Sonntag, 31. August 2008

Seßhafte Völker verdauen anders - auch in Zentralasien

ResearchBlogging.org
Zur Verdauungs-Genetik der Völker

Das Enzym NAT2 ist eines der wichtigsten jener Enzyme, die bei Menschen und Säugetieren auf die Verstoffwechselung von Arzneimitteln, Drogen und Giften Einfluß nehmen (also auf Art und Schnelligkeit ihrer Verdauung). Das Enzym beschleunigt die Azetylierung von aromatischen Aminen in Nahrungsmitteln. Der Gen-Ort, der dieses Enzym kodiert, macht Menschen oder andere Säugetiere angeborenermaßen entweder zu schnellen oder zu langsamen "Azetylierern". (Y-Suche: "Azetylierer", Wiki engl.: "Acetylation")

Die Unterscheidung zwischen beiden Menschentypen (schnellen oder langsamen Azetylierern) wird bspw. auch schon in ihrer Bedeutung für die Arbeitsmedizin diskutiert. ("Genetik und Arbeitswelt" 2003, pdf.) Es gibt Hinweise darauf, daß angeborenermaßen schnelle menschliche oder tierliche Azetylisierer ein höheres Risiko haben, an Dickdarm-, Lungen-, Brust- oder Kehlkopf-Krebs zu erkranken, besonders wenn sie lang und gut durchgekochtes Fleisch essen. Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, daß langsame menschliche (oder tierliche) Azetylierer ein höheres Risiko haben, an Prostata- oder Harnblasen-Krebs zu erkranken. (1) Offenbar ist bei Menschen der Typ des schnellen Acetylierers der evolutionär ursprünglichere Typ.

In der Humangenetik wird nun vermutet, daß die Veränderung des Lebensstiles von einer nomadischen zu einer seßhaften Lebensweise die Menschen ganz unbewußt vor neue Herausforderungen bezüglich der Azetylierung ihrer Nahrungsmittel gestellt haben könnte. Dies könnte gelten bezüglich des Verdauens von lang und gut durchgekochtem Fleisch. Aber auch andere Herausforderungen an die Körper und ihre Verdauung könnten einen neuen Selektionsdruck (erhöhte oder verringerte Sterblichkeit) in Richtung auf einen bestimmten Azetylierer-Typ hervorgebracht haben.

Humangenetiker aus Paris

Eine internationale Forschergruppe um den französischen Humangenetiker Etienne Patin in Paris ist dieser Frage genauer nachgegangen (1) (Europ. J. of Human Genetics, 28.11.07). Sie verglichen die Gen-Sequenzen, die das NAT2-Gen kodieren, bei wohl immer schon nomadisch lebenden Kirgisen (KRA und KRM) mit denen von erst seit etwa 500 Jahren seßhaft gewordenen Kasachen (KZ) und Usbeken (UZ), sowie mit wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden seßhaft lebenden Tadschiken (TJA und TJU) in Zentralasien. (Siehe Karte, TK = seßhafte Turkmenen, die schon in einer früheren Studie untersucht worden waren.)




Es wurden die Gensequenzen für NAT2 von mindestens 50 Personen pro genannter Gruppierung untersucht. Von den Kirgisen vermuten die Forscher, daß sie immer schon Nomaden waren, weil sie ursprünglich aus Südsibirien stammen, wo der Ackerbau geschichtlich erst sehr spät und spärlich eingeführt worden ist. "Ihre Nahrung besteht vornehmlich aus Fleisch," schreiben die Forscher - und weiter:
It is widely accepted that the Uzbeks and the Kazakhs were nomads who became sedentarized in the 14–15th century and the 20th century, respectively. They are now agriculturalists and have a diet based mainly on meat and dairy (- also Fleisch- und Milchprodukten). By contrast, the Tajiks are long-term agriculturalists and may represent the descendants of people who made the Neolithic transition in this area (approx. 4000–3000 years ago). They are sedentary agriculturalists rearing cattle. Their food diet is less dominated by meat consumption, contrary to the other populations cited above.
Die Ernährung ist also bei den Tadschiken weniger von Fleisch dominiert als bei den anderen genannten Populationen.

Die Forschungsergebnisse

Die Forscher fanden reinerbig schnelle Azetylierer zu:
- 21 % bei den Kirgisen, zu
- 16 % bei den Usbeken, zu
- 11 % bei den Kasachen und zu
- 8 % bei den Tadschiken und Turkmenen. (Tabelle 2 der Studie)
Falls die oben genannten historischen Annahmen zur Lebensweise stimmen sollten, wäre das ein sehr aussagekräftiges Ergebnis!

Sie fanden genauso eindeutig umgekehrt reinerbig langsame Azetylierer zu etwa
- 60 % bei den Tadschiken,
- 44 % bei den Turkmenen,
- 35 % bei den Kasachen und etwa
- 28 % bei den Kirgisen. (Tabelle 2)
Von diesen finden sich also bei den Tadschiken doppelt so viele wie bei den nomadisch oder erst "kürzlich" seßhaft gewordenen zentralasiatischen Völkern.

Abb. 1: Kirgise *)
"Mischtypen", also Menschen, die auf ihrem einen Chromosom die Version für schnellen Azetylierer und auf ihrem anderen Chromosom die Version für langsamen Azetylierer hatten, fanden sich zu etwa

- 50 % bei Kasachen, Usbeken und Kirgisen aber nur zu etwa
- 30 % bei Tadschiken. (Tabelle 2)
Wurden nur einfache Chromosomen-Sätze betrachtet (also Haplotypen, von denen jeder Mensch zwei hat), so fanden die Forscher die einzige Version des Gens für einen schnellen Azetylierer (NAT2*4), nämlich die ursprüngliche Version dieses Gens, bei 47 % der Haplotypen der Kirgisen, bei 42 % der Haplotypen der Usbeken und bei 38 % der Haplotypen der Kasachen, bei 31 % der Haplotypen der Turkmenen und nur bei 24 % der Haplotypen der Tadschiken. (Tabelle 1 der Studie)


Die Verteilung der diversen neu evolutierten Versionen dieses Gens, die angeborenermaßen langsame Aztylierer hervorbringen (also die Versionen NAT2*12A, *5A, *5B, *5C, *6A, *7B), erwies sich noch als deutlich schwieriger zu interpretieren, zeigte aber eine ebenfalls sehr charakteristisch Verteilung auf. Beispielsweise fand sich die Version NAT2*7B, die sich auch sonst im wesentlichen nur in ost-eurasischen Bevölkerungen findet, bei 23 % der Haplotypen der Kasachen aber nur bei 4 % der Haplotypen der Tadschiken, während die Version NAT2*5B ebenso viele Haplotypen der Kasachen wie der Tadschiken aufwiesen (23, bzw. 24 %).


NAT2*6A fand sich vor allem bei den Tadschiken (etwa 42 %), während wieder abgestuft Usbeken 31 %, Turkmenen 30 %, Kirgisen 25 % und Kasachen nur 13 % aufwiesen. (Tabelle 1 der Studie)

All das - und noch mehr - deutet in jedem Fall auf eine jeweils sehr charakteristische Populationsgenetik und damit historische Demographie dieser Völker hin und macht einmal auf's Neue klar, wie sehr sich auch über Jahrhunderte benachbart wohnende Völker - wahrscheinlich vornehmlich aufgrund unterschiedlicher früherer Populations-Flaschenhälse und aufgrund kultureller Heiratsgrenzen - dennoch deutlich genetisch in Häufigkeits-Verteilungen unterscheiden können.


Die Forscher schreiben:
These significant differences in the frequency distribution of slow/fast acetylation phenotypes depending on lifestyle (...) strongly suggest that being slow acetylator has been an advantage in long-term agriculturalist populations in Central Asia.
Ähnliche Unterschiede haben sie ein Jahr zuvor auch schon für Afrika südlich der Sahara veröffentlicht, wie sie erwähnen, nämlich zwischen den ackerbau-treibenden Bantu-Völkern und den dortigen Jäger-Sammler-Völkern.


Die eigentlichen Selektionsfaktoren sind derzeit noch kaum bekannt und können nur vermutet werden - entsprechend der bekannten Tatsachen aus den einleitenden Ausführungen. Auffällig ist noch, daß das Koppelungs-Ungleichgewicht ("Linkage disequilibrium" = LD) für die entsprechenden Gene bei den Kirgisen viel höher ist als bei den Tadschiken, obwohl doch davon ausgegangen wurde, daß die Kirgisen vornehmlich die ursprüngliche Gen-Variante tragen würden und die Tadschiken die abgeleitete, evolutionär jüngere, deren LD dann eigentlich größer sein müßte. Also auch hier gibt es noch widersprüchliche Tatsachen, die vielleicht damit erklärt werden können, daß die Tadschiken von ganz anderen geschichtlichen "Rest-Misch-Bevölkerungen" abstammen als die vielleicht vor viel kürzerer Zeit aus kleineren Ausgangspopulationen hervorgegangenen Kirgisen. (?)

Die Sogder und ähnliche Völker Vorfahren der Tadschiken?


Zu der Bevölkerungs-Geschichte der Tadschiken noch einige Anmerkungen aus meinem eigenen, jüngsthin erworbenen Wissens-Bestand. Sie leben - offenbar schon seit vielen Jahrtausenden - in einem Gebiet, in dem noch vor 1.500 Jahren das in chinesischen Kunstwerken häufig dargestellte und sehr europäisch aussehende Volk der Sogder gelebt hat. Auch deren Hauptstadt war Samarkand (siehe Karte oben). Die Sogder lebten in den reichen Fürstentümern und Städten der damaligen "Sogdiana", in "Baktrien" (nördliches Afghanistan und Tadschikistan) und in der Ferghana. Und sie waren jenes Fernhandels-Volk, das in langen Karawanen bis nach Korea, China, Indien und Byzanz, sowie zu den Hunnen im Altai-Gebirge und möglicherweise bis an die heutige deutsche Ostsee über Jahrhunderte hinweg Fernhandel getrieben hat. In China lebten sie in "Ausländer-Kolonien" und nahmen hohe Staatsbeamten-Stellen ein.




Diesem Volk entstammte auch die sogdische Prinzessin Roxanne, die Alexander der Große bei der Eroberung des Perserreiches auf seinem Zug durch diese Gebiete (nach der Eroberung der Burg ihres Vaters in der Nähe Samarkands) heiratete. (Siehe viele frühere Studium generale-Beiträge zu den Sogdern aus dem letzten Jahr, vor allem diese: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7)




Ob und in welchem Ausmaß und in welchen Völkern diese zu großen Teilen sicherlich ausgestorbenen Sogder heute noch Nachkommen hinterlassen haben, ist meines Wissens bislang kaum erforscht, bzw. überhaupt als Fragestellung erfaßt. Von den östlich den Sogdern benachbart wohnenden Tocharern wird manchmal vermutet, daß sie ihr genetisches Erbe den heute dort lebenden Uiguren vermacht haben könnten, die europäischer aussehen als die Han-Chinesen. Vielleicht kann also ähnliches teilweise auch von den Tadschiken bezüglich des Vorgänger-Volkes der Sogder vermutet werden. Die europäischen Gene der Sogder und Tocharer könnten übrigens in der chinesischen Geschichte der letzten 1.500 Jahre, wie von dem chinesischen Humangenetiker Bruce Lahn vor einigen Jahren gegenüber Henry Harpending vermutet worden war, durch "Selektion gegen rebellische (ADHS-)Charaktere" sehr weitgehend wieder verloren gegangen sein.




Die Sogder waren sehr nahe verwandt den ihnen weiter nördlich benachbart wohnenden, ebenfalls hellhaarig und europäisch aussehenden skythischen Völkerschaften, die größtenteils nomadisch lebten. Die Sogder selbst aber waren grundsätzlich ein seßhaftes Volk, das von Ackerbau (und eben Fernhandel) lebte. Von den Kirgisen wird man sicherlich vermuten dürfen, daß sie von diesen nomadisch lebenden Skythen und zum Teil von den hunnisch-mongolischen Völkerschaften abstammen, die ursprünglich im Altai-Gebirge beheimatet waren.


Jüngste Humanevolution

Im ganzen ist die hier behandelte Arbeit jedenfalls eine deutliche Ergänzung zu anderen Ergebnissen auf dem Gebiet der menschlichen Verdauungs-Genetik, in der sich die Völker weltweit sehr deutlich unterscheiden entsprechend der bevorzugten Nahrung, die sie zu sich nehmen (Stud. gen., 16.6.07): In Ostasien kann man aufgrund genetischer Veranlagung Alkohl und Rohmilch wesentlich weniger gut verdauen als in Europa. Völker mit Stärke-reicher Nahrung haben deutlich häufiger Genvarianten, die das Verdauen von Stärke-haltigen Produkten erleichtern, als solche Völker mit weniger Stärke-reicher Nahrung (das Enzym Amylase). (s. Stud. gen., 21.10.07)

Zusammen mit diesem neuen Fall handelt es sich bei all diesen um Beispiele für "jüngste Humanevolution", ein Phänomen, das erst einige Jahre bekannt ist, und das unser Bild vom Menschenaber deutlich verändert, da wir Erkenntnisse zu dieser "jüngsten Humanevolution" nicht nur auf dem Gebiet der Verdauungs-Genetik haben oder der Genetik des äußeren Erscheinungsbildes des Menschen (Haut, Haare, Gesicht, Augen - ihre Farbe und Beschaffenheit, Körpergröße und vieles andere mehr) oder der Genetik der Abwehr von Krankheiten oder der Genetik von Erbkrankheiten, sondern eben auch der Verhaltensgenetik (ADHS, MAOA und anderes) und der Intelligenz-Genetik (charakteristische Verteilung der durchschnittlichen Intelligenz-Werte der Völker weltweit entlang eines Süd-Nord-Gradienten, wobei Vermischung zwischen Völkern durchschnittliche IQ-Werte erbringen auf der Mitte zwischen denen der Ausgangsvölker - genau so wie man es auch von allem erwartet, was man von den sonstigen genannten Genetik-Bereichen kennt, eben hier auch von den mischerbigen Azetylierern).

Nochmal die Forscher und was sie in ihrer Einleitung in ihren eigenen Worten schreiben:

With the advent of agriculture, novel foods were introduced, of which the human genome had little evolutionary experience. Thus, farming communities were challenged by new selective pressures that led to the emergence of genetically transmitted phenotypes increasing human survival. Besides digesting new energy-rich nutrients, humans also had to detoxify a wide range of novel xenobiotics, including toxins and carcinogens. For example, changes in the temperature at which meat and fish are cooked modify human exposure to exogenous carcinogens (heterocyclic amines and polycyclic aromatic hydrocarbons), and therefore, increases the risk of developing colon cancer (= Dickdarm-Krebs). This example suggests that the genes involved in the detoxification of exogenous molecules, generally speaking, might have played an important role in human adaptation during the transition from foraging to farming.

Among the enzymes involved in xenobiotic detoxification, arylamine N-acetyltransferase 2 (NAT2) is a phase II drug-metabolizing enzyme (DME), which catalyses the N acetylation of aromatic amines. This DME reached prominence initially as one of the first enzymes to be recognized as a cause of interindividual variation in drug metabolism. Functional polymorphisms at NAT2 gene segregate in humans and in other mammals into rapid and slow acetylation phenotypes. The acetylation status has been previously shown to modify the frequency and/or the severity of drug and xenobiotic toxicity in human populations.

For example, slow acetylators are at increased risk of hepatotoxicity to isoniazid, a major antitubercular drug, because the high and extended circulating concentration of this drug gives rise to toxic effects in humans. Slow acetylators are also at increased risk for prostate and urinary bladder cancers following exposure to aromatic amine carcinogens. Conversely, for example, fast acetylators are at increased risk for colon cancer (also lung, breast and laryngeal cancers) when individuals are highly exposed to heterocyclic amines found in well-cooked meat. In this context, the involvement of acetylation phenotypes in the metabolism of several xenobiotics suggests that they do change the fitness of human populations. Consequently, the changes in human exposure to toxic molecules and carcinogens introduced by the transition to agriculture might have implied a number of modifications in the selective pressures acting on DMEs, as recently shown for the NAT2 gene.
Abschließende Bemerkung

Im Netz scheint sich nur auf dem Blog von Yann Klimentidis (18.12.07) noch etwas zu dieser Studie zu finden. Sonst scheint die Wissenschafts-Berichterstattung diese Arbeit "großzügig" übersehen zu haben. Waren ihr die Zusammenhänge zu kompliziert? Ehrlich gesagt, hab ich auch eine ganze Weile daran geknabbert, bis ich sie einigermaßen kapiert hatte. Erst die Tatsache, daß ich zu "Azetylierern" auch im deutschsprachigen Netz zahlreiche Netzfunde fand, gab mir einige Sicherheit, daß hier einigermaßen Wichtiges behandelt sein könnte.

(ursprünglich veröffentlicht 27.1.2008)
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*) Die Fotos dieses Beitrages dienen nur einer eher oberflächlichen Illustrierung der behandelten Völkerschaften, es handelt sich um eher zufällige Netzfunde, ohne jeden Anspruch darauf, besonders repräsentativ zu sein (dazu fehlen mir nämlich doch genauere Kenntnisse zur rezenten physischen Anthropologie dieser Völker).


  1. Hélène Magalon u.a.: Population genetic diversity of the NAT2 gene supports a role of acetylation in human adaptation to farming in Central Asia. In: European Journal of Human Genetics, (2008) 16, 243–251, published online 28 November 2007Hélène Magalon, Etienne Patin, Frédéric Austerlitz, Tatyana Hegay, Almaz Aldashev, Lluís Quintana-Murci, Evelyne Heyer (2007). Population genetic diversity of the NAT2 gene supports a role of acetylation in human adaptation to farming in Central Asia European Journal of Human Genetics, 16 (2), 243-251 DOI: 10.1038/sj.ejhg.5201963

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