Sonntag, 31. August 2008

Ist die monogame Bindung der Kern aller Intelligenz-Evolution auf der Erde?

Eine unerwartete - aber womöglich grundlegende - neue Erkenntnis des britischen Anthropologen Robin Dunbar

Er wurde gar nicht in der deutschen Wissenschafts-Berichterstattung erwähnt: Ein ein Aufsatz des britischen Anthropologen Robin Dunbar im angesehenen "Science Magazine" vom 7. September 2007 (1) (siehe auch: [2]). Die auffallende These desselben wurde hier schon in der Überschrift zusammen gefaßt: Ist die monogame Bindung der Kern aller Intelligenz-Evolution auf der Erde?

Abb. 1: Tiefe, lebenslange Verbundenheit bis in den Tod: Der Grabstein eines
Ehepaares in Athen, um 345 v. Ztr. - Thraseas und Euandria (Wiki)
Spätestens seit der Veröffentlichung seines auch ins Deutsche übersetzten Buches "Klatsch und Tratsch" ist Robin Dunbar für eine größere Öffentlichkeit als einer jener lebenden Anthropologen erkennbar geworden, die in besonderer Produktivität an der Klärung des modernen naturwissenschaftlichen Menschenbildes mitarbeiten. Seine Forschungen und unerwarteten Einsichten geben immer wieder aufs Neue eine Fülle von Anregungen zum Weiterdenken und zum weiteren Forschen hinsichtlich des Wesens des Menschen und jener Evolution, die den Menschen hervorgebracht hat.


Die "Social Brain"-Hypothese



Bislang war bekannt (in weiten Teilen von Dunbar selbst erforscht - siehe "Klatsch und Tratsch"), daß im Vergleich aller Primatenarten miteinander Gehirngröße mit Gruppengröße korrelieren, daß also Gehirn (Intelligenz) vor allem evoluiert wurde, um Probleme des sozialen Zusammenlebens in Gruppen zu meistern ("social brain hypothesis"). Einer der vielen auffallenden Schlußfolgerungen dieser Forschungen ist, daß man aus den Gehirngrößen der Australopithecinen, von H. habilis und H. erectus Schlüsse ziehen kann darauf, wie groß die Gruppen gewesen sein könnten, deren Zusammenleben diese Gehirne befähigt waren zu meistern. Für Homo sapiens sapiens ergibt sich etwa die Gruppengröße von 150, eine Zahl, die als "Dunbar's Zahl" (Wiki, engl.) in die Literatur eingegangen ist. Ihre Implikationen werden inzwischen in ganz unterschiedlichen Forschungsbereichen weiterverfolgt.

Es stellte sich nun aber in den letzten Jahren das Dilemma heraus, daß diese genannte Korrelation nur für den Primaten-Stammbaum gültig war. Dunbar und Mitarbeiter untersuchten diesbezüglich auch Paarhufer (Herdentiere in der Savanne), sowie andere Zweige des Säugetier-Stammbaumes. Aber sie fanden dort beim Arten-Vergleich nirgendwo eine Korrelation zwischen Gruppengröße und Gehirngröße. Es war dies einer von mehreren Gründen dafür, daß andere Forscher begannen, die Allgemeingültigkeit von Dunbar's Thesen infrage zu stellen und nach Alternativen für die Social-Brain-Theorie zu suchen. (Ergänzung, 21.12.2017: Diese Debatte ist auch noch zehn Jahre später, 2017, in vollem Gange und es zeichnet sich einstweilen keine definitivere Entscheidung ab. Eine alternative Theorie, die ein so breites Spektrum von Phänomenen erklären kann wie Dunbar's Social-Brain-Theorie konnte bislang noch nicht formuliert werden.)


Monogamie fördert Intelligenz-Evolution




Robin Dunbar hat aber nun mit der hier zu behandelnden neuen Studie nachgelegt (1, 2). Zwar findet er für Fleischfresser (Carnivoren), Paarhufer, Vögel, Fledermäuse - wie gesagt - im Artenvergleich keine Korrelation zwischen Gehirngröße und Gruppengröße. Dafür aber deutliche Korrelationen zwischen Gehirngröße und monogamer Lebensweise. Das ist eine große Überraschung.*) Kurz gesagt: "Monogamie fördert Intelligenz-Evolution". Das Spannende scheint weiterhin dabei zu sein, daß das - wenn man Dunbar recht versteht - gar nicht unbedingt vordringlich etwas mit klassischer darwinischer "sexueller Selektion" zu tun haben muß, denn diese wirkt am effektivsten bei polygamen Arten (und vergrößert, wie Dunbar so schön sagt, nur das limbische System! ...) (s.a.: 4). Sondern es stellt - offenbar - einen ziemlich neuartigen Mechanismus für sich dar.

Dunbar betont auch: Paarbindung selbst ist der entscheidende Faktor, nicht das gemeinsame Aufziehen von Kindern durch Vater und Mutter (also nicht "biparental care"). Aber nun soll Dunbar selbst das Wort gegeben werden, denn besser als er kann man das selbst auch nicht sagen:
Für vier Ordnungen der Säugetiere (Primaten, Fledermäuse, Paarhufer und Fleischfresser) und für 135 Vogelarten, die einen weit gespannten Querschnitt der Vogel-Ordnungen repräsentieren, konnten wir zeigen, daß in allen Arten außer den Menschenaffen das Verhältnis zwischen Gehirngröße und Sozialität qualitativ ist und nicht quantitativ: In jedem Fall ist große relative Gehirngröße explizit verbunden mit paargebundener (d.h. mit sozialer) Monogamie (siehe - hier - Abb. 2).
Diese Entdeckung legt nahe, daß es die von Gehirnen zu lösenden Herausforderungen der Paarbindung waren, die die ursprüngliche Evolution von großen Gehirnen bei allen Wirbeltieren ausgelöst hat. Und noch wichtiger ist hierbei, daß Paarbindung das Thema ist, nicht gemeinsame elterliche Aufzucht von Nachkommen.
Original: For four orders of mammals (primates, bats, artiodactyl ungulates, and carnivores) and 135 species of birds representing a wide cross-section of avian orders, we have shown that, in all taxa except anthropoid primates, the relationship between brain size and sociality is qualitative and not quantitative: In each case, large relative brain size is associated explicitly with pairbonded (i.e., social) monogamy (siehe - hier - Abb. 3).
These findings suggest that it may have been the cognitive demands of pairbonding that triggered the initial evolution of large brains across the vertebrates. More important, pairbonding is the issue, not biparental care.

Abb. 2: "Mean (±SE) of residual brain volume (controlling for body size and phylogeny) in species with pairbonded (purple bars) versus all other mating systems (gray bars) in birds and four orders of mammals. The differences are significant in all cases except primates."

Und etwas später noch grundlegender, ja geradezu philosophisch, bzw. angefüllt mit mancher philosophischen Implikation (Hervorhebung durch mich, I.B.):
The important issue in the present context is the marked contrast between anthropoid primates and all other mammalian and avian taxa (including, incidentally, prosimian primates): Only anthropoid primates exhibit a correlation between social group size and relative brain (or neocortex) size. This quantitative relationship is extremely robust; no matter how we analyze the data (with or without phylogenetic correction, using raw volumes, or residuals or ratios against any number of alternative body or brain baselines) or which brain data set we use (histological or magnetic resonance imaging derived, for whole brain, neocortex, or just the frontal lobes), the same quantitative relationship always emerges. This suggests that, at some early point in their evolutionary history, anthropoid primates used the kinds of cognitive skills used for pairbonded relationships by vertebrates to create relationships between individuals who are not reproductive partners. In other words, in primates, individuals of the same sex as well as members of the opposite sex could form just as intense and focused a relationship as do reproductive mates in nonprimates. Given that the number of possible relationships is limited only by the number of animals in the group, primates naturally exhibit a positive correlation between group size and brain size. This would explain why, as primatologists have argued for decades, the nature of primate sociality seems to be qualitatively different from that found in most other mammals and birds. The reason is that the everyday relationships of anthropoid primates involve a form of "bondedness" that is only found elsewhere in reproductive pairbonds.
Das heißt, Dunbar betont weiterhin, daß die Primaten mit (allen) Gruppenmitgliedern ähnlich intensive Sozialbeziehungen eingehen wie alle Nichtprimaten mit jeweils bloß einem monogamen Lebenspartner, bzw., Dunbar unterstellt, daß die sozialen Fähigkeiten zum monogamen Zusammenleben mit einem Lebenspartner die Wurzeln bilden für die Intelligenz-Evolution bei den Primaten, die diese Fähigkeit auf das Zusammenleben mit Gruppenmitgliedern ausdehnen.

Man fühlt sich hierbei auch an die Thesen der amerikanischen Anthropologin Barbara King erinnert, nach der "belonging", "Zugehörigkeits-Gefühl zu" Gruppenmitgliedern, Sozialpartnern die tiefste Wurzel aller menschlichen Religiosität (= Liebe) sein könnte (3). Ist nicht tatsächlich alle Religiosität - zunächst einmal oder letztlich - Liebe, "sich zugehörig fühlen zu" ...?


... und die Evolution von menschlicher Religiosität?



Aber um nun das zu beschreiben, was die kognitiven Erfordernisse der "Paarbindung" eigentlich ausmachen, spricht Dunbar geradezu philosophisch oder wie ein Künstler - oder soll man sagen wie ein echter "Liebender"?:
It has become apparent that we lack adequate language with which to describe relationships, yet bondedness is precisely what primate sociality is all about. Intuitively, we know what we mean by bondedness because we experience it ourselves, and we recognize it when it happens. The problem, perhaps, is that bondedness is an explicitly emotional experience and language is a notoriously poor medium for describing our inner, emotional experiences. Because relationships do not have a natural objective cognitive dimension that we can easily express in language, comparing the bondedness of different species is difficult (this may also explain why ethologists have invariably ducked the problem completely, preferring observable descriptions of behavior to grappling with what is going on inside the animal).
Das muß man erst mal alles auf sich wirken lassen und in sein bisheriges Welt- und Menschenbild einordnen. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß es der Implikationen hier viele geben könnte und der (Forschungs-)Perspektiven auch. Von Schlußfolgerungen für unsere Gesellschaft (und unsere Familien?) gar nicht zu reden.

Und warum stellte der kanadische Psychologe J. P. Rushton fest, daß Menschenrassen, die eher zu Monogamie neigen (Europäer, Ostasiaten) durchschnittlich einen höheren angeborenen Intelligenz-Quotienten haben, als Menschenrassen, die insgesamt eher zu polygamer Lebensweise neigen (Buschleute, Schwarzafrikaner, amerikanische Ureinwohner)? Gehört das auch in die hier besprochenen Zusammenhänge? Es scheint sich jedenfalls geradezu nahtlos in diese einzuordnen.

Abb. 3: Robin Dunbar
Dunbar war schon vor einigen Monaten an Besprechungen beteiligt, die nach Formen suchten, auch solche Dinge zu thematisieren (siehe früherer Beitrag hier auf dem Blog). Jedenfalls: Auch beim Menschen also könnte IQ-Evolution - zumindest auf der Nordhalbkugel - etwas mit Monogamie zu tun zu haben.

Klar wird, daß es hier auch Implikationen geben könnte für die Evolution von menschlicher Religiosität. (Dieser Beitrag wird fortgesetzt ---> hier.)

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*) 21.12.2017: Nur einen Monat zuvor war - aus ganz anderen Zusammenhängen heraus wie es scheint - von dem niederländischen Evolutionsbiologen Jacobus J. Boomsma (geb. 1951) (Wiki) dessen inzwischen recht einflußreich gewordene "Monogamie-These" veröffentlicht worden (4). Sie besagt, daß am Ursprung aller staatenbildenden Insekten, deren Königinnen oft polygam leben, immer sozial einfachere, monogame Arten stehen würden, und daß die Monogamie den Übergang zur Staatenbildung erst möglich gemacht hat (weil sie größere genetischen Einheitlichkeit unter den Arbeiterinnen bewirkt, was wiederum mehr Verwandten-Altruismus bewirkt). Es wäre noch einmal der Frage nachzugehen, ob es irgendwelche Zusammenhänge zwischen beiden Veröffentlichungen gegeben hat, ob Anregungen von einer Seite für die andere gegeben worden sind. Da sich aber beide Arbeiten in ihren Literatur-Verzeichnissen auf ganz unterschiedliche Forschungszweige und deren Forschungsliteratur beziehen, wird die enge zeitliche Parallele zwischen beiden Veröffentlichungen eher auf einem auffallenden Zufall beruhen.

Womöglich handelt es sich um fast zeitgleiche "konvergente" Entwicklungen 1. einerseits in der Forschung selbst wie womöglich 2. auch hinsichtlich der zu erforschenden Gegenstände, nämlich a) komplexeres soziales Leben einerseits bei sozialen Insekten und andererseits b) bei Primaten. Auch bei den Forschungsgegenständen selbst könnte konvergente Evolution - vielleicht ebenfalls einigermaßen zeitgleich? - stattgefunden haben aufgrund von jeweils stammesgeschichtlich ursprünglicherer monogamer Lebensweise. Auch angesichts der Grundsätzlichkeit dessen, was hier jeweils erklärt wird, dürfte man sagen, daß man hier aufregende forschungsgeschichtliche Entwicklungen beobachten kann. - Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß der von Dunbar 2007 quantitativ nachgewiesene Zusammenhang zwischen Monogamie und Intelligenz von Konrad Lorenz schon im Jahr 1972 aufgrund vielfältiger Tier-Beobachtungen benannt worden war (5). (Der Autor dieser Zeilen hat Dunbar auf diesen Umstand hingewiesen, Dunbar hatte davon nicht gewusst und war sehr erfreut, davon zu erfahren [6].)


(ursprünglich veröffentlicht 15.11.2007;
zuletzt bearbeitet und ergänzt um [4-6]: 21.12.2017)

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  1. Dunbar, Robin I. M.; Shultz, Susanne: Evolution in the Social Brain. Review. In: Science, Vol. 317, 7. September 2007, S. 1344-1347, https://www.researchgate.net/publication/6017731_Evolution_in_the_Social_Brain
  2. Shultz, Susanne, Dunbar, Robin I. M.: The evolution of the social brain: anthropoid primates contrast with other vertebrates. Proc. R. Soc. London Ser. B, Volume 274, Number 1624, 7. Oktober 2007 (eingegangen am 23. Mai 2007, zur Veröffentlichung frei gegeben am 26. Juni 2007), https://www.researchgate.net/publication/6186835_The_evolution_of_the_social_brain_Anthropoid_primates_contrast_with_other_vertebrates
  3. King, Barbara J.: Evolving God. A Provocative View on the Origins of Religion. Doubleday Books 2007
  4. Boomsma, Jacobus J.: Kin Selection versus Sexual Selection - Why the Ends Do Not Meet. In: Current Biology, Volume 17, Issue 16, 21 August 2007, Pages R673-R683 Available online 20 August 2007. https://doi.org/10.1016/j.cub.2007.06.033, http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982207015709
  5. Lorenz, Konrad: Soziale Bindungen und die in ihrem Dienste ritualisierten Verhaltensweisen. Vortrag anläßlich der Tagung Encyclopaedia Cinematographica, Göttingen 3. Oktober 1972, Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film, https://www.youtube.com/watch?v=1kTDEpa4cRM
  6. Bading, Ingo: "... Was die großen Köpfe der Vergangenheit längst wußten ..." Konrad Lorenz, der Forscher und Mahner, in wenig bekannten Film- und Tondokumenten. Studium generale, 26. September 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/09/was-die-groen-kopfe-der-vergangenheit.html

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