Sonntag, 31. August 2008

Um so größer die Gesellschaft, um so geringer die Großzügigkeit ?

ResearchBlogging.org- Oder bestätigen auch Ausnahmen die Regel?

In diesem Beitrag sollen neue Forschungs-Ergebnisse zur Evolution des menschlichen Altruismus referiert werden (1, Proc. Royal Soc. B [frei zugänglich, pdf.], Spektr. d. Wiss. [s.u.]), wobei ein definitives Urteil über die Bedeutung dieser Forschungen und ihrer Ergebnisse vorbehalten bleiben soll. Vielleicht verschafft man sich auch selbst mehr Klarheit über diese Forschungen, wenn man sie zunächst einmal nur - kritisch hinterfragend - referiert.

Das Spannende an dem Forschungsansatz ist, daß relativ einfache "Kooperations-Spiele" und das Spielverhalten der Teilnehmer dabei weltweit kulturvergleichend untersucht werden. Das heißt, es werden in den verschiedensten Kulturen und Völkern weltweit die selben einfachen Spiele gespielt und die charakteristischen Unterschiede im Spielverhalten der Menschen verglichen. Und zwar sowohl von sehr einfachen Jäger-Sammler-Völkern über agrarisch lebende Völker bis hin zu modernen westlichen Industrie-Gesellschaften.

Zweifel am Versuchs-Ansatz

Nun ist gleich die erste große "Krux" eines solchen Vergleichs: Wenn die Spiele auch noch so einfach gehalten sind, so könnten sie in jedem kulturellen Kontext eine ganz andere Bedeutung haben. Wie man beispielsweise durch die Forschungen zur "Ethnomathematik" feststellt, können verschiedene Völker jeweils schon zum Teil ganz andere Zugänge zu mathematischen Zusammenhängen haben (s. neuerdings wieder in Spektr. d. Wiss.-Online).

Aber auch andere Dinge sind dabei bedeutsam. Der materielle Wert, um den gespielt wird, dreht sich entsprechend des Versuchs-Ansatzes in jeder Kultur um das durchschnittliche Tagesverdienst eines Arbeiters. Das ist natürlich notwendig, um wirtschaftliche und soziale Alltags-Situationen möglichst wirklichkeitsnah zu simulieren. Aber was bedeutet es in einer Kultur, wenn als Spieleinsatz von "ausländischen" Forschern zunächst ein Geldgeschenk in Form des Tagesverdienstes eines einzelnen Arbeiters zur Verfügung gestellt wird?

Wird man eine solche "gebratene Taube", die einem da so fröhlich durch einfache Versuchs-Teilnahme in den Mund geflogen kommt, nicht ganz anders bewerten, als materielle Güter, die man sich durch persönliche Arbeit erst schwer erarbeiten mußte? Und wird auch diese Umstand nicht jeweils wieder kulturspezifisch ganz anders bewertet werden?

"Third-party punishment game"

Im einzelnen nun sieht der Versuchs-Ansatz folgendermaßen aus:

Es gibt drei Spieler, wobei die Spieler einander anonym sind. (Wie das konkret vor Ort erreicht wird, ist im Artikel nicht dargestellt.) Spieler 1 wird der Tagesverdienst eines Arbeiters zur Verfügung gestellt, von dem er Spieler 2 beliebig viel abgeben kann. Also sagen wir einmal - um einen Anhaltspunkt zu haben: 100 Euro. Spieler 3 wird die Hälfte des Tagesverdienstes eines Arbeiters zur Verfügung gestellt - in unserem Beispiel: 50 Euro. Von diesen letzteren 50 Euro kann er entweder alles behalten oder 20 %, also 10 Euro, an den Spielleiter zurückgeben, wenn er bewirken will, daß Spieler 1 automatisch das Dreifache dessen verliert, was er selbst (Spieler 3) dabei verliert. Verliert also Spieler 3 10 Euro, verliert Spieler 1 automatisch 30 Euro. Dies soll dazu dienen, daß Spieler 3 Spieler 1 auf eigene Kosten bestrafen kann, wenn er glaubt, daß Spieler 1 nicht gerecht genug mit Spieler 2 geteilt hat.

Das ist alles schon relativ kompliziert und ich frage mich, wie und ob es die Forscher geschafft haben, diese Spielregeln in sehr verschiedenen Kulturen weltweit den Menschen in gleicher Weise verständlich zu machen. Schon das unterschiedliche Erklären oder Verstehen der Spielregeln könnte zu vielen "Fehlmessungen" geführt haben. Aber man kann vielleicht das Vertrauen haben, daß die Forscher, die ja alle untereinander in Kontakt miteinander stehen und auf Konferenzen ihre Forschungsergebnisse austauschen, es gemerkt haben, wenn in einer Kultur die Spielregeln in auffälliger Weise anders verstanden worden sind als in einer anderen Kultur.

Das ohne Bestrafung akzeptierte Mindestangebot

Der gemessene Wert, der nun zwischen den verschiedenen Kulturen verglichen wird, ist das in einer Kultur durchschnittliche (durch Spieler 3) ohne Bestrafung "akzeptierte Mindestangebot" ("minimum acceptable offer" = MAO). Hier nun die Tabelle mit den Ergebnissen (durch Draufklicken wird's größer):


Aus diesen geht - grob - hervor: Um so größer die Gesellschaft, in denen Menschen leben, um so höher muß das noch ohne Bestrafung akzeptierte Mindestangebot sein. Das heißt grob: in einer großen Gesellschaft muß Spieler 1 durchschnittlich (also in sehr vielen Spielen mit vielen Teilnehmern) sehr viel an Spieler 2 abgeben, wenn er nicht durch Spieler 3 bestraft werden will. In einer kleinen Jäger-Sammler-Gesellschaft braucht er nur 5 % (also in unserem Beispiel 5 Euro) an Spieler 2 abgeben, ohne daß er dabei dann bestraft wird. Erst wenn er weniger abgibt, wird er bestraft. Und wenn er mehr abgibt, wird er erst recht nicht bestraft.

Das heißt: "Gerechtigkeit" beim Teilen wird in kleinen Gesellschaften grob ganz anders empfunden als in großen. Und auch die Motivation, einen beliebigen (anonymen) "Volksgenossen" auf eigene Kosten zu bestrafen, wenn er nicht - im kulturellen Kontext - "gerecht" teilt, ist in kleinen Gesellschaften ganz anders vorhanden als in großen.

Ich frage mich - natürlich! - immer, wie ich mich selbst in solchen Spielen verhalten würde. Ich finde es ziemlich simpel und selbstverständlich, das Geld einfach Fifty-Fifty zu verteilen. Und warum sollte ich als Spieler 3 irgend etwas von den 50 Euro abgeben, nur weil Spieler 1 meiner Meinung nach nicht genügend an Spieler 2 abgegeben hat? Also so für sich verstehe ich, ehrlich gesagt, all diese Forschungen noch nicht.

Mir kommt immer vor: Man müßte erst selbst bei einem solchen von den Forschern geleiteten Spiel dabei gewesen sein, um zu verstehen, warum sie so sicher sind, daraus sehr allgemeingültige Schlüsse ziehen zu können. (Na, vielleicht kommt ja mal irgend wann einer bei mir vorbei und bietet mir 100 Euro an, damit ich bei seinen Spielen mitmache ...) (Ergänzung 28.1.08: Achtung, man beachte die ersten beiden Kommentare zu diesem Beitrag!)

Ich hätte all das nicht referiert, wenn nun nicht die Forscher zum ersten mal glauben, bei solchen kulturvergleichenden Spielchen auf eine gewisse Regel und Gesetzmäßigkeit gestoßen zu sein, die intuvitiv zunächst auch irgendwie einleuchtet: In großen Gesellschaften ist die Bereitschaft zum "empörten" altruistischen Bestrafen größer als in kleinen. - Ich frage mich: Wirklich? - Nun handelt es sich hier um statistische Werte und die flößen einem dann schon auch Vertrauen ein, auch wenn man viele Fehlerquellen im einzelnen meint ausmachen zu können.

Und: Ja, na klar, eines scheint mir einleuchtend: in großen Gesellschaften achtet man - zumal in anonymen Zusammenhängen einer typischen Dienstleistungsgesellschaft - viel mehr darauf, daß gerecht geteilt wird, daß es gerecht zugeht. Großzügigkeit, die Fähigkeit, dem anderen mehr zu gönnen als ich selbst bekomme, geht da sehr oft sehr schnell zum Teufel. Man braucht ja nur Politikern und Gewerkschafts-Bossen zuzuhören. - Und natürlich, soziale Gerechtigkeit ist ein sehr wichtiges Kriterium, an dem sich Gesellschaften messen lassen sollten. (Vor allem, wie ich meine, heute gegenüber Familien, die heute in westlichen Gesellschaften am stärksten unter sozialer Ungerechtigkeit leiden - und damit diese Gesellschaften mit ihnen - denn wir alle leben in familiären Zusammenhängen, gehen - günstigstenfalls - aus ihnen hervor.)

Ist die Evolution von Altruismus identisch mit der Evolution "altruistischen Bestrafens"?

Aber nein, ich kann das Problem herumwälzen wie ich will, ich kommen nicht auf den Trichter, ob ich diesen Forschungen irgend eine größere Bedeutung zum Verständnis der Evolution des menschlichen Altruismus zusprechen soll oder nicht. Ich weiß zum Beispiel schon gar nicht, ob ich "empörtes" "altruistisches Bestrafen" wirklich schon für Altruismus halten soll. Ich glaube, da müßten noch ganz andere Verhaltens-Komponenten und -Motive hinzutreten, bevor ich bereit wäre, das in allgemeinerem Sinne altruistisch zu nennen.

Ich wäre höchstens bereit, ein solches "altruistisches Bestrafen" eine sehr einfache, schlichte Form von menschlichem Sozialverhalten zu nennen. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, daß eine Gesellschaft wesentlich altruistischer ist, in der die Menschen großzügig sind oder sein können und nicht ständig nur mit mißtrauischen Argus-Augen darüber wachen, daß der andere nicht mehr bekommt als man selbst ...

Eine Gesellschaft wie die pompejianische vielleicht (79 n. Ztr. am Vesuv untergegangen), in der die Landenbesitzer so fröhlich an ihre Ladentür schrieben: "Willkommen, Gewinn!" Wer so herzlich und fröhlich und offen sich darüber freuen kann, wenn er viel verdient und das auch seinen Kunden sagt, der, so scheint mir, wird auch großzügig sein im "Abgeben" und nicht mit Argus-Augen darüber wachen, daß er zu wenig kriegt. Nun ist ein so zu beschreibendes "Ressentiment", das mit solchen "altruistischen Bestrafen" sehr eng zusammenhängen könnte, nicht nur nach Peter Sloterdijk und Friedrich Nietzsche ein Ausfluß monotheistischer gesellschaftlicher Mentalität, wie es ein solches in dieser Stärke und Allgemeinheit in vor-monotheistischen Gesellschaften gar nicht gegeben haben braucht ... Welcher Ladenbesitzer würde heute so fröhlich an seine Tür schreiben: "Willkommen, Gewinn!" - ??? - Also: Protestantische Ethik der Knauserigkeit?

Großzügigkeit - seine genetische Basis entdeckt

Übrigens ist jüngst von einem Gen, das bei Prärie-Wühlmäusen die Verhaltensbreite zwischen Monogamie und Polygamie beeinflußt, entdeckt worden, daß es bei Menschen angeborenermaßen Großzügigkeit fördert. (Genes, Brain and Behavior, AFP) Das Gen kodiert den "Arginin Vasopressin 1a-Rezeptor". Nur weiß ich noch nicht, da der Artikel schwer zu beschaffen ist: korrelieren Mono- oder Polygamie mehr mit Großzügigkeit? - Jedenfalls: auch das ist spannend, vielleicht noch spannender als die hier referierten Forschungen!

(ursprünglich veröffentlicht 2.1.2008)
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1. Marlowe, Frank W.; Berbesque, J. Colette: More 'altruistic' punishment in larger societies. In: Proc. R. Soc. B, Dezember 2007 (pdf.)

Frank W. Marlowe, J. Colette Berbesque, Abigail Barr, Clark Barrett, Alexander Bolyanatz, Juan Camilo Cardenas, Jean Ensminger, Michael Gurven, Edwins Gwako, Joseph Henrich, Natalie Henrich, Carolyn Lesorogol, Richard McElreath, David Tracer (2008). More ‘altruistic’ punishment in larger societies Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 275 (1634), 587-590 DOI: 10.1098/rspb.2007.1517

Als Anhang noch der Artikel von "Spektrum der Wissenschaft", weil dieser meistens nicht sehr lange kostenlos lesbar ist. Wer ihn lesen möchte, vergrößere sich ihn bitte selbst:
19.12.07
Verhalten

Die Basis von Justitia

Bestrafung durch Dritte erst bei größeren Gruppen

Gib du mir, dann geb ich dir, aber wehe: Legst du mich rein, bestraf ich dich dafür - gerechtes Teilen fällt manchmal schon bei zwei Personen schwer. Sanktionen sind keine Seltenheit und womöglich die Grundlage jeglichen sozialen Zusammenlebens. Dass ein Dritter als unabhängiger Richter eingreift, scheint aber erst in umfangreicheren Gruppen üblich. Im Juni 2006 erfuhren wir von Joseph Henrich, Anthropologe an der Emory-Universität in Missouri, dass Geben und Nehmen keiner Globalisierung unterliegt, sondern von Volk zu Volk sehr unterschiedlich aussehen kann - ebenso wie Bestrafen. Während die tansanischen Hadza-Nomaden beispielsweise sich in den üblichen Verteilungsspielchen als wenig spendabel erwiesen, waren die kolumbianischen Sanquianga-Fischer dagegen ausgesprochen freigebig.

Allerdings blieben die Nomaden relativ gelassen, wenn sie selbst beim Verteilen unfair benachteiligt wurden, was wiederum die Fischer überhaupt nicht hinnahmen und im nächsten Spielzug kräftig sanktionierten - und zwar sowohl bei zu niedrigen als auch zu hohen Gaben. Auch war es egal, ob sie selbst betroffen waren oder als unabhängige Dritte den Vorgang beurteilen sollten.

Letztendlich geht es bei diesen Experimenten immer darum, wie sich Kooperation entwickeln konnte - und wie sich eine Gesellschaft dagegen wehrt, von Einzelnen ausgenutzt zu werden. Schließlich scheint so etwas wie selbstloses Verhalten kaum erklärbar: Warum sollte jemand einem anderen helfen, ohne selbst Nutzen daraus zu ziehen? Dass es doch funktioniert, beruht offenbar zu einem wichtigen Teil auf der Möglichkeit, solche zu bestrafen, die nur nehmen, aber nicht geben.

Doch gibt es hier eben zwei Alternativen: Entweder tragen es die beiden Beteiligten nach dem altbekannten Motto "Wie du mir, so ich dir" untereinander aus, oder aber es gibt eine dritte, unabhängige Instanz, die den ungerechten Egoisten in die Schranken weist. Frank Marlowe und Colette Berbesque von der Florida State University suchten nun nach allgemeinen, zu Grunde liegenden Regeln, wie ein solcher Konflikt ausgetragen wird - unter sich oder mit "richterlicher" Beteiligung. Und nahmen sich unter diesem Gesichtspunkt die Daten von Henrich noch einmal vor.

Sie ermittelten sowohl die Größe der lokal zusammen lebenden Gruppen als auch der jeweiligen Ethnien insgesamt. Außerdem errechneten sie, welcher Mindestbetrag der eine Mitspieler spenden musste, um vom beobachtenden Dritter nicht bestraft zu werden - wie wenig also ein Volksangehöriger einem anderen geben konnte, ohne als unfair eingestuft und diszipliniert zu werden.

Dabei fanden sie einen statistischen Zusammenhang mit den geschilderten Reaktionen: Je kleiner die jeweilige Gemeinschaft, desto niedriger lag die Strafgrenze - der zweite Beteiligte konnte als mit einer sehr geringen Gabe abgespeist werden, ohne dass der geizige Geber Folgen fürchten musste. Die Angehörigen größerer Gruppen erwiesen sich hingegen als weniger nachgiebig: Sie griffen schon sehr viel früher zu Sanktionen, waren also weitaus mehr darauf bedacht, dass angemessen geteilt wurde.

Für die Forscher ist damit klar: Die Beurteilung und Bestrafung durch einen Dritten ist ein Merkmal größerer und komplexerer Gemeinschaften. Was sie für durchaus plausibel halten. In kleineren Gruppen kenne jeder jeden, und eine Vorteilnahme auf Kosten anderer führe schlicht zu einem schlechten Ruf. Der seinerseits allen anderen die "Bestrafung" vereinfacht: Sie gehen dem Schmarotzer aus dem Weg - er ist isoliert. Ein höherer Richter, der für Ordnung sorgt, ist unter diesen Umständen völlig überflüssig.

In umfangreicheren Gemeinschaften aber nehme die Anonymität zu - und damit der Einfluss der Reputation ab. Hier sind andere nicht durch den Leumund vorgewarnt und werden so leichter Opfer von Ausnutzung. Um solches Missverhalten einzudämmen, ist eine richterliche Instanz weitaus besser geeignet, die sich nicht auf Hörensagen verlässt und auch bei Fremden keine Zurückhaltung kennt. Ganz auf den Obersten verzichten trotzdem die wenigsten: Einen Chef der Gesellschaft findet man fast immer - mindestens als moralische Instanz.

Antje Findeklee
Quellen:
Proceedings of the Royal Society B 10.1098/rspb.2007.1517 (2007)

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