Montag, 1. Juni 2020

Völkergeschichte des europäischen Mittelneolithikums - Sie wird komplexer

Eine neue archäogenetische Studie zum Neolithikum Frankreichs (1, 2) wartet mit zahlreichen neuen Erkenntnissen auf:
  1. Frankreiches ersten Bauern vermischten sich gleich zu Anfang zu 15 bis 30 % mit den einheimischen Jägern und Sammlern (anders als im zeitgleichen Deutschland).
  2. Die Michelsberger und die Trichterbecher-Kultur (4.300 bis 2.800 v. Ztr.) (in Deutschland) könnten durch Zuwanderungen aus Frankreich entstanden sein.
  3. Die Männer der europäischen Jäger und Sammler haben mehr zur Ethnogenese der europäischen neolithischen Völker beigetragen als ihre Frauen. Die Frauen der zuwandernden mediterranen Völker haben mehr zur Ethnogenese dieser Völker beigetragen als ihre Männer.
Übrigens: Parallel zu diesem Blogartikel veröffentlichen wir auch ein Video, in dem die Inhalte dieses Blogartikels referiert werden (3).

Der Neolithisierungsprozeß ab 6.300, bzw. 5.700 v. Ztr. erfolgte erstaunlicherweise im damaligen Frankreich und Spanien anders als im damaligen Deutschland. Zu diesem Thema ist eine neue archäogenetische Studie erschienen (1, 2), die aber zusätzlich dazu auch noch mit zahlreichen weiteren neuen Erkenntnissen aufwartet. Ab 5.700 v. Ztr. haben sich die anatolisch-neolithischen Bauern als Bandkeramiker vom Wiener Becken aus über ganz Mitteleuropa ausgebreitet. In ihrer Formierungsphase im Wiener Becken haben sie sich mit 5 bis 7 % dort einheimischer Genetik - vorwiegend osteuropäischer und vielleicht vorwiegend männlicher Jäger und Sammler - vermischt. Da sich die Kultur der Bandkeramiker aber weitaus deutlicher von der Bauernkultur auf dem Balkan unterschied als ihre Gene, könnte vermutet werden, daß der kulturelle Beitrag der Einheimischen zur neuen Bauernkultur größer war als die genannten 5 bis 7 % Genetik nahelegen würden. Sie könnten zum Beispiel auch maßgeblich zur Muttersprache der neuen Kultur beigetragen haben (wie hier auf dem Blog schon in früheren Beiträgen gemutmaßt).


Abb. 1: Das Volk der Cardial-Keramik - Es stammt aus dem Levanteraum
(Eine Karte von José-Manuel Benito Álvarez, Wiki)

Im zeitgleichen Südfrankreich vollzog sich die Ethnogenese der dortigen Bauernvölker anders. In der neuen Studie heißt es (1):
Die untersuchten vier südfranzösischen Gruppen (...) legen ein sehr frühes Vermischungsereignis mit lokalen Jägern und Sammlern (100 bis 300 Jahre) nach der Ankunft der neolithischen Bauern um 5.850 v. Ztr. nahe mit einem Vermischungsdatum um 5.740 bis 5.450 v. Ztr. für alle Gruppen. Diese Datierungen stimmen mit den lokalen archäologischen Daten für die Einführung der bäuerlichen Lebensweise in dieser Region überein.
The four southern French groups from sites PEN A and B and LBR B suggest admixture with local HG relatively soon (100 to 300 years) after the arrival of Neolithic farmers about 5850 cal BCE, with an admixture date about 5740–5450 cal BCE for all groups (table S17). These date estimates agree with local archaeological data for the establishment of early farming in this region.

Dort stellte sich im Verlauf von mehreren Generationen der Ethnogenese eine Genetik als "evolutionsstabil" heraus, die 15 bis 30 % einheimische Genetik in sich mit einschloß. Die einheimische Genetik kam hier sehr deutlich vor allem über die männliche Linie in die Gründerpopulation. Auch hier ist natürlich zu berücksichtigen, daß wir nicht wissen, wessen Muttersprache mehr zur neuen Kultur beigetragen hat.

Neolithisches Bevölkerungswachstum in Südfrankreich deutlich verzögert

Einfügung, 20.10.21: Eine der frühesten neolithischen Kulturen Frankreichs (Wiki) war die La Hougette-Kultur (Wiki), sie wird von der Forschung als die älteste Keramik nutzende Kultur Frankreichs angesprochen, wird aber zugleich auch als eine Hirten-Kultur angesehen. Diese dürfte in der Besiedlungsdichte noch nicht mit der der Bandkeramik vergleichbar gewesen sein. Dies scheint auch aus einer neuen Studie zur Bevölkerungsentwicklung des Mittelmeerraumes hervorzugehen, in der der eigentliche neolithische Bevölkerungsanstieg für Südfrankreich erst auf die Zeit ab 5.000 v. Ztr. datiert wird (15):

... Dies führte zu einem deutlichen Höhepunkt der Aktivitäten während der Mitte des 6. Jahrtausends v. Ztr. in Süd- und Mittel-Italien, Sardinien, Korsika und auf den maltesischen Inseln. Im Gegensatz dazu tritt der höhepunkt der neolithischen Aktivitäten im südöstlichen Frankreich und in Norditalien während des 4. Jahrtausends v. Ztr. auf.
This led to a pronounced apogee in activity in around the mid sixth millennium BC in southern Italy, central Italy, Sardinia, Corsica and the Maltese Islands (Fig. 4, point B). In contrast, the apex of Neolithic activity occurs later in southeast France and northern Italy during the mid fourth millennium BC.

In der aussagekräftigen Tabelle 3 heißt es dementsprechend (15):

Frühes neolithisches Bevölkerungswachstum Südostfrankreich 5.000 bis 4.600 v. Ztr..

Das heißt, das eigentliche neolithische Bevölkerungswachstum setzt in fast allen Mittelmeer-Regionen früher ein in Mitteleuropa mit der Bandkeramik (ab 5.600 v. Ztr.), nur in Südfrankreich setzt es sogar deutlich später ein nicht nur als in allen anderen Mittelmeer-Regionen, sondern auch später als in Mitteleuropa! (Ende der Einfügung)

Damit ergaben sich jedenfalls ab 6.300 v. Ztr. in (der Keramik-Hirten-Kultur) Südfrankreichs auf genetischer Ebene Verhältnisse, wie sie sich im Balkanraum und in Mitteleuropa erst nach dem Untergang der Bandkeramik in den Gründerpopulationen ihrer Nachfolgekulturen - während des Mittelneolithikums - ergaben. Im Mittelneolithikum hat auch in Mitteleuropa die extensivere Herdenwirtschaft an Bedeutung gewonnen. Vielleicht fiel es den einheimischen Jägern und Sammlern leichter, zu Herdenhaltung überzugehen als - gleich im ersten Schritt - zur intensiven, arbeitsreichen, mühsamen Bodenbearbeitung. Für letzteres ist die Bandkeramik bekannt. Sie nutzte dafür die sehr guten damaligen Schwarzerde-Böden der Lößebenen Mitteleuropas (die heute nach 7000 Jahren Ackerbau nur noch Braunböden sind, aber immer noch vergleichsweise fruchtbar sind). Vielleicht ergab sich aus diesem Vorhandensein der Lößebenen in Mitteleuropa ganz "automatisch", daß die anatatolische Herkunftskomponente bei den Bandkeramikern größer bleiben mußte als in anderen Regionen Europas, wo womöglich schon im Frühneolithikum eher auf extensive Weidewirtschaft gesetzt wurde (oder gesetzt werden mußte) - ? Oder gibt es in Südfrankreich, bzw. Frankreich vergleichbare Lößebenen? Diese Gedanken kommen uns in diesem Zusammenhang.

Da sich diese genetischen Unterschiede (unterschiedlich große Herkunftsanteile) im Frühneolithikum Frankreichs und Deutschlands schon mit dem Mittelneolithikum und der Ausbreitung der Michelsberger Kultur angeglichen haben, haben sie vermutlich nur wenige Nachwirkungen hinterlassen (etwa in Bezug auf heutige genetische Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland). (Immerhin wäre interessant, der Frage nachzugehen, ob es nicht dennoch "Spurenelemente" dieser Nachwirkungen gibt.)

Einmal erneut aber ist es faszinierend zu beobachten, welche vielfältigen Vorgänge bei der Ethnogenese von Völkern und Kulturen möglich sind. Aus Frankreich hat man aus dem Frühneolithikum - auch rein archäologisch - bei weitem nicht ein so einheitliches Kulturbild gewinnen können wie es für die Bandkeramik in Deutschland so eindrucksvoll gewonnen worden ist in den letzten 40 Jahren Forschung. Es muß nicht unwahrscheinlich sein, daß sich deshalb beide Regionen im Frühneolithikum auch in der Siedlungsdichte und in der ganzen Lebensart deutlicher unterschieden haben könnten. Vielleicht hat es also in Frankreich schon im Frühneolithikum eine Siedlungsdichte gegeben, die sich in Deutschland erst ab dem Mittelneolithikum ergab.

Bezüglich der europäischen Siedlungsdichte im Mittel- und Spätneolithikums ist allerdings neuerdings zusätzlich zu beachten, daß der Archäologe Detlef Gronenborn für die Michelsberger Kultur inzwischen von "Anfängen der Urbanisierung" - nämlich auf Höhenburgen wie dem Kahlenberg oder dem Glauberg in Mittelhessen - mit Königsgräbern spricht, Höhenburgen also, die den bronzezeitlichen mitteleuropäischen Höhenburgen schon vorausgegangen sind und ihnen ähnelten (siehe voriger Blogbeitrag). Wenn solche Anfänge von Urbanisierung in die Siedlungsdichte mit einbezogen werden, könnte womöglich sogar von einer eher gleichbleibenden Siedlungsdichte seit der Bandkeramik in Mitteleuropa gesprochen werden, nur daß eben die ländlichen Siedlungen dünner verteilt waren und ihnen noch die seltener in der Landschaft auftretenden, aber etwaig dichter besiedelten (proto-)urbane Zentren zugerechnet werden müssen.

An der hier ausgewerteten Studie (1) ist als Koautor der Archäologe Detlef Gronenborn tatsächlich auch beteiligt. Und man merkt gleich schon an der einleitenden, rein archäologische Analyse des Kenntnisstandes, der in Bezug gesetzt werden soll zu den neuen archäogenetischen Daten, daß diese Analyse sehr durchdacht, differenziert ist. Das war in bisherigen archäogenetischen Studien so deutlich noch nicht zu beobachten.

In der Studie ist zu erfahren: Menschen der Impresso-Cardial-Kultur (ICC), die an den Küsten der Adria lebten, glichen genetisch den Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft, wie sie zeitgleich im gesamten Balkan- und Donauraum lebten (1). - - - Ein etwaiger kleinerer genetischer Unterschied also, der sich aus einer etwaigen Herkunft aus dem Levanteraum ergeben haben könnte (die von Seiten einiger Archäologen für die Cardial-Kultur angenommen wird, s. Abb 1) im Gegensatz zur Herkunft der Festlandbauern auf dem Balkan aus Anatolien, scheinen die Forscher nicht festgestellt zu haben. Ob sie genau genug hingeschaut haben oder ob Leventeraum und Anatolien genetisch damals zu homogen waren, um Unterschiede finden zu können?

Regionaler Gruppenzusammenhalt in Oberehnheim im Elsaß (5.000 bis 4.400 v. Ztr.)

Menschen derselben Impresso-Cardial-Kultur, die zur selben Zeit an der Küste Südfrankreichs lebten, stammten jedenfalls nun zu einem deutlich größeren Anteil von vormals dort einheimischen Jäger- und Sammler-Populationen ab. ("Individuals from southern France do not group with ICC individuals from the Adriatic region, who fall within the subgroup of southeastern and central European farmers.") Innerhalb von Zentral-Frankreich scheint es dann - wie in der parallelen Bandkeramik - über weite Entfernungen hinweg eine genetisch homogene Bauernpopulation gegeben zu haben (1):

Menschen der mittelneolithischen französischen Ausgrabungsorte Gurgy (GRG), Prissé-la-Charrière (PRI), und Fleury-sur-Orne (FLR) in der nördlichen Hälfte von Frankreich scheinen (genetisch) homogen gewesen zu sein (...), während sich die Menschen vom Ausgrabungsort Oberehnheim (franz. Obernai) im Elsaß aus drei Gruppen zusammen setzten: eine glich den (genannten) zeitgleichen Menschen weiter westlich, eine hatte einen höheren Anteil von Jäger-und-Sammler-Genetik und eine dritte glich der Bandkeramik-Genetik. Und das obwohl alle drei ähnlichen kulturellen und chronologischen Hintergrund hatten.
Individuals from the Middle Neolithic French sites of Gurgy (GRG), Prissé-la-Charrière (PRI), and Fleury-sur-Orne (FLR) in the northern half of France appear homogeneous (...), while the individuals from the site Obernai (OBN) form three groups: one with other contemporary western individuals (OBN A), one with a stronger HG component (OBN B), and a third one with central European farmers (OBN C), despite sharing similar cultural and chronological backgrounds.
Der hier genannte elsässische Siedlungsort Oberehnheim (Obernai) wird auf 5000 bis 4400 v. Ztr. datiert (1, Suppl.), also auf die Umbruchszeit am Ende der Bandkeramik. Die Archäologen Philippe Lefranc, Hélène Réveillas schreiben (1, Suppl):
Nach den archäologischen Daten (insbesondere den Keramik-Stilen) waren diese Gräber verbunden mit unterrschiedlichen, aufeinander folgenden nach-bandkeramischen Gruppen dieser Region: Großgartach, Planing-Friedberg und Rössen. Der Siedlungsort war in drei unterschiedliche Bereiche gegliedert, die chronologisch aufeinander folgen. Der südlichste Bereich mit drei Großgartach-Gräbern ist der älteste. Der mittelere Bereich enthält zwei Gräber, die kulturell der Planing-Friedberg-Gruppe zugeordnet werden können, während der nördliche Bereich am dichtesten besiedelt war und Planing-Friedberg- und Rössen-Gräber aufwies.
Based on archaeological data (specifically the pottery styles), these inhumations were associated with the different successive post-LBK groups known in the region: Großgartach, Planig-Friedberg, and  Rössen. The site is organised in three different areas which are chronologically successive. The southern-most area, with three Großgartach attributed graves, is the most ancient. The central area contains two Planig-Friedberg culturally-related burials, while the northern part is the densest area, containing Planig-Friedberg and Rössen attributed burials.

Hier wird deutlich, daß es nach dem Untergang der Bandkeramik in dieser Region zu einer recht schnellen Abfolge sowohl kulturell wie genetisch recht unterschiedlicher Bevölkerungen/Völker gekommen ist, die am selben Siedlungsort gelebt haben. Das dürfte ein sehr interessanter Befund sein. In ihm spiegelt sich viel Dynamik wieder. Ist es so, daß jede dieser regional und kulturell nur sehr kleinteilig zu umreißenden Gruppierungen jeweils seine eigene Genetik der Herkunftsanteile hatte? Leider scheint dieser Umstand nicht ausführlich und eindeutig genug in der Studie erörtert zu werden. Aber das wäre doch ein außerordentlich aufregender Befund. Nämlich daß Kultur und Gene nicht nur in den großen Zügen der Völkerbewegung parallel gehen, sondern auch auf so kleinteiliger, regionaler Ebene. Es wäre das ein Hinweis auf den engen Zusammenhalt von Völkerschaften, nachdem sie sich einmal gebildet hatten in Umbruchszeiten. Es wäre das ein noch deutlicherer Hinweis als jemals, daß frei "diffundierendes" Multikulti auf individueller Basis und für sich genommen keineswegs Sache des Neolithikums gewesen ist, sondern daß sich immer wieder sehr schnell neue Gruppen mit je spezifisch eigener kultureller und genetischer Identität bildeten.

Vielleicht kann man damit auch ein wenig besser verstehen, in welche Zusammenhänge man die westliche La Hougette-Keramik im Kontext der vormaligen bandkeramischen Siedlungen (4) stellen könnte: Die Träger der La Hougette-Keramik könnten einerseits einen höheren Anteil Jäger-Sammler-Genetik aufgewiesen haben und könnten auch kulturell anders gelebt haben. Andererseits standen sie genetisch den Bauern der Bandkeramik auch insofern nahe, da beide ihre Herkunft auf das neolithische Anatolien (oder den Levanteraum) zurück führen konnten. Die beteiligten Archäologen halten sich in dieser Studie (1) aber sehr zurück mit Aussagen zur großen ungeklärten Frage der La Hougette-Keramik in westlichen bandkeramischen Siedlungen. - Hochinteressant ist jedenfalls nun zusätzlich noch die folgende Erkenntnis (1):

Y-chromosomale Linien stammen bei den westlichen frühen Bauern in der südlichen Region (Frankreichs) von Jägern und Sammlern.
Y chromosome lineages in western early farmers in the southern region are exclusively derived from HG.

Dasselbe stellt die Studie für  den mittelneolithischen Siedlungsort Oberehnheim (Obernai) im Elsaß fest (1):

Männliche Individuen von Oberehnheim besaßen ausschließlich Y-chromosomale Haplogruppen I2a1a2 und C1a2b, die Jäger-Sammler-Gruppen zugesprochen werden.
Male individuals from OBN carry exclusively the Y chromosome haplogroups I2a1a2 and C1a2b, attributed to HG groups.

Das ist ein Zusammenhang, der uns auch schon bei der Ethnogenese der Bandkeramiker im Wiener Becken dämmerte, ebenso womöglich bei der Ethnogenese der Yamnaja-Indogermanen an der Mittleren Wolga. Vielleicht wird hier - ähnlich der Verbreitung von Yamnaja-Genetik (ab 2.800 v. Ztr.) und skandinavischer Genetik (ab 400 v. Ztr.) mehr über Männer als über Frauen - eine Art "Gesetzlichkeit" für die europäische Völkergeschichte erkennbar: Vielleicht haben sich einheimische europäischen Männer - als Hirten - leichter an die einwandernde Bauernkultur anpassen können als einheimische Frauen. Und vielleicht waren Frauen in der zuwandernden, Boden bearbeitenden Bauernkultur weniger zu ersetzen als die Männer. Auch sonst deutet sich ja in den anatolisch- (vielleicht auch iranisch-)neolitischen Bauernvölkern eine stärkere weibliche Komponente in der Kultur an (z.B. in den "Göttinnen-Figuren"). Frauen könnten also sowohl bei den frühen Bauern wie bei den einheimischen Fischern, Jägern und Sammlern das konservativere Element der Bevölkerung gewesen sein, jenes Element, das eher an der kulturellen Tradition festgehalten hat als die Männer. Die jeweilige Lebensweise könnte also eher durch die Frauen als durch die Männer stabilisiert worden sein, während die jeweiligen "Neuerungen" innerhalb der Kultur durch die "fremden" Männer herein gekommen sein könnten.

Jedenfalls scheint sich auf den ersten Blick die einheimische europäische genetische Komponente durch die ganze Geschichte Europas hindurch eher über die männliche als über die weibliche Linie in Nachfolgekulturen erhalten zu haben, die zuwandernde, südliche neolithische genetische Komponente eher über die weibliche Linie. (Der westeuropäischen, einheimischen, männlichen, genetischen Jäger-Sammler-Komponente wurde erst durch die Zuwanderung der männlichen osteuropäischen Yamnaja-Genetik der Garaus gemacht. Dabei hätte dann eine einheimische europäische "männliche" Genetik, nämlich die osteuropäische eine andere einheimische europäische, "männliche" Genetik, nämlich die westeuropäische "ersetzt".)

Das "Goyet-Cluster" mitteleuropäischer Jäger und Sammler

In dieser Studie lesen wir zum ersten mal von einem "Goyet-Cluster", das sich als eine eigene genetische Verwandtschaftsgruppierung unter den europäischen mesolithischen Jägern und Sammlern herauskristallisiert, und das sich sowohl von einem west- wie einem osteuropäischen Cluster noch einmal unterscheidet (1). Dieses "Goyet-Cluster" ist benannt nach einem belgischen Fundort und seine Menschen haben sowohl in der Schwäbischen Alp (Fundort "Hoher Fels") als auch in Nordburgund (Fundort Rigney in Frankreich) gelebt. Ja, dieses Goyet-Cluster erstreckte sich (nach Fig. S4 im Suppelment) in kleinen Herkunftsanteilen sogar bis nach Rumänien. Und dieses "Goyet-Cluster" steht zeitgleichen spanischen Jägern und Sammlern genetisch am nächsten, die wiederum genetisch den übrigen westeuropäischen Jägern und Sammlern nahestehen, die sich von Norditalien bis England verteilen. Somit könnte man nach der Eiszeit nicht nur Ausbreitungsbewegungen von norditalienischen Jägern und Sammlern bis nach England beschreiben ("Villabruna-Cluster"), sondern auch Ausbreitungsbewegungen von spanischen Jägern und Sammlern bis in den Raum rund um das Elsaß ("Goyet-Cluster"). Solche außerspanischen Verwandtschaftsbeziehungen waren vage auch schon in der letzten David Reich-Studie zur Archäogenetik Spaniens angeklungen. Und in der Studie heißt es nun bezüglich dieser drei nacheiszeitlichen Herkunftsgruppen in Europa, daß die ersten Bauern Frankreichs andere vorneolithische europäische Herkunftsanteile in sich trugen als die Bandkeramiker, die ersten Bauern Deutschlands (1):

Wir vermuten, daß die frühen neolithischen Bauern, die sich über die Mittelmeer-Route ausgebreitet haben und durch die Nutzung von Impresso-Cardial-Keramik gekennzeichnet waren, insbesondere jene, auf die die Populationen in Frankreich und Spanien zurückgehen, weniger Herkunftsanteile in sich trugen, die den osteuropäischen Jäger und Sammlern nahestanden und dafür mehr Herkunftsanteile in sich trugen, die den westeuropäischen Jägern und Sammlern, sowie der genannten spanischen Goyet-Komponente nahestanden.
We hypothesize that Early Neolithic farmers of the Mediterranean route associated with ICC Ware and especially those arriving in France and Spain show less ancestry from the EHG side of the EHG-WHG cline and instead carry an admixture signal dominated by Villabruna-related WHG and GoyetQ2-related ancestries. 

Das steht im Gegensatz zu der kleinen, eher den osteuropäischen Jäger und Sammlern nahestehenden Komponente, die die Bandkeramiker in sich trugen (orientiert an einem sequenzierten Jäger und Sammler aus Ungarn, benannt "KO1") im Gegensatz zu einer eher den westeuropäischen Jägern und Sammlern nahestehenden Komponente, die die ersten französischen in sich trugen (orientert an einem sequenzierten Jäger und Sammler aus Loschbour in Luxemburg). Aber für das Mittelneolithikum ergeben sich für diese ursprünglichere räumliche Gliederung - östlich und westlich des Rheins - wiederum Ausnahmen (1):

Die Ergebnisse deuten eine Tendenz an dahingehend, daß bäuerliche Gruppen östlich des Rheins mehr Herkunftsanteile mit (dem ungarischen, osteuropäischen Mesolithikern) KO1 aufweisen und bäuerliche Gruppen westlich des Rheins mehr mit den (luxenburgischen, westeuropäischen Mesolithikern) Loschbour. Bemerkenswerte Ausnahmen stellen Individuen dar der mittelneolithischen Blätterhöhlen-Gruppe, Individuum N22 aus Polen und unser Individuum (aus Tangermünde an der Havel) TGM009, die alle eine stärkere Nähe zu westeuropäischen Jägern und Sammlern aufweisen, obwohl sie östlich des Rheins gelebt haben.
The results show a tendency for farmer groups east of the Rhine to share more ancestry with KO1 and farmer groups west of the Rhine with Loschbour. Notable exceptions are individuals from the Middle Neolithic Blätterhöhle group, individual N22 from Poland, and our individual TGM009, all of which show a strong affinity to WHG-related individuals, although they are located east of the Rhine.

Also die mittelneolithischen Fischer, Jäger und Sammler der Blätterhöhle in Westfalen, sowie ein Angehöriger der Brześć-Kujawski-Kultur in Kujawien im Weichselraum ("N22"), sowie ein Mann der Trichterbecherkultur, begraben bei Tangermünde an der Havel zeigen alle - auch - genetische Einflüsse von Seiten der westeuropäischen Jägern und Sammler westlich des Rheins, die nicht über die anatolisch-neolitischen Bandkeramiker zu ihnen gelangt sein können. Denn deren (geringer) Jäger-Sammler-Anteil war ja eher osteuropäischer Herkunft. Dies paßt zu der Vermutung der Archäologen, daß sich die Michelsberger Kultur von Frankreich aus - auch - demographisch nach Osten ausgebreitet hat. Und es deuten viele Hinweise darauf hin, daß die Trichterbecherkultur sich ab 4.300 v. Ztr. im westlichen Ostseeraum gebildet hat, hervorgehend aus der Michelsberger Kultur.

Die Trichterbecherkultur 4.300 v. Ztr.

Der Mann der Trichterbecherkultur, der um 3.300 v. Ztr. bei Tangermünde an der Havel lebte, weist sogar eine ganz besondere, ungewöhnliche Herkunft auf (1):

Am besten sind die Daten zu interpretieren durch ein Vier-Wege-Vermischungsmodell (P = 0.087) von 21.7 ± 2.4% anatolisch-neolithisch, 24.4 ± 6.2% Luxemburg_Loschbour, 12.6 ± 4.4% Schweden_Grübchen-Keramik und 41.3 ± 7.3% Ungarn_KO1.
We find the best support for a four-way mixture model (P = 0.087) of 21.7 ± 2.4% Anatolia_Neolithic, 24.4 ± 6.2% Luxembourg_Loschbour, 12.6 ± 4.4% Sweden_PWC, and 41.3 ± 7.3% Hungary_KO1.

Er weist also 22 % anatolisch-neolithische Herkunft, 24 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft, 4 % Herkunft der skandinavischen Grübchenkeramischen Kultur (skandinavische Jäger und Sammler) auf (die im nördlichen Dänemark und in Schweden lebte) und 41 % der osteuropäischen Jäger und Sammler. Man darf es als spannend empfinden, daß hier ein Angehöriger der Trichterbecherkultur um 3.300 v. Ztr. 41 % osteuropäische Jäger-Sammler-Genetik aufweist. Bei den osteuropäischen Jägern und Sammlern befanden sich ja jene Träger blonder Haar- und blauer Augenfarbe, von denen heute noch die Träger dieser Merkmale mehrheitlich abstammen. Und 500 Jahre später sollte diese Trichterbecherkultur von Schnurkeramikern überrannt werden, die einen ähnlichen Anteil von osteuropäischer Jäger-Sammler-Genetik in sich bargen. Allmählich wird das Bild der europäischen Völkergeschichte des Mittelneolithikums genauer - und damit zugleich auch deutlich komplexer.

Erst vor wenigen Wochen hatten wir in einem Blogartikel (4) geschrieben über das Rätsel der "La Hoguette"-Keramik (Wiki) geschrieben, die sich in manchen bandkeramischen Siedlungen fand, und über deren Herkunft weiter gerätselt wird (St.gen. 2020): Wir entdeckten, daß man sie inzwischen als verwandt zu erkennen glaubt mit der "Cardial-Keramik" (Wiki). Die Cardial-Keramik hinwiederum könnte ursprünglich aus dem Levanteraum stammen und sich schon vor der großen Ausbreitungsbewegung anderer anatolischer Bauernvölker, also vor 6.500 v. Ztr. über das Mittelmeer hinweg ausgebreitet haben (Wiki).

Nach Wikipedia scheint es Hinweise zu geben, daß die Cardial-Keramik in Zusammenhang steht mit Völkern, die vorwiegend Viehzucht und Herdenhaltung betrieben haben, bei denen es sich also um Hirten-Völker handelte. Und aufgrund der geographischen Herkunft dieser Kultur wird angenommen werden dürfen, daß sie auch genetisch eben - so wie die Bandkeramiker - aus dem Mittelmeer-Raum stammt. Aber diesmal vielleicht vor allem aus dem Levanteraum.

Nun haben wir erste archäogenetische Erkenntnisse zu dieser Kultur, es werden aber etwaige genetische Zusammenhänge mit dem Levanteraum in dieser Studie gar nicht behandelt (1). Weitere Forschungsfragen, die sich mit der Ausbreitung der Ackerbaukulturen rund um das Mittelmeer befassen, nun in dem genannten Blogartikel (4) und der darin schon genannten Literatur (5-11).

Ergänzung 22.6.2020: Nach einer neuen Studie (12) ernährten sich jene Bauern, die an der französischen Alpen-Küste um 5.000 v. Ztr. lebten (Ausgrabungsort Les Bréguières [Mougins, Französische Alpen] - zwischen Nizza und Cannes), vorwiegend von Pflanzen des Festlandes. Hinweise auf den Verzehr von Fischen fand sich in der chemischen Zusammensetzung ihrer Knochen nicht. 

Ergänzung 13.3.2021: Eine neue Studie findet für das französische Spätneolithikum (13):

Es finden sich spätneolithische Bevölkerungen, die genetisch vielfältig sind und die Individuen mit dunkler Haut, dunklem Haar und dunklen Augen mit einschließen. Wir entdecken heterogene Jäger-Sammler-Herkunftsanteile innerhalb spätneolithischer Gesellschaften, die bei einigen Individuen bis zu 63,3 % erreichen.
This reveals Late Neolithic populations that are genetically diverse and include individuals with dark skin, hair, and eyes. We detect heterogeneous hunter-gatherer ancestries within Late Neolithic communities, reaching up to ∼63.3% in some individuals.

Es liegen hier also ähnliche Verhältnisse vor wie etwa zeitgleich in Tangermünde an der Havel (siehe oben). Es handelt sich dabei um Herkunftsanteile westeuropäischer Jäger und Sammler (13). Die schon oben erwähnte Herkunftsgruppe spanischer Jäger und Sammler ("GoyetQ2") fand sich in den hier untersuchten mittel- und südfranzösischen Skeletten nicht.GoyetQ2-like ancestryGoyetQ2-like ancestry

Außerdem hat nach dieser neuen Studie die Glockenbecher-Kultur Südfrankreich um 2.650 v. Ztr. erreicht (13). In dieser Studie wird übrigens sogar schon die DNA-Methylierungs-(Zellalterungs-)Uhr benutzt, um das Todesalter der untersuchten Individuen heraus zu bekommen. Damit kündigt sich womöglich ein neues Stadium in der schnellen Entwicklung der Archäogenetik an.

[22.2.2021] In einer neuen archäogenetischen Studie wird für die neolithischen Bauernvölker Frankreichs ausgeführt (16):

Die Jäger-Sammler-Komponente stammt im Norden vorwiegend von osteuropäischen und westeuropäischen Jägern und Sammlern, und im Süden von westeuropäischen und "GoyetQ2-"Jägern und Sammlern. Übereinstimmend damit stellen wir fest, daß die Einmischungs-Zeitpunkt innerhalb von Frankreich strukturiert sind entlang der Ausbreitungsrouten (vom Mittelmeer her oder von der Donau her) mit einem ungeführen Zeitpunkt von 5.100 v. Ztr. im Osten und einem viel früheren Zeitpunkt von 5.500 v. Ztr. im Süden.
The source of the HG ancestry, which is predominantly EHG and WHG-related in the north and includes WHG and Goyet-Q2 ancestry in the south. Consistently, we also observed that the admixture dates in France were structured along these routes, with the median estimate of ~5,100 BCE in the east and much older ~5,500 BCE in the south.
// Einfügungen wie angegeben zu (15): 20.10.21 
zu (16): 22.1.22 //
________________________
  1. Rivollat M., Jeong C., Schiffels S., Küçükkalipçi I., Pemonge M.-H., Rohrlach A. B., Alt K. W., Binder D., Friederich S., Ghesquière E., Gronenborn D., Laporte L., Lefranc P., Meller H., Réveillas H., Rosenstock E., Rottier S., Scarre C., Soler L., Wahl J., Krause J., Deguilloux M.-F., Haak W. Ancient genome-wide DNA from France highlights the complexity of interactions between Mesolithic hunter-gatherers and Neolithic farmerrs. Science Advances, 29 May 2020: Vol. 6, no. 22, eaaz5344, https://advances.sciencemag.org/content/6/22/eaaz5344 (Supplement: pdf)
  2. Pressemitteilung MPI für Menschheitsgeschichte, 29.5.2020, https://www.shh.mpg.de/1713195/haak-french-dna?c=1606645
  3. Bading, Ingo: Völkergeschichte des europäischen Mittelneolithikums. Youtube, 1.6.2020, https://youtu.be/2RKe_SSw044
  4. Bading, Ingo: Das Volk der Cardial-Keramik - Es stammt aus dem Levanteraum, 24.4.2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/04/das-volk-der-cardial-keramik-es-stammt.html.
  5. Bading, Ingo: Die Neolithische Revolution im Vorderen Orient (12.000 - 6.000 v. Ztr.), Seminararbeit 1995, https://www.academia.edu/1537440/Die_Neolithische_Revolution_im_Vorderen_Orient_12.000_-_6.000_v._Ztr._.
  6. Divergent mtDNA lineages of goats in an Early Neolithic site, far from the initial domestication areas. Helena Fernández, Sandrine Hughes, Jean-Denis Vigne, Daniel Helmer, Greg Hodgins, Christian Miquel, Catherine Hänni, Gordon Luikart, Pierre Taberlet Proceedings of the National Academy of Sciences Oct 2006, 103 (42) 15375-15379; DOI: 10.1073/pnas.0602753103, https://www.pnas.org/content/103/42/15375.
  7. Bading, Ingo: Seefahrt und früheste Ackerbauern im Mittelmeer-Raum, November 2007, https://studgendeutsch.blogspot.com/2007/11/seefahrt-und-frheste-ackerbauern-im.html
  8. Jesse R, Véla E, & Pfenninger M (2011). Phylogeography of a land snail suggests trans-mediterranean neolithic transport. PloS one, 6 (6) PMID: 21731622
  9. Kevin G. Daly et. al.: Ancient goat genomes reveal mosaic domestication in the Fertile Crescent. Science 06 Jul 2018: Vol. 361, Issue 6397, pp. 85-88, DOI: 10.1126/science.aas9411 http://science.sciencemag.org/content/361/6397/85.full.
  10. Archaeogenetic analysis of Neolithic sheep from Anatolia suggests a complex demographic history since domestication Erinç Yurtman, Onur Özer, (...) Anders Götherström, Mehmet Somel, İnci Togan, Füsun Özer bioRxiv 2020.04.17.033415; doi: https://doi.org/10.1101/2020.04.17.033415.
  11. https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/07/unsere-kuhe-schon-immer-waren-sie-bei.html 
  12. Goude, G, Salazar‐García, DC, Power, RC, et al. New insights on Neolithic food and mobility patterns in Mediterranean coastal populations. Am J Phys Anthropol. 2020; 1– 18. https://doi.org/10.1002/ajpa.24089 
  13. Andaine Seguin-Orlando, Richard Donat, Clio Der Sarkissian, John Southon, Catherine Thèves, Claire Manen, Yaramila Tchérémissinoff, Eric Crubézy, Beth Shapiro, Jean-François Deleuze, Love Dalén, Jean Guilaine, and Ludovic Orlando, Heterogeneous hunter-gatherer and steppe-related ancestries in late Neolithic and Bell Beaker genomes from present-day France, Current Biology 31, 1–12, https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(20)31835-2, (Researchgate)
  14. Presseerklärung zu 13.: https://www.iast.fr/press-release-unveiling-secrets-genetic-diversity-present-day-france-inhabitants-late-neolithic
  15. Parkinson, E.W., McLaughlin, T.R., Esposito, C. et al. Radiocarbon Dated Trends and Central Mediterranean Prehistory. J World Prehist 34, 317–379 (2021). https://doi.org/10.1007/s10963-021-09158-4, 7.10.2021, https://link.springer.com/article/10.1007/s10963-021-09158-4
  16. Reconstructing the spatiotemporal patterns of admixture during the European Holocene using a novel genomic dating method Manjusha Chintalapati, Nick Patterson, Priya Moorjani bioRxiv 2022.01.18.476710; doi: https://doi.org/10.1101/2022.01.18.476710  

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