Freitag, 8. Juni 2007

Religionswissenschaftliche Konzepte müssen erweitert werden

Michael Blume fragt mich nach meiner Meinung zu seinem neuen Vortrag in Potsdam vor der von Hayek-Gesellschaft. (Blume 1, 2) Ich glaube, über meine Meinung wird er sich wundern, weil sich mein Ansatz, was die Erforschung von Religion und Religiosität betrifft - oder vielleicht besser: mein Bewußtsein diesbezüglich - seit wir uns das letzte mal darüber ausgetauscht haben, stark (sozusagen) "ins Grundsätzliche" erweitert hat. Und da das folgende sehr lang wird, stelle ich es besser gleich hier in meinen Blog.

Mir ist inzwischen klar geworden, daß man sich je nach den eigenen Voraussetzungen dem Themenfeld Religion und Religiosität ganz verschieden annähern kann. Da ist zunächst die Frage: Was bezeichne ich eigentlich als Religiosität? Da habe ich gerade erst wieder einen Bewußtseins-Sprung gemacht, als ich die Inhalte dieses Beitrags (Studium generale) zur Kenntnis nahm. Wenn ich beispielsweise dem Erlebnis einer einsamen Wanderung in der Natur eine religiöse oder quasi-religiöse Bedeutung zuspreche, dann erweitert das, was man bei der Erforschung von Religiosität alles in den Blick nimmt und bekommt, sofort ganz erheblich.

Man wird sich dann bewußt, daß ein großer Teil der Menschen in der großen Kategorie der "Religionslosen", der "Atheisten", Agnostiker etc. pp. in Michael Blume's Statistiken - zu der ich auch gehöre - natürlich auch "Religiosität" haben - oder haben können. Nur: diese taucht - bisher - (fast zwangsläufig) in keiner seiner Statistiken auf. Und ich glaube, das muß man als heftig unbefriedigend empfinden. Michael wird sagen - und ich traue es ihm zu -, daß es ihm gelingen wird, diese Aspekte früher oder später in seine Ansätze zu integrieren. (Es kommt halt auf die Daten an, die man findet, um sie den eigenen Forschungen zugrunde legen zu können.) Aber so lange das nicht in ausgeprägterem Maße geschehen ist, bleibe ich halt einfach sehr unbefriedigt zurück.

Religiös - und doch in keiner Statistik verzeichnet

Denn ich frage mich: Was soll denn eigentlich bei dem von ihm bis jetzt so begeistert entworfenen "Wettbewerb der Religionen" eigentlich herauskommen? Und warum spricht er nicht besser vom "Wettbewerb der Philosophien und Weltbilder"? Man sollte doch ehrlich sein: Selbst wenn ich mit freiprotestantischen, "reformbewegten" Menschen spreche, von denen einem ja doch der oder die eine oder andere hier oder dort einmal über den Weg läuft, und die einem oft sehr viel sympathischer sein können als viele andere Menschen, so weiß ich doch (so ähnlich wie Michael Holzach bei seiner Auseinandersetzung mit den Hutterern in Kanada das wußte), daß das weder für mich persönlich ein Weg in die Zukunft ist, noch auch für meine Gesellschaft insgesamt.

Wenn wir davon ausgehen, "daß die naturalistische Wende im Menschenbild unwiderruflich ist" (Thomas Metzinger), dann hat eben - rein von der Sache her - ein supernaturalistisches Welt- und Menschenbild einfach keine Überzeugungskraft und Zukunft mehr. Religiosität kann es aber auch ohne ein supernaturalistisches Weltbild geben. Richard Dawkins selbst ist - klar - ein religiöser Mensch. Und ich möchte sagen: Fast die Mehrheit der bedeutenderen, bekannteren Nobelpreisträger und Sachbuchautoren äußert in der einen oder anderen Weise religiöse Überzeugungen. Meistens werden diese rein naturalistisch formuliert. Und selbst bei jenen, die diese Überzeugungen supernaturalistisch formulieren, bleibt die Verbindung zwischen einem supernaturalistischen Gott und dem von ihnen vertretenen naturalistischen Weltbild oft allzu diffus und im Unklaren, es liegt einem "quer im Magen". Einfach weil: "nicht zusammen paßt, was nicht zusammen gehört".

"Wut auf Religionen"

Jetzt ein paar Nutzanwendungen auf den neuen Text von Michael Blume: "Bis heute erkennt man Feinde der Freiheit an ihrer Wut auf Religionen und besonders auf religiöse Minderheiten," sagt er (S. 4). Das ist mir bei weitem zu allgemein, zu pauschal formuliert. Man kann auch Wut gegen Religionen haben, ohne die Religionsfreiheit einzuschränken. Das gilt genauso wie gegenüber Wut auf Philosophien, Ideologien, wenn man intellektuelle Unredlichkeiten oder schlichte Fehler feststellt, überholte, falsche Denkhaltungen oder vieles andere mehr in diesem Zusammenhang zurückweist. Durch Wut und Zorn sind ja übrigens auch in früheren Zeiten viele innerreligiöse Reformen zustande gekommen.

"Der echte Liberale" kann, muß aber nicht jeden Unsinn, jeden epileptischen Propheten oder völkermordenden Gott als Bereicherung empfinden. Und er kann das auch zum Ausdruck bringen, ohne daß er dabei die Freiheit anderer beschneidet. Anders wird ja kein offener und kritischer Diskurs möglich. Das, was man sieht, muß man auch sagen. Und ich sehe es doch.

Auch glaube ich nicht, daß "monoreligiöse Gesellschaften" "tendenziell reaktionär" oder "kollektivistisch-ideologisch" sein müssen, wie Michael sagt. Ich habe grad - eher zufällig - amerikanische Soziologen über die Funktionalität von Religion gelesen (Reynolds/Tanner, "The Social Ecology of Religion", 1995 [fand ich bei Richard Sosis 2003 zitiert]), wo gerade so ziemlich die Hauptthese darin besteht, daß Religion in früheren Zeiten schlicht das war, was "alle" machten, wo also nie jemand dauernd überlegen mußte, ob er es so oder so machen sollte, ob er sich so oder so entscheiden sollte. Ich finde das Buch ngar icht besonders gut, die These ist auch nicht gerade etwas, was einen vom Hocker wirft - aber stimmen tut sie natürlich.

"Tendenziell reaktionär"?

Man kann doch nicht sagen, daß es für Menschen, die im wesentlichen gar nichts anderes kennen als ihre eigene Religion (und das galt für die überwiegende Mehrheit der ländlichen Bevölkerung in früheren Zeiten - und sicherlich noch mehr für Jäger/Sammler-Bevölkerungen) grundsätzlich eine Beschneidung ihrer Freiheit war, daß sie nichts anderes kannten. Das lag einfach schon an den ganz anderen gesellschaftlichen Kommunikations-Strukturen in früheren Jahrhunderten. Während des gesamten Mittelalters gab es in Europa nur eine einzige Religion. Als "Heiden" waren höchstens noch die Juden bekannt und Völker weit draußen am Ende des eigenen Kulturraumes. Aber das alles fast nie als echte Alternative für den eigenen Lebensweg. Binnengesellschaftlich gab es keine religiöse Pluralität, die mit heute vergleichbar wäre.

Oh, und auch die Geschichte der Amischen (Mennoniten) in Europa ist mir ein bischen zu "scharf" von Michael gekennzeichnet. Das unterschiedliche Schicksal der Amischen in Europa und Amerika ist wohl - insgesamt gesehen - nicht im wesentlichen durch unterschiedliches Ausmaß staatlicher Repression und gesellschaftlichen Drucks von außen bestimmt (die gab es ja in den USA auch), sondern - soweit ich sehe - vor allem durch den Sprachunterschied, der in den USA zur Mehrheitsbevölkerung bestand und in Europa nicht. So etwas hält ja eine Gemeinschaft sehr stark zusammen, wenn man an der eigenen Sprache auch in einer anderssprachigen Umgebung festhält.

Die in Europa gebliebenen Amischen gibt es heute schlicht deshalb nicht mehr, weil sie sich assimilierten, nicht weil sie hier im 19. und 20. Jahrhundert noch großartige verfolgt wurden. (In der Pfalz gibt es ja noch eine "Mennonitische Forschungsstelle", wo man sich darüber informieren kann.) Auch in Rußland hielten sich ja die Mennoniten-Gemeinschaften bis in die Stalin-Zeit, ja oft bis heute - aufgrund des Sprachunterschieds. Und sie zerfielen in dem Augenblick oft, in dem die Gemeinschaften die Muttersprache der Umgebung annahmen (sich assimilierten).

"In Europa wurden ihre Gemeinden restlos ausgelöscht", "brutal verfolgt" ist mir also zu undifferenziert. Für das 16. und 17. Jahrhundert in vielen Regionen durchaus, aber selbst da nicht allgemein gültig. Es gab immer in Europa auch tolerante Landesherren, wo viele religiöse Minderheiten Zuflucht finden koknnten. Oft mußte man halt nur, wenn der Landesherr wechselte, in eine andere Region ziehen. Und "liberal" auf dem Gebiet der Kindererziehung kann man die Amischen ganz bestimmt nicht nennen. Aber sie empfinden die Einschränkungen nicht, weil sie subjektiv in einer monoreligiösen Gemeinschaft leben und die Beeinflussung durch das gesellschaftliche Leben außerhalb ihrer Gemeinschaft auf das notwendigste Mindestmaß heruntergeschraubt wird.

Zukunftstragende Ideen und Lebensformen

Der Begriff "Wettbewerb der Religionen" ist vielleicht auch deshalb nicht besonders glücklich für die heutige Zeit gewählt, weil der eigentliche "Wettbewerb" (- darf man das Selektion nennen, ohne mißverstanden zu werden?), was zukunftsfähige Ideen und Lebensformen betrifft, heute so weit ich sehe, nicht im Wesentlichen oder vorwiegend im zwischen-religiösen Dialog stattfindet. „Christliche Ethik ist nicht mehr gegenwartstauglich“, davon ist auch der Biophilosoph Eckart Voland von der Universität Gießen überzeugt. „Der moderne, aufgeklärte Staat ist viel weiter als das Alte und Neue Testament.“ (Studium generale) Damit stimme ich 100%-ig überein.

Der wesentliche Wettbewerb um die zukunftsträchtigen Ideen und Konzepte findet heute längst nicht mehr zwischen den bestehenden großen oder kleinen Religionen statt, sondern ganz unabhängig von ihnen. Und viele finden es fast als ein "retardierendes" Element, wenn man da dauernd noch auf verquastete und veraltete Konzepte Rücksicht nimmt oder Rücksicht nehmen soll.

Von fröhlichem "Wettbewerb der Religionen" kann man sicherlich - wenn man will - bei manchen Entwicklungsphasen etwa der antiken Kultur sprechen. Der Wettbewerb hörte ja schlicht in dem Augenblick auf, in dem sich das Christentum als staatstragend siegreich aus ihm hervorgerungen hatte. Schon damals hätte man sagen müssen (und das haben ja auch viele gesagt): Keine Toleranz für die Untoleranten. Es waren ja gerade die heute vorherrschenden Religionen, die diesen friedlichen Wettbewerb abgewürgt hatten.

Die alten Religionen sind gar nicht echt wettbewerbsfähig

Und der Grund dafür ist, daß sie auf dem Gebiet der Ideen und der Wissenschaft schlicht schon damals gar nicht "wettbewerbsfähig" waren, da sie das antike Prinzip des "logo di donai" (des sich redlich "Rechenschaft geben über") ersetzten durch ein blinden "Glauben", ... "auch wenn es absurd ist". Ich glaube also, gerade die monotheistischen Religionen sind die denkbar schlechtest-geeigneten für einen redlichen Wettbewerb von Ideen und Lebenskonzepten, da sie immer schon von vornherein - bevor sie in eine Diskurs eintreten - von mir verlangen, daß ich etwas als gültig akzeptieren soll, was eben - für mich - sehr heftig infrage steht. Und da es infrage steht, fällt damit alles andere sofort so ziemlich von selbst auch in sich zusammen, so gern ich das - als Wissenschaftler - in seiner inneren Rationalität nachvollziehe und nachvollziehen kann.

Die letzten 2000 Jahre Religionsgeschichte waren jedenfalls so fröhlich nicht. So fröhlich war der "Wettbewerb" im 17. Jahrhundert auch in Deutschland nicht. Also insgesamt: Der Hayek und ein großer Teil moderner, naturwissenschaftlich orientierter Religionswissenschaft kann als Konzept für die Erklärung der Vergangenheit und Gegenwart ganz dienlich sein. Für mich ist aber die Hauptfrage: Welche Schlußfolgerungen ziehe ich aus den Lehren der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft? Und dazu müssen die gegenwärtigen Konzepte und Forschungsansätze zu Religiosität - wie ich denke - noch wesentlich erweitert werden. Der letzte, gute, allgemeinere Ansatz, um Konzepte zu erweitern, stammt, so weit ich sehe, von der Primatologin Barbara King. (Studium generale)

Warum bist du nicht zu Hause geblieben?

Auch könnte man es vielleicht - in Weiterführung von Eckart Voland (siehe oben) - folgendermaßen formulieren: Die "Religionsgemeinschaft" des Religionslosen, des Atheisten ist schlicht der Staat - oder besser vielleicht: die traditionell gewachsene Kultur -, in denen er lebt. Beziehungsweise: die Gesellschaft, in und für die er lebt. Mit dem Zugehörigkeits- und Verantwortlichkeits-Gefühl, das Menschen hierbei entwickeln, werden neue Lebenskonzepte und Weltbilder durchgespielt und diskutiert und gesetzgeberisch festgelegt, die besser gegenwarts- und zukunftstauglich sind, als bisherige Konzepte. In dem Sinne kann man also auch (säkulare) Umweltschutz-Bewegungen, Kinderschutz-Bewegungen, Lebensreform-Bewegungen religiöse Bewegungen nennen. Aber mit welchen Konzepten kann man das theoretisch, wissenschaftlich gültig fassen?

Die traditionellen Religionen sind schlicht nur erfolgreich, weil sie Konzepte anwenden, die sich über viele Jahrhunderte hin bewährt haben. Atheisten sind heute, was Fortpflanzung und Familie betrifft, nicht vergleichsweise so erfolgreich, weil sie eben nach angepaßten Lebensformen suchen, die nicht nur in der Vergangenheit tragfähig waren, sondern die auch - allein mit einem naturalistischen Weltbild - in der Zukunft tragfähig sein werden. Sie sind wie Kolumbus, der alle Brücken hinter sich abbrach. Eine Welt voller Risiken und Gefahren. Und wenn es schief geht, sagen alle: Warum bist Du nicht zu Hause geblieben?

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