eher zufällig auf die Grafik in Abbildung 1 stoßen, die aus der hier behandelten Studie stammt (2), und die wir gemeinsam mit diesen Worten diesem Beitrag einfügen, stellen wir erst fest, daß wir - auch allein anhand des Titels der Studie (2) - schon damals hätten bemerken können, daß die Forscher selbst im Jahr 2009 schon viel mehr zur Völkergeschichte Europas verstanden hatten als wir das in diesem Beitrag hier auf dem Blog damals verstanden und referiert hatten!!!

    Die Grafik illustriert noch heute, fünfzehn Jahre später den ganz erstaunlichen Forschungsstand und der Titel der Studie hat ihn ebenso klar formuliert: "Keine genetische Kontinuität zwischen den einheimischen Jägern und Sammlern und den mitteleuropäischen ersten Bauern". Dieser Umstand vor allem wäre im vorliegenden Blogartikel zu behandeln gewesen. Aber das war noch zu neu und "ungewöhnlich", unverständlich für den Bloginhaber, als daß er das so einfach hätte wahrnehmen können. Erst ein Jahr später tastete er sich an diese Erkenntnis mit großem Zögern heran (Stgen2010) und fügte in den Beitrag von 2010 erst 2017 Worte ein, die ihn völlig von der neuen Erkenntnis überzeugt zeigten!!

    Ein gutes Zeugnis dafür, wie sich neue Erkenntnisse am Anfang nur mühsam in schon verkrustete Denkstrukturen einfügen können und diese erst nach und nach "aufbrechen" können. Das mag dem Wissenschaftshistoriker einmal wieder mancherlei zu denken geben!

    AntwortenLöschen