Sonntag, 31. August 2008

Wie entstehen und entwickeln sich arbeitsteilige Gesellschaften?

Stadtentwicklung in Nordmesopotamien (4.200 bis 3.400 v. Ztr.)
- Das Beispiel Tell Brak

Der Urknall in der "Evolution" arbeitsteiliger, städtischer Gesellschaften, also von Hoch- und insbesondere Schriftkulturen wird in der Regel mit den Städten Ur und Uruk im Süden des heutigen Irak (Südmesopotamien) in Verbindung gebracht. Dort entstanden nach Vorläufer-Kulturen um 3.200 v. Ztr. ein mächtiges Reich und ziemlich bald auch eines der ersten bekannten Schriftsysteme der Menschheit. Inzwischen rücken aber in den letzten Jahren immer mehr die Oberläufe von Euphrat und Tigris (also unter anderem das heutige nördliche Syrien, Nordmesopotamien) in den Vordergrund, wenn es um die Frage nach der Entstehung erster städtischer Hochkulturen, Großreiche geht und um ihre lange Vorgeschichte (siehe Karte in Abb. 1). Auch hier bildeten sich zeitgleich zu - und zunächst unabhängig von - Südmesopotamien städtische Zentren heraus, die sich gegenseitig bekriegten, wie archäologisch nachweisbar ist (1). (Siehe auch Studium generale 1, 2.)

Abb. 1: Die Ausbreitung von Uruk aus (Wiki)

Man kann von einer typisch "assyrischen" oder "alttestamentarischen" Kriegführung sprechen, die gekennzeichnet ist durch die emphatische Ausrottung ganzer Städte und Völker im Namen einer anderen Volks- oder Reichsgottheit, bzw. eines religiösen oder weltlichen Despoten. Und genau eine solche scheint in dieser Region - auch nach diesen neuerlichen archäologischen Forschungen - schon sehr früh begonnen zu haben. Und sie scheint über die Jahrtausende hinweg dort immer wieder praktiziert worden zu sein.

Schon in den vorkeramischen ersten Städten der Menschheit (die archäologische Stufe des "PPNB") finden sich die sogenannten "plasterd skulls", die vermutlich "Stadtdespoten" abbilden. Und schon bei diesen scheint man mancherlei Erbarmungslosigkeit im Umgang mit Mitmenschen herauslesen zu können. Einen ähnlichen Eindruck üben auch auch die zeitgleichen, grausam wirkenden weiblichen "Kaffeebohnenaugen-Gottheiten" jener vorkeramischen Zeit.

Vermutlich kann hier überall von vergleichsweise despotischen Eliten ausgegagen werden, die die Voraussetzung bildeten, daß sich größere Menschenmassen in rigiden stadtstaatlichen Systemen zu stärker arbeitsteilig gegliederten Gesellschaften ausgebildet haben, bzw. ausbilden konnten.

Der friedliche Siedlungsverlauf

Inzwischen ist jedoch auch der friedliche Siedlungsverlauf, die Siedlungsverdichtung eines der bedeutendsten, frühen städtischen Zentren der späten Kupferzeit im nördlichen Syrien genauer unter die Lupe genommen worden, nämlich des Tell Brak (2). Hier bildeten sich um ein städtisches und religiöses Zentrum (mit Tempel und "Industrie") sehr früh schon etwas abgelegenere, dieses umgebende vorgelagerte Dörfer, bzw. sekundäre städtische Zentren. In den weiteren Jahrhunderten wurden dann die zuvor unbesiedelten Zwischenräume schrittweise aufgesiedelt und es kam zu einer Siedlungsverdichtung wie wir sie ja auch von der Entwicklung moderner europäischer Großstädte kennen, die schrittweise immer mehr früher selbständige Dörfer und Städte eingemeindeten und die siedlungsleeren Zwischenräume auffüllten (s. Abb. 2) (2):

Das Anwachsen eines städtischen Zentrums begann in Brak in der Periode des Späten Chalcolithikums (LC) 2, zirka 4.200 bis 3.900 v. Ztr..
Urban growth at Brak began in the Late Chalcolithic (LC) 2 period [circa (c.) 4200 to 3900 calendar years before the common era (cal BCE)].

So die Forscher.*)

Abb. 2: Tell Brak - Städtische Verdichtung im 4. Jahrtausend v. Ztr. (aus: 2)

Die Forscher schreiben (2):

Wir berechneten, daß die besiedelte Fläche etwa 55 Hektar betrug in einer Zeit, als nur wenige zeitgleiche Siedlungen 3 Hektar Größe überschritten. (....) Während des frühen bis mittleren vierten Jahrtaseunds v. Ztr. (3.900 bis 3.400 v. Ztr.) dehnten sich Vororte in Richtung des Zentrums aus. Viele zuvor unbesiedelte Flächen wurden nun besiedelt. Auf dem zentralen Siedlungshügel gab es große industrielle Strukturen und mindestens einen kunstvoll ausgestalteten Tempel. Die gesamte besiedelte Fläche dieser Zeit wuchs auf 130 Hektar an. Wir interpretieren das häufige Vorkommen von Oberflächen-Keramikfunden als einen Indikator für die angewachsene Dichte der Besiedlung. Das heißt, daß die Siedlungsdichte anwuchs zugleich mit der räumlichen Ausdehnung. Zu dieser Zeit erreichten die größten Nachbarn von Brak nur 15 Hektar Ausdehnung und nur eine zeitgleiche Siedlung war größer, nämlich Uruk im südlichen Mesopotamien.
We calculated the total settled area at 55 ha, at a time when few contemporary settlements exceeded 3 ha. (...) During the early to mid-fourth millennium BCE (LC 3 to 4, 3900 to 3400 cal BCE, Fig. 1B), outer town settlement expanded inward. Many formerly unsettled areas were then filled. The central mound hosted large industrial structures and at least one elaborately decorated temple. The total LC 3 to 4 settled area grew to 130 ha. We interpreted the abundance of surface ceramics as an indicator of increased density of occupation. Thus, settlement density increased along with spatial extent. At this time, the largest of Brak’s neighbors reached only 15 ha, and only one contemporary settlement in southern Mesopotamia, Uruk, exceeded it in size.

Bei dem hier erwähnten Tempel auf der Akropolis von Tell Brak handelt es sich um den sogenannten "Augentempel" (Wiki). Vor allem die folgende Interpretation der erforschten Befunde wirft grundsätzlichere Fragen auf (2):

Zwang durch Eliten scheint nicht der alleinige Mechanismus gewesen zu sein, der die ursprüngliche Entwicklung von städtischer Lebensweise in Brak vorangetrieben hat. Es scheint wahrscheinlich, daß die städtische Lebensweise zumindest in Teilen das unbeabsichtigte Ergebnis des Handelns autonomer und nichthierarchisierter Gruppen gewesen sein könnte.
Elite coercion does not appear to be solely responsible for the initial development of urbanism at Brak. It seems likely that urbanism was at least in part the unintended result of the actions of autonomous and nonhierarchically ranked groups. 

So die Forscher.**)

Soziale Entwicklung nur auf der Grundlage des Gegenseitigkeits-Prinzips?

Daran könnten grundsätzlicher Überlegungen angeschlossen werden: Wenn eine arbeitsteilige Gesellschaft entsteht, kann dies dann nur durch Despotie und große Strafanreize entstehen, wie man dies von den ersten großen Hochkulturen und ihren auf einzelne "absolute Monarchen" (Despoten) zugeschnittenen Gesellschaftssystemen vermuten darf? Nein, es sollte auch noch andere Quellen für menschlichen Altruismus geben als bloß despotische, polizeistaatliche Strafanreize. "Despotische" Straf- und Lohnanreize von seiten einer erbarmungslosen Elite würden ja - letztlich - doch nur allein dem Gegenseitigkeits-Prinzip in sozialen Interaktionen "irgendwie" zum Erfolg verhelfen, das, wie wir wissen, täuschungsanfällig ist, also vieler "Polizeikräfte" bedürfte, die dann wieder von Mafiabanden unterwandert werden können. Man braucht dann einen despotischen, tyrannischen Gott als "dritten Bestrafer im gesellschaftlichen Third Party-Punishment-Spiel" (siehe etwa: St. gen.). Die Flexibilität einer solchen Gesellschaft geht schnell verloren, wie siebzig Jahre real existierenden Sozialismus oder die Verhältnisse im italienischen Mezzogiorno leidvoll aufgezeigt haben, zum Teil noch aufzeigen.

Also Gruppenselektion wie von Jonathan Haidt und immer mehr Forschern vermutet (siehe Beitrag von gestern - Stud. gen.)? - Vielleicht. Aber man könnte noch etwas anderes vermuten, nämlich einen Abgleich des Hamilton'schen Verwandten-Altruismus nach den von Adam Smith erstmals formulierten Gesetzmäßigkeiten der Arbeitsteilung. Verwandten-Altruismus wird leichter, kann auf mehr Menschen mit geringerem durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad ausgedehnt werden, wenn man sich spezialisiert, wenn man also mit weniger Aufwand mehr produziert. Das ist - übrigens - die Grundthese einer von dem Autor dieser Zeilen schon vor allerhand Jahren an der Universität Gießen begonnenen Doktorarbeit. Auch bei fortlaufender Durchsicht der Forschungsliteratur findet sich in den letzten Jahren keine Arbeit, die eine solche These konsequenter verfolgen würde. Dabei könnte man wenig als naheliegender empfinden als einen solchen evolutionspsychologischen Zusammenhang.

Ein "nichtzentralisierter" gesellschaftlicher Prozeß

Die Autoren beenden ihren kurzen Artikel mit den Worten, der erforschte Siedlungsprozeß im historischen Verlauf der Jahrhunderte und Jahrtausende (2)

legt eine größere Rolle nichtzentralisierter Prozesse im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Anwachsen der Siedlungsgröße von Brak nahe und eine geringere Bedeutung von zentralisierter Autorität. Er legt ebenso nahe, daß das Studium der mesopotamischen städtischen Lebensweise mit vielfältigen Modellen für die Entstehung von Städten in Abgleich gebracht werden muß.
suggests a greater role for noncentralized processes in the initial growth of Brak and lesser importance for centralized authority; it also suggests that the study of Mesopotamian urbanism must accommodate multiple models for the origins of cities.
Abb. 3: Christian Cordes

Ein "nichtzentralisierter" gesellschaftlicher Prozeß bedeutet, daß viele Menschen Verantwortung übernehmen und tragen für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.

Mehr oder weniger selbstgewählte Verantwortung (englisch: "commitment") ist etwas, das - wie viele Arbeitgeber und Firmen wissen - letztlich gar nicht "bezahlt" werden kann, nicht auf der Grundlage des "Gegenseitigkeits-Prinzips" "entlohnt" werden kann. Immer mehr Forscher (siehe 3, 4), gegenwärtig zum Beispiel Christian Cordes am Max Planck-Institut für Ökonomik in Jena (Abb. 3), ziehen deshalb zur Erklärung dieses "commitment" eine ethnische oder "quasi-ethnische" ("pseudo-ethnische") Komponente in Betracht: Man identifiziert sich mit seiner Firma wie früher der Mensch sich mit seinem Stamm identifiziert hat. Und man entfaltet aus dieser Identifikation heraus berufliches Verantwortungsgefühl, das keiner ausgefeilten Kontrolle "von oben" bedarf, um ein selbstverantwortliches Berufsethos auszubilden.

Das stalinistische Prinzip des Verdachts - "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" - wird also in ein freiheitlicheres Prinzip des Vertrauens umgewandelt: Vertrauen ist gut und Kontrolle wird in die Eigenverantwortlichkeit des - sozusagen - "sittlich gefestigten" Mitarbeiters verlegt.

Da ist dann - freilich noch nicht besonders explizit und präzise - der Verwandten-Altruismus "irgendwie" wieder in die Erforschung arbeitsteiliger, wirtschaftlicher Systeme zurückgekehrt. Er könnte auch hochgradig arbeitsteilige Dienstleistungs-Gesellschaften innerlich flexibel erhalten. - Und so wird es sicher sinnvoll sein, weiter an einer präziseren theoretischen Fassung derartiger kausaler Zusammenhänge arbeiten. Auch andere Autoren (5) könnte man dabei im Blick behalten.

Skepsis - Funktioniert Arbeitsteilung von selbst reibungslos?

[ Ergänzung 16.1.2022 ] Die starke Skepsis gegenüber der modernen Medizin, gegenüber Medienwelt und Politik, die sich gegenwärtig innerhalb einer Impf-kritischen und Corona-Politik-kritischen Szene der westlichen Öffentlichkeit manifestiert und festigt, zeigt, daß ein solches, selbstverständliches Vertrauen in die Eigenverantwortung selbstständig agierender Fachleute und Fachdisziplinen und deren ganzheitliches Zusammenwirken zum Wohle aller, innerhalb arbeitsteiliger Gesellschaften gerne auch einmal wieder schwinden kann, bzw. daß einzelnen Fachleuten aufgrund von "Tunnelblick" auf ihr eigenes Fachgebiet von korrupten Medien und Politikerrn zu viel Bedeutung zugesprochen werden kann, anstatt die von diesen formulierten Interessen mit dem Gesamtinteresse einer Gesellschaft in einen sehr sorgfältigen Abgleich zu bringen. 

Seit fast zwei Jahren wird beispielsweise die gesamte Gesellschaft im Verhalten und in der wirtschaftlichen Durchstrukturierung auf sogenannte "vermeidbare" Corona-Tote hin durchstilisiert, während man sich zuvor und zeitgleich um "vermeidbare" Rauchertote, die seit Jahrzehnten in ähnlicher Zahl (150.000) und in ähnlichem Alter sterben, in vergleichbarer Weise nicht erregt und empört hat. Dabei ist inzwischen sogar bekannt, daß Raucher - selbst nachdem sie aus allen Innenräumen verdrängt worden sind - schon allein durch ihre Körperausdünstung andere gesundheitlich schädigen, also etwas, was zugleich - wiederum - den Ungeimpften viel mehr zum Vorwurf gemacht wird als den Rauchern. Hier scheint uns beiderlei verloren gegangen zu sein: Zum einen Augenmaß in der Einordnung von beruflichen Anliegen (z.B. in diesem Fall von Virologen), sowie zum zweiten - und daraus folgend - Vertrauen darin, daß Korruption und Manipulation innerhalb von Politik und Medienwelt nicht längst alles vertretbare Maß überschritten haben.

Dieser Umstand scheint uns ein Hinweis darauf zu sein, daß das sozusagen "reibungslose" Funktionieren arbeitsteiliger Gesellschaften eben doch zahlreichen Gefährdungen unterliegen kann, die noch heute oft zu wenig in Rechnung gestellt werden. Altruismus hieße in dem vorliegenden Falle, auch als Virologe, Epidemiologe und Gesundheitspolitiker das Gesamte im Blick zu behalten und nicht die kurzfristigen Sonderinteressen von einzelnen beruflichen Anliegen.

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*) "Chalcolithic" ist "Kupferzeit" (Wiki, Wiki-deutsch) - der Begriff "Steinzeit", etwa in "Jungsteinzeit" oder in "Kupfersteinzeit" weckt allerdings ziemlich falsche Assoziationen. Schließlich denkt man dabei eher an Neandertaler als an moderne, arbeitsteilige Dorf- und Stadt-Gesellschaften wie sie hier vorliegen. Es könnte deshalb sinnvoll sein, diese Begriffe möglichst wenig zu benutzen.
**) Ergänzung 16.1.2022: Man darf auch gerne im Hinterkopf behalten, daß diese Stadtentwicklung von Tell Brak in Nordmesopotamien parallel ging zur Entwicklung der Maikop-Kultur (4.000-3.200 v. Ztr.) (Wiki) nördlich des Kaukasus, die nämlich auch von Nordmesopotamien aus beeinflußt war. Sie ging zudem zeitlich parallel zur Cucuteni-Tripolje-Kultur (Wiki) in der Ukraine, deren Megasiedlungen um 3.800 v. Ztr. schon bis zu 340 Hektar umfaßten. - - - Durch Keilschrift-Quellen andernorts kann Tell Brak als "Kagar" identifiziert werden. Hier wurden um 3.000 v. Ztr. Kunga gezüchtet, die vierrädrige Streitwagen zogen. Hierzu wurden Hausesel (die genetisch zur heute noch fortexistierenden Gruppe der "Afrikanischen Esel" gehörten) mit Wildeseln gekreuzt (die genetisch zur heute ausgestorbenen Gruppe der "Syrischen Wildesel" gehörten). Die entstandenen Tiere haben Eigenschaften gehabt, die sie zu angesehenen, prestige-trächtigen Zugtieren machten. Sie waren zwar unfruchtbar, galten aber als sehr wertvoll. Da sich von Nordmesopotamien aus viele kulturelle Einflüsse auf die reiche Maykop-Kultur nördlich des Kaukasus auswirkten, wird es nicht unwahrscheinlich sein, daß die dortige Domestizierung unseres heutigen Hauspferdes zunächst zum Zugtier von zweirädrigen Streitwagen (um 2.200 v. Ztr.) ihre Anregung von Nordmesopotamien heraus erhalten hat (St. gen. 2021).

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/ ursprünglich veröffentlicht 25.11.2007;
überarbeitet 16.1.2022 /

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  1. Andrew Lawler: Murder in Mesopotamia? Science, Vol 317, 31.8.07, S. 1164f
  2. Jason A. Ur, Philip Karsgaard, Joan Oates: Early Urban Development in the Near East. Science, Vol. 317, 31.8.07, S. 1188, DOI: 10.1126/science.1138728
  3. Nesse, Randolph M. (ed.): Evolution and the Capacity of Commitment. 2002
  4. Cordes, Christian (MPI für Ökonomik, Jena): diverse Publikationen
  5. Salter, Frank: On Genetic Interest. 2006

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