Freitag, 8. Juni 2007

"Wettbewerb der Lebensformen" und Gleichschaltung im 20. Jahrhundert

Michael Blume hat es wieder einmal geschafft, Gedanken in Bewegung zu setzen (Studium generale) und einen dazu zu veranlassen, Ergebnisse alter Literatur-Recherchen herauszusuchen. Daß es Atheisten und Kirchenfreie in großer Zahl gibt, ist ja auch ein Phänomen, das erst 100 Jahre alt ist, und mit dem man sich schon häufiger intensiver auseinander gesetzt hat. Es muß ja nicht unbedingt sein, daß 100 Jahre ausreichen, um neue, stabile, evolutiv erfolgreiche Gemeinschaftsstrukturen in diesem Bereich zu etablieren.

Man könnte zum Beispiel in der Gruppe der Religionslosen mal untersuchen, ob es "soziale Marker", Gruppenzugehörigkeiten, Untergruppen gibt, die auch nur *irgendwie* mehr mit Familienstabilität, Kinderzahlen korrelieren, als der Durchschnitt dieser Gruppe heute. Ganz wild durcheinander gefragt:
- Wie sieht es zum Beispiel mit Outdoor-Aktivitäten aus (Häufigkeit etc.)?
- Wie sieht es aus mit gesellschaftlichem Engagement?
- Gibt es bestimmte Berufsgruppen, die herausragen (Pädagogen, Heilberufe ...)?
- Gibt es "Sekten", Gruppierungen, bei denen man diesbezüglich irgend welche Aussagen machen könnte? (Wie sieht es da z.B. mit den Anthroposophen aus? Oder sind die unter der Rubrik christlich einzuordnen?)
- Sollte man sich diesbezüglich einmal die diversesten "neuen religiösen Bewegungen des 20. Jahrhunderts" anschauen? (Dazu unten noch mehr.)
- Wie sieht es aus mit den Lebensreform-Bewegungen des 20. Jahrhunderts?
Wie sieht es nun mit der Stabilität all dieser Gruppen jenseits der "großen monotheistischen Religionen" aus? Das wären dann so in etwa parallele deutsche Untersuchungen zu den Untersuchungen von Richard Sosis zur Stabilität von religiösen und nicht-religiösen gemeinschaftlichen Gruppierungen.

Wandervögel

Wild herausgegriffen: Meine beiden Omas waren Wandervögel, die eine hatte vier, die andere hatte sieben Kinder. Ihrem Lebensoptimismus verdanke also auch ich mein Leben (ebenso wie meine Schwestern). Beide sind entweder kurz vor oder nach der Eheschließung aus der Kirche ausgetreten. Ehestabilität bei beiden bestens. Eine frühere, greise Vermieterin von mir stammt aus einer bekannten Professoren-Familie, der auch Christiane Nüßlein-Vollhart ihr Leben verdankt. Auf den sehr kinderreichen Familienfotos, die meine Vermieterin an der Wand hängen hatte (glaube, sie hatte 10 Geschwister), waren alle Kinder in Wandervogel-Kluft mit dem breiten "Schiller-Kragen" (so hieß der wohl) abgelichtet. (Auch meine Vermieterin selbst hatte fünf Kinder.)

Auch im Wanderverein meiner Eltern waren viele alte Wandervögel, die aus kinderreichen Familien stammten. Und die Kirchennähe der Wandervögel war nicht besonderes ausgeprägt (- ganz bestimmt jedenfalls geringer als bei den Pfadfindern.)

Auch die "großen" Religionen waren einmal klein

Alle heutigen "großen" Religionen sind ja schon das Ergebnis Jahrhunderte langer Auslese-Prozesse. Sie haben alle so ähnlich angefangen, wie die gerade eben erwähnten Gruppierungen. Sie haben alle ebenso in ihren Anfängen Phasen der Instabilität durchlaufen, wie sie seit hundert Jahren kirchenfreie Gruppierungen erfahren, die um neue gemeinschaftliche Lebensformen ringen. Und sie haben in diesen Prozessen ähnlich viele andere instabile, erfolglose Experimente zurückgelassen wie sie auch in den letzten hundert Jahren auf nichtchristlicher Seite wieder "eingegangen" sind.

Totalitarismen bremsen oder stoppen den Wettbewerb

Aber wenn wir weiter darüber nachdenken: Keine dieser Gruppierungen ist irgendwann einmal in größerem Maße als "staatstragend" empfunden worden von den herrschenden Kräften so wie dies von den großen Kirchen immer ganz selbstverständlich der Fall war (zum Beispiel auch im Dritten Reich). Und daß sich keine dieser neuen Gruppierungen bisher stabiler - und in Religions-Statistiken nachweisbar - durchgesetzt hat, ja, überhaupt stabil geblieben ist, liegt natürlich nicht zuletzt auch an den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Noch ehe sich viele von diesen neuen Bewegungen stabilisieren konnten, wurden sie schon wieder von diesen Totalitarismen geschluckt bzw. - "gleichgeschaltet".

Bis heute läßt sich das beobachten. Zuletzt wieder die Gleichschaltung der großen Friedens- und Umweltschutzbewegung in Form eines kriegsführenden und mit mörderischen Staatsmännern kooperierenden Außenministers, der den Tief- und Endpunkt einer großen Aufbruch- und Erneuerungsbewegung (sicherlich insgesamt sehr kirchenferner Art) bedeutete. Frühere Gleichschaltungen bezogen sich auf die Bürgerrechtsbewegung in der früheren DDR nach 1989. Und so kann beliebig weiter in der Geschichte zurück gegangen werden bezüglich der Gleichschaltung, dem Absorbieren gesellschaftskritischer, lebensreformerischer Bewegungen. Solche "Gleichschaltungen" werden also sowohl von Orwell'schen "Diktaturen durch Verängstigung" wie von Huxley'schen "Diktaturen durch Verwöhnung" praktiziert - und die zweite genannte Form der Diktatur ist heute - wenn Robert Trivers und Noam Chomsky recht haben - die Gefährlichere, weil viel leichter zu Selbsttäuschungen verleitende. (Studium generale 1, 2)

Und genauso wie sich die großen monotheistischen Religionen am Anfang in heftigen intellektuellen "Weltanschauungs-Kämpfen", "Kulturkämpfen" gegen eine andersartige und anders denkende Mehrheitsbevölkerung durchsetzen mußten, genauso müssen auch heute Kirchenfreie ringen, nicht nur nach innen in Richtung Stabilisierung von Ehe, Familie und etwaiger Gruppenzusammengehörigkeit (siehe etwa Giordano-Bruno-Gesellschaft), sondern eben auch nach außen in Richtung Anerkennung und gesellschaftliche Akzeptanz.

Forschungsliteratur

Wie sieht es nun mit der religionswissenschaftlichen Aufarbeitung all dieser Dinge aus? Vom evolutionsbiologischen Standpunkt ist mir da - merkwürdigerweise - noch überhaupt nichts bekannt. Vom rein geisteswissenschaftlichen Standpunkt ist natürlich da überall schon allerhand "gesammelt" und "gesichtet" worden (- auch von mir, grins: 1 - 12): Da gibt einen "Arbeitskreis zur Geschichte neuer Religiosität im 20. Jahrhundert", organisiert von der Berliner Skandinavistik-Professorin Stefanie von Schnurbein und dem Mitarbeiter der "Stiftung Weimarer Klassik" in Weimar, Justus H. Ulbricht. Da gibt es unter vielem anderen das "Archiv der deutschen Jugendbewegung" auf Burg Ludwigstein (Nordhessen), das die Lebensrefom-Bewegungen des 20. Jahrhunderts aufarbeitet. (1 - 4) Da gibt es die Freireligiöse Bewegung, die selbst und deren Umfeld geschichtlich dokumentiert wird. (5 - 7) Da gibt es dann die breiten, immer stärker ins Politische hinüberschwenkenden Strömungen der "Konservativen Revolution" und der "Völkischen Bewegung" im 20. Jahrhundert. Sie werden natürlich von verschiedensten Seiten aus aufgearbeitet. (8 - 12) Aber natürlich ist auch "Politische Religion" Religion, die religionswissenschaftlich analysiert werden könnte und sollte. Und außerdem wären natürlich auch die Freidenker-Verbände zu berücksichtigen, die dezidiert atheistischen Vereinigungen, sowie dann all die gesellschaftskritischen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, ihre Kommunen, Bürgerinitiativen etc.. Und sicherlich hat eine solche Liste immer noch unwahrscheinlich viel Wesentliche unberücksichtigt gelassen. Zum Beispiel die "Frankfurter Schule", die natürlich auch in gewisser Weise ein "staatstragender Religions-Ersatz" war und ist. Und zwischen all diesen Dingen gibt es dann viele Verflechtungen, fließende Übergänge, heftige Abstoßungen, also insgesamt viel Wettbewerb, aber Wettbewerb, in dessen Verlauf die beiden größten bisherigen Kriege der Weltgeschichte geführt worden sind.


1. Diethart Kerbs; Jürgen Reulecke: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 bis 1933, Peter Hammer Verlag, 1998 (Amazon)
2. Symposium des Archivs der deutschen Jugendbewegung: Die Wiederbelebung jugendbündischer Kulturen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft (1945 - 1960), Oktober 2004
3. Hepp, Corona: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. dtv, München 1992 (1987)
4. Linse, Ulrich: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Siedler-Verlag, Berlin 1983
5. Cancik, Hubert: Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik. Patmos Verlag, Düsseldorf 1982
6. Bronder, Dietrich: Die Geschichte des Bundes Freireligiöser Gemeinden bis 1945. In: Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (Hg.): Die Freireligiöse Bewegung - Wesen und Auftrag. Selbstverlag, Krach in Mainz 1959
7. Heyer, Friedrich (Hg.): Religion ohne Kirche. Die Bewegung der Freireligiösen. Ein Handbuch. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Quell Verlag, Stuttgart 1977
8. Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 - 1932. Ein Handbuch. 4. Aufl. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994
9. Bronder, Dietrich: Bevor Hitler kam. Hans Pfeiffer Verlag, Stuttgart 1953
10. Buchheim, Hans: Glaubenskrise im Dritten Reich. Drei Kapitel nationalsozialistischer Religionspolitik. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1953
11. von Schnurbein, Stefanie; Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe "arteigener" Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001
12. Puschner, Uwe; Schmitz, Walter; Ulbricht, Justus H.: Handbuch zur "Völkischen Bewegung". K.G. Saur Verlag, München u.a. 1996
13. Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Band 1 - 3. Ferdinand Schönigh Verlag, Paderborn u.a. 2003

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen