Samstag, 19. August 2023

Ötzi - Der "letzte Antatolier"

Der Ötzi war einer der letzten Menschen mit ziemlich reiner anatolisch-neolithischer Herkunft (3.200 v. Ztr.)
- Er war Repräsentant von Relikt-Bevölkerungen in den Alpen
- In seiner Heimatgegend hatte man sich die Genetik der bäuerlichen Vorfahren aus dem Frühneolithikum bewahrt

Durch die Fortschritte in der Archäogenetik der letzten Jahre sehen wir immer deutlicher: Völkergeschichte kennt über viele Jahrtausende hinweg Relikt-Bevölkerungen, "Letzte ihrer Art", die noch in abgelegenen Rückzugsgebieten leben, während sich die Bevölkerung rund um sie herum kulturell und genetisch mehrheitlich schon sehr deutlich weiter entwickelt hat. Diese Relikt-Bevölkerungen können entweder in der Folge aussterben oder aber auch beträchtlichen Einfluß nehmen auf die Ethnogenese neuer Völker.

Abb. 1: Der Ötzi und der Broion-Mensch als Repräsentanten von Relikt-Bevölkerungen in Rückzugsgebieten in der Kupferzeit, bzw. im Spätneolithikum (aus 1)

So haben Jahrhunderte und Jahrtausende lang die Nachkommen europäischen Fischer, Jäger und Sammler des Mesolithikums unvermischt an Meeres-, See- und Flußufern, sowie in Höhenlagen der Mittelgebirge und der Alpen Europas, sowie auf den britischen Inseln weiter gelebt, während die fruchtbaren Schwarzerdeböden rund um diese Rückzugsräume herum auf dem Kontinent schon lange von Bauern anatolisch-neolithischer Herkunft besiedelt waren.

Und so haben auch Nachkommen der ursprünglichen anatolisch-neolithischen Bauern des Frühneolithikums noch unvermischt Jahrhunderte und Jahrtausende lang in Rückzugsgebieten weiter gelebt, während rund um sie herum längst Menschen neuer Genetik und Kultur entstanden waren, nämlich die typischen Menschen des Mittelneolithikums mit einem erneut erhöhten Anteil einheimischer Fischer-, Jäger- und Sammler-Genetik.

Abb. 2: Die Geschichte der Herkunftsgruppen in Italien (aus: "Research in Estonia" 2021, pdf, bzw. Physics2021) (Grafik erstellt von Eugenio Israel Chávez Barreto)

Daß letzteres der Fall gewesen ist, zeigte sich schon verschiedentlich in archäogenetischen Studien zu den Epochen nach der Ankunft der Steppengenetik in Europa, also nach 2.900 v. Ztr.. So etwa in einer Studie zur Archäogenetik der bronzezeitlichen Schweiz, zu der wir festhielten (Stgen2021):

Noch fast 1000 Jahre nach der Zuwanderung der Indogermanen in die Schweiz findet man hier nämlich männliche Indogermanen verheiratet mit einheimischen Frauen, die immer noch die typische reine europäische mittelneolithische genetische Signatur aufweisen. Entweder stammen diese Frauen also aus Unterschichten, die sich in den bisherigen Gräbern sonst gar nicht finden. Oder sie stammen aus entlegenen Alpentälern, in die sich die Indogermanen erst sehr spät eingemischt haben.

Es traten hier immer wieder Menschen auf, die aus Verbindungen hervorgegangen waren mit Menschen recht ursprünglicher, sprich mittelneolithisch-europäischer Genetik. Insbesondere hatte man solche im Alpenraum vermuten müssen. Und - sicherlich auch auf der Suche nach ihnen - sind die Gene des berühmten Ötzi (Wiki), die Eismumie aus Südtirol, neu sequenziert worden (1).

Der Ötzi liefert einmal erneut auffallendste Erkenntnisse

Überraschenderweise zeigt sich aber, daß seine Genetik nicht einmal nur rein "mittelneolithisch" war, sondern viel eher der "frühneolithischen" nahe stand.

Ötzi hat zwischen 3350 und 3120 v. Ztr. gelebt, das heißt, in der Zeit vor der Ankunft der Steppengenetik in Mitteleuropa und in den Alpen. Diese Ankunft wird grob erst auf 2900 v. Ztr. datiert und ist erst in den letzten Jahren durch die Archäogenetik besser verstanden worden (Stgen2021).

Ötzi hatte nach dieser neuen Studie 91,4 % anatolisch-neolithische Genetik und 8,6 % westeuropäische Jäger-Sammler-Genetik (1).

Abb. 3: Die Höhlen von Broion, gelegen in einem der südlichsten Ausläufer der Alpen (Unimore.it)

Es gibt noch ein weiteres Individuum ähnlicher Zeitstellung, ebenfalls grob aus dem Alpenraum, das eine noch überraschend geringere Jäger-Sammler-Beimischung aufwies, also eine solche, die eher typisch war für das Frühneolithikum. Dieses Individuum wurde gefunden in einer Höhle genannt "Grottina dei Covoloni del Broion" (3) im Monte Brosimo bei Lumignano (s. a. Wiki), grob auf der Hälfte des Weges zwischen Garda-See (im Westen) und Venedig (im Osten), 80 Kilometer östlich des Gardasees und 60 Kilometer westlich von Venedig, außerdem zwischen Verona und Padua, die ebenfalls auf dem Weg liegen (GMaps). Die Autoren schreiben (1):

Nur Individuen aus dem kupferzeitlichen Broion in Italien, die südlich der Alpen gefunden wurden, weisen eine ähnlich niedrige Jäger-Sammler-Abstammung auf wie der Mann aus dem Eis. Wir kommen zu dem Schluß, daß sowohl der Mann aus dem Eis als auch der Mann aus Italien_Broion_CA.SG Vertreter spezifischer Chalkolithikum-Gruppen sein könnten, die höhere Anteile frühneolithischer bäuerlicher Genetik aufweisen als jede andere zeitgenössische europäische Gruppe. Dies könnte auf einen geringeren Genfluß aus Gruppen hinweisen, die stärker mit Jägern und Sammlern vermischt sind, oder auf eine geringere Populationsgröße von Jägern und Sammlern in dieser Region im 5. und 4. Jahrtausend v. Ztr..
Only individuals from Italy_Broion_CA.SG found to the south of the Alps present similarly low hunter-gatherer ancestry as seen in the Iceman.21 We conclude that the Iceman and Italy_Broion_CA.SG might both be representatives of specific Chalcolithic groups carrying higher levels of early Neolithic-farmer-related ancestry than any other contemporaneous European group. This might indicate less gene flow from groups that are more admixed with hunter-gatherers or a smaller population size of hunter-gatherers in that region during the 5th and 4th millennium BCE.

In der Tat werden ja den Jägern und Sammler des Alpenraumes nach der Neolithisierung der Alpentäler, unter denen auch die größeren noch vergleichsweise schmal sind, nur noch vergleichsweise wenig Rückzugsräume geblieben sein. Und weiter (1):

Wir schätzten das Vermischungsdatum zwischen frühneolithischen, bauernbezogenen (unter Verwendung von Anatolia_N als Stellvertreter) und WHG-bezogenen Abstammungsquellen unter Verwendung von DATES22 auf 56 ± 21 Generationen vor dem Tod des Mannes aus dem Eis, was 4880 ± 635 kalibrierter v. Ztr. unter der Annahme von 29 Jahren pro Jahr entspricht Generation. (...) Im Vergleich mit dem Zeitpunkt der Vermischung zwischen frühneolithischen Bauern und Jägern und Sammlern in anderen Teilen Südeuropas, beispielsweise in Spanien und Süditalien, stellten wir fest, daß insbesondere die Vermischung mit Jägern und Sammlern, wie sie beim Mann aus dem Eis und in Italy_Broion_CA.SG zu sehen ist, neueren Datums ist, was auf ein möglicherweise längeres Überleben von Jäger-Sammler-Vorfahren in dieser geografischen Region schließen läßt.
We estimated the admixture date between the early Neolithic-farmer-related (using Anatolia_N as proxy) and WHG-related ancestry sources using DATES22 to be 56 ± 21 generations before the Iceman’s death, which corresponds to 4880 ± 635 calibrated BCE assuming 29 years per generation. (...) While compared with the admixture time between early Neolithic farmers and hunter-gatherers in other parts of southern Europe, for instance in Spain and southern Italy, we found that, particularly, the admixture with hunter-gatherers as seen in the Iceman and Italy_Broion_CA.SG is more recent (Figure 3B; Table S3), suggesting a potential longer survival of hunter-gatherer-related ancestry in this geographical region.

Das genannte Datum würde auf die Zeit des Untergangs der Bandkeramik hindeuten, auf den Beginn des Mittelneolithikums. Welche Vorgänge genauer dafür verantwortlich waren, wird man beim gegenwärtigen Zeitpunkt nur erahnen können. Denn die Neolithisierung des Alpenraumes erfolgte ja eigentlich erst ab 4.300 bis 4.100 v. Ztr. im Rahmen der sogenannten "tertiären Neolithisierung" (Stgen2011).

Abb. 4: Neolithische Kulturen in der Schweiz (Stöckli1995) - "Cortaillod" sind auch bäuerliche Kulturen

Und sie dürfte vom Süden her von vergleichsweise anderen Kulturen erfolgt sein als von Norden her, wobei sich die Genetik nicht sehr stark unterschieden haben braucht.

Auf jeden Fall ist nichts naheliegender als ein längeres Überleben von Jägern und Sammlern im Alpenraum. Etwas ähnliches sehen wir ja auch beispielsweise in den Karpaten oder im Ostseeraum. Von dieser Perspektive her, würde das Vermischungsereignis unter den Vorfahren des Ötzi sogar vergleichsweise früh gelegen haben. 

Auf Verbreitungskarten - beispielsweise zur Neolithisierung der Schweiz (Abb. 4) - sieht man deutlich, daß weite Gebiete der Zentralalpen über Jahrtausende hinweg offenbar nicht von bäuerlicher Bevölkerung besiedelt waren. Nur bäuerliche Kulturen sind überhaupt eingetragen und wurden bislang überhaupt behandelt für diese Zeiträume von Seiten der Forschung (5). Vielleicht deuten diese Ausführungen auf eher ursprüngliche Bevölkerungen (5):

Eine spezielle Problematik zeigt die Nordschweiz und das mittlere Juragebiet, wo viele Fundkomplexe mit zahlreichen sogenannten Dickenbännlispitzen bekannt sind, aber kaum Keramikscherben enthalten. Die Dickenbännlispitzen sind nach Vergleichsfunden in der Ostschweiz ab etwa 4500 v.Chr. bis ins 4. Jahrtausend v. Chr. zu datieren. Kulturell war das Gebiet nach Mitteleuropa ausgerichtet.

Vielleicht stammt Ötzi von Populationen ab, die ursprünglich am Rande der Alpen gelebt haben (so wie auch der Mann von Broion), und die sich dann von dort aus weiter in die Alpen hinein ausgebreitet haben während des 5. und/oder 4. Jahrhunderts v. Ztr.. Wir lesen (4):

Vielleicht blieben in der Bergregion beide Gruppen (Bauern und Jäger und Sammler) länger unter sich als anderswo in Europa.

Es ist ja auch auffallend genug, daß Ötzi selbst eher die Lebensweise von Jägern und Sammlern gelebt hat in den Zentralalpen, dabei er aber in stetiger Verbindung mit bäuerlichen Kulturen in den Tälern stand.

 Abb. 6: Rekonstruktion der Ötzi-Mumie, Vorgeschichtliches Museum Quinson, Provinz Alpes-de-Haute, Frankreich 2011 (Wiki) (Fotograf: "120")

Auf jeden Fall haben wir jetzt mit dem Ötzi einen Menschen vor uns, der mehr als alle anderen Funde und Befunde bisher als gültiger Repräsentant des Phänotyps der anatolisch-neolithischen Bauern gelten darf. Wir lesen (2):

Ötzi hatte eine noch dunklere Haut als bisher angenommen. „Es ist der dunkelste Hautton, den man in europäischen Funden aus derselben Zeit nachgewiesen hat“, erklärt Co-Autor Albert Zink vom Institut für Mumienforschung bei Eurac Research in Bozen. Ötzis Haut war demnach stärker pigmentiert als die der heutigen Bewohner Sardiniens oder andere Mittelmeerpopulationen. Das wirft auch ein neues Licht auf die Mumie des Gletschermannes: „Man dachte bisher, die Haut der Mumie sei während der Lagerung im Eis nachgedunkelt, aber vermutlich ist, was wir jetzt sehen, tatsächlich weitgehend Ötzis originale Hautfarbe“, sagt Zink. „Dies zu wissen, ist natürlich auch wichtig für die Konservierung.“ 
Die bisherige Vorstellung zum Aussehen von Ötzi stimmen offenbar auch in Bezug auf die Haare nicht: Bisherige Rekonstruktionen zeigten den Gletschermann immer mit langem, leicht gewelltem braunen Haupthaar und einem dichten Bart. Doch eine mit frühem Haarverlust verknüpfte Genvariante in seinem Genom legt nun nahe, daß Ötzi zum Zeitpunkt seines Todes wahrscheinlich eine Glatze oder höchstens noch einen schütteren Haarkranz besaß. „Das ist ein relativ eindeutiges Ergebnis und könnte auch erklären, warum bei der Mumie fast keine Haare gefunden wurden“, sagt Zink. Ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Diabetes Typ 2 lag ebenfalls in Ötzis Erbanlagen, kam jedoch dank seines gesunden Lebensstils wahrscheinlich nicht zum Tragen. (...) 
„Die Genomanalysen enthüllten phänotypische Merkmale wie eine starke Hautpigmentierung, dunkle Augenfarbe und männliche Glatzenbildung, die in starkem Kontrast zu früheren Rekonstruktionen stehen“, sagt Krause. (...) Elisabeth Vallazza, Direktorin des Südtiroler Archäologiemuseums, in dem eine auf den früheren Erkenntnissen basierende Rekonstruktion steht, kommentiert dazu: Bei der im Museum ausgestellten Ötzi-Figur stehe ein anderer Aspekt im Vordergrund: „Es ging dabei vor allem darum, zu zeigen, daß Ötzi ein moderner Mensch war: mittleren Alters, tätowiert, drahtig, wettergegerbt, ein Mensch wie du und ich“, so Vallaza. Eine Überarbeitung der Rekonstruktion sei derzeit nicht vorgesehen.

Ötzi war uns modernen Menschen also fremder als bislang angenommen. So wie der Menschentyp der Bandkeramiker auch und so wie der Menschentyp der antolisch-neolithischen Völkergruppe. Dieser Menschentyp ist heute ausgestorben. Seine Herkunft ist aber heute im Mittelmeer-Raum noch am häufigsten vertreten, vermischt mit Steppen-Genetik, sowie westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik. Wir lesen (4):

Vergleiche (zum Ötzi) sind rar, denn aus dem Alpenraum sind nur wenige Gendaten der Jungsteinzeit bekannt. Diese Lücke wollen die Forscherinnen und Forscher um Zink bald füllen. "Wir arbeiten gerade an der Untersuchung von Skelettfunden aus dem Raum Südtirol/Trentino, aus dem Neolithikum bis zur Bronzezeit", berichtet Zink. "Wir erhoffen uns dadurch ein besseres Verständnis, ob Ötzi ein typischer Vertreter seiner Zeit war (also innerhalb des Alpenraumes) oder sich von anderen Individuen unterschied."

Ergänzung 22.8.23: Der "Mann aus dem Eis" könnte also auch schon zu seiner Zeit - rein phänotypisch - einer Minderheitenbevölkerung angehört haben und ist womöglich sogar schon deshalb als gesellschaftlicher "Außenseiter" verfolgt worden.

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  1. Ke Wang, Kay Prüfer, Ben Krause-Kyora, Albert Zink, Stephan Schiffels, Johannes Krause u.a.: High-coverage genome of the Tyrolean Iceman reveals unusually high Anatolian farmer ancestry. Cell Genomics 16. August 2023, DOI:https://doi.org/10.1016/j.xgen.2023.100377, https://www.cell.com/cell-genomics/fulltext/S2666-979X(23)00174-X
  2. Nadja Podbregar: „Ötzi“ hatte dunkle Haut und kaum noch Haare (BdW 2023)
  3. Tina Saupe, Francesco Montinaro u.a. (Christiana L. Scheib): Ancient genomes reveal structural shifts after the arrival of Steppe-related ancestry in the Italian Peninsula. In: Current Biology 2021 https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(21)00535-2
  4. Karin Schlott (Spektrum 2023
  5. Stöckli, Werner E.: "Neolithikum", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008012/2010-09-07/, konsultiert am 19.08.2023.

Mittwoch, 16. August 2023

Die Slawen - Wo liegen ihre Ursprünge?

Spielte die Kugelamphoren-Kultur eine wichtigere Rolle bei ihrer Ethnogenese?
Oder lag ihre Urheimat in Masuren?
- Auch zwei neue archäogenetische Studien können diese uralte Forschungsfrage nicht abschließend klären

Wir sehen sowohl im Neolithikum wie in der Bronzezeit in Mittel- und Ostmitteleuropa die Menschen in großen Langhäusern lebten, in denen Familien-Clans über mehrere Generationen hinweg leben, und die ihre Toten ab dem Mittelneolithikum in Megalithgräbern bestatten.

An den Rändern dieser Siedlungsräume, an Meeresküsten und Seeufern, sowie auf Höhenlagen der Mittelgebirge - zum Beispiel in den Karpaten - sehen wir über Jahrtausende hinweg parallel zu den bäuerlichen Gesellschaften oft noch unvermischt einheimische Fischer-, Jäger und Sammler-Völker leben. Letztere leben wie heute noch die Chanten und Mansen östlich des Ural in Westsibirien.

Aber auch schon die Chanten und Mansen entstammen einer Vermischung von Steppengenetik mit nordsibirischer Naganasan-Genetik (Stgen2022a, b). Ihre Vorfahren haben einst auch tausend Kilometer weiter südlich von ihrer heutigen Heimat gelebt, südlich des Ural, noch südlich von Jekaterinburg. Ein Stamm, der aus dieser Vermischung hervorging, bildete noch während der Völkerwanderungszeit in den nachchristlichen Jahrhunderten den Grundstamm der Ethnogenese der Landnahme-Ungarn, sowie auch der Baschkiren und anderer Völker. Die Chanten und Mansen sind bis heute zwar im wesentlichen Fischer, Jäger und Sammler, bewahren aber auch die Erinnerung an ihre Vorfahren, die als ein Reitervolk gelebt hätten.

Abb. 1: Bronzezeitliche archäologische Kulturen im heutigen slawischen Bereich: A. Nachschnurkeramik-Kulturen: Mierzanowice-Kultur (blau=MC), Strzyżów-Kultur (orange=SC), Iwno-Kultur (grün=IC), B. Mittelbronzezeitliche Kulturen: Trzciniec-Kultur (rot=TC), Komarów-Kultur (lila=KC) (aus 1)

Ein ähnliches Changieren zwischen verschiedenen Lebensweisen als Fischer, Jäger und Sammler, sowie als Bauern und Hirten gruppiert um Langhäuser und Megalithgräber hat es in ganz Ostmitteleuropa und im Ostseeraum über viele Jahrtausende hinweg gegeben. Aus diesem Changieren sind in Ostmitteleuropa immer wieder große Kulturen und Reiche hervorgegangen so wie ja auch die Landnahme-Ungarn ein großes Reich begründet haben.

Aufgrund der Erkenntnis solcher Zusammenhänge kann gegenwärtig auch nicht ausgeschlossen werden, daß rund um die Stadt Allenstein in Ostpreußen in Masuren, auf dem einstigen Schlachtfeld der Schlacht von Tannenberg des Jahres 1914 das Urvolk der Slawen (Wiki) gelebt haben könnte (1, 2). Zumindest ist es eine denkbare Urheimat. Nach Zeitstellung und Örtlichkeit sind beim heutigen Kenntnisstand allerdings noch vielfältige andere Ursprungsorte und Zeiträume möglich. Das Urvolk der Slawen könnte entweder - wie die anderen indogermanischen Sprachfamilien Europas - im Spätneolithikum oder in der Bronzezeit oder sogar erst während der Völkerwanderungszeit entstanden sein.

Zwei neue archäogenetische Studien (1, 3) werfen neues Licht auf all diese Fragen.

Ab 3.000 v. Ztr. tritt die Kultur der Schnurkeramiker im heutigen polnischen Bereich, in Kujawien an der Weichsel und im Ostseeraum auf (s. Stgen2021). Die Schnurkeramiker leben erst als halbnomadische Stämme inmitten der vollseßhaften Kugelamphoren-Kultur, unternehmen womöglich sogar Kriegszüge mit dieser bis nach Nordjütland. Und sie vermischen sich in späteren Generationen mit der jeweils vor Ort einheimischen Bevölkerung, nämlich mit den Menschen der Kugelamphoren-Kultur im Weichselraum und mit den Menschen der Trichterbecher-Kultur im Ostseeraum. Dadurch bilden sich die indogermanischen Kulturen der Frühbronzezeit aus, insbesondere die Aunjetitzer Kultur und viele von dieser Kultur beeinflußte weitere Kulturen (siehe gleich).

In dieser Zeit könnte, so gegenwärtig noch eine Minderheiten-Meinung in der Wissenschaft, nicht nur die germanische und die keltische Sprache entstanden sein, sondern auch die slawische Sprache. Alle auf jeden Fall auf der Grundlage sehr ähnlicher Genetik, die dann auch genetische Kontinuität bis heute bewahrt hat. Wir lesen nun in einer neuen archäogenetischen Studie zu Angehörigen der bronzezeitlichen Kulturen in Westpreußen, Posen, Zentralpolen und der Ukraine, die sechshundert Jahre nach der Ausbreitung der Schnurkeramiker lebten und der Aunjetitzer Kultur nahestanden, die also schon jene Völkergruppen gebildet hatten, die bis heute fortbestehen (1):

Die Mehrheit der Individuen der Frühbronzezeit (2200-1850 v. Ztr.), die in dieser Studie ausgewertet worden sind, und die mit der Mierzanowice-Kultur (MC), der Iwno-Kultur (IC) und der Strzyżów-Kultur (SC) in Verbindung stehen, sind ihren direkten kulturellen Vorgängern (wie der Glockenbecher- und der Schnurkeramik-Kultur) genetisch ähnlich, wie aus der Hauptkomponentenanalyse (PCA) hervorgeht.
The majority of the EBA individuals in this study (2200–1850 BCE) associated with the MC, IC and SC are genetically similar to their direct cultural predecessors (such as the BBC and CWC), as indicated by the principal component analysis (PCA) plot (Fig. 1D).

Die hier genannte Iwno-Kultur (Wiki) gab es in der Frühbronzezeit in Westpreußen und in der Provinz Posen. Sie stellte - wie die beiden anderen genannten Kulturen - eine Untergruppe der Aunjetitzer Kultur (Wiki) dar. Sie ist in den 1930er Jahren von polnischen Archäologen als solche benannt und umschrieben worden. 

Benannt ist die Iwno-Kultur nach dem Adelsgut Iwno (deutsch Lindental) (Wiki, poln), das in Westpreußen liegt, und zwar sieben Kilometer nordwestlich der Stadt Exin (poln. Kcynia) (Wiki) und 20 Kilometer südwestlich der Stadt Nakel an der Netze. Man orientiere sich auf ---> GMaps , wo wir den Weg von der Stadt Nakel an der Netze über das Gut Iwno nach der Stadt Exin und von dort nach dem Dorf Lohdorf bei Hohensalza in der Provinz Posen eingetragen haben, von dem gleich die Rede sein wird. Seit dem Mittelalter ist das Gut Iwno im Besitz polnischer Adels- bzw. Magnatenfamilien gewesen. Sein Gutshaus ist erhalten und heute renoviert.

Alle diese Ortschaften liegen in den ehemals deutschen Provinzen Westpreußen und Posen, und zwar in jenen Teilen dieser Provinzen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung - vor allem auf dem Land - immer schon Polen waren, in denen aber seit der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung auch deutsche Städte und Dörfer gegründet worden waren, die also bis 1945 auch die Heimat von Millionen von Deutschen war. Nach dem Zerfall der Herrschaft des Deutschen Ritterordens in Westpreußen standen diese Gebiete unter der Oberherrschaft des polnischen Königs, 1772 kamen sie an Preußen.*)

1. Die Genetik der Kugelamphoren-Kultur - Sie bestand 1000 Jahre lang weiter

Im kulturellen Kontext der hier beheimateten Iwno-Kultur im Netze-Weichsel-Gebiet lebte nun bei Hohensalza in Kujawien im vormaligen politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Reiches der Kugelamphoren-Kultur - nahe dem nachmaligen Dorf Lohdorf (poln. Łojewo), acht Kilometer südlich von Hohensalza (39 km südwestlich von Thorn, 48 km südöstlich von Bromberg) (s. GMaps) - ein Mann, der noch die "reine" mittelneolithische Genetik der vormaligen Kugelamphoren-Kultur aufgewiesen hat. Dieser Umstand ist ein sehr auffälliger. Der Mann ist in der Studie benannt als "poz502". Es wird über ihn ausgeführt (1):

Solche offensichtlich neolithischen Individuen wurden schon immer einmal wieder in Populationen beobachtet, die nach der Ankunft der Steppenhirten entstanden, und man vermutet, daß es sich um Ausländer handelte, die aus isolierten Populationen, die bis zum Ende des 3. Jahrtausends v. Ztr. ihre mittelneolithische genetische Ausstattung behielten, in Gesellschaften der Bronzezeit eingegliedert wurden. Wenn diese Interpretation auf poz502 angewendet wird, das durch die Radiokarbon-Methode auf die Grenze zwischen Früh- und Mittelbronzezeit (2000-1750 v. Ztr.) datiert ist, könnte dies darauf hindeuten, daß solche isolierten Populationen viel länger existierten als bisher bekannt war. Diese Hypothese wird durch archäologische Daten gestützt, die zeigen, daß einige neolithische Kulturen, insbesondere die Kugelamphoren-Kultur, bis weit in die Bronzezeit hinein Bestand hatten.
Such seemingly Neolithic individuals have occasionally been observed in populations postdating the arrival of steppe pastoralists and have been hypothesised to be foreigners who were incorporated into Bronze Age societies from isolated populations that retained a Middle Neolithic genetic makeup up to the end of the 3rd millennium BCE. If this interpretation is applied to poz502, radiocarbon dated to the border between the EBA and MBA (2008-1750 BCE), it might indicate that such isolated populations lasted far longer than previously reported. This hypothesis is supported by the archaeological record, which shows that some Neolithic cultures, most notably the GAC, lasted well into the Bronze Age.

Das könnte heißen: Im Zentrum der einstigen Kugelamphoren-Kultur überdauerte diese Kultur nicht nur kulturell, sondern auch genetisch viele Jahrhunderte länger (fast tausend Jahre länger!) als anderwärts. War es vielleicht so, daß die Schnurkeramiker dem alten Herrschaftssitz und der Kultur jenes großen Reiches, das sie tausend Jahre zuvor erst als halbnomadische Auswärtige in weniger fruchtbaren Gebieten in Randbereichen besiedelt (s. Stgen2021), dann später auch in der Fläche übernommen hatten, eine gewisse ehrfürchtige Verehrung bewahrten und darum insbesondere die Bevölkerung des Kernraumes dieses Reiches für Jahrhunderte, sozusagen, "unangetastet" ließen? (Man könnte sich denken, damit auch die einheimischen, vormaligen Reichsgottheiten weiterhin angemessen verehrt würden.)

2. Die mittelbronzezeitliche Trzciniec-Kultur - Sie wies genetisch einen erhöhten Fischer-Jäger-Sammler-Anteil auf

In der Mittleren Bronzezeit folgte auf die Iwno-Kultur in Westpreußen, Posen und Zentralpolen, sowie in der Ukraine die "Trzciniec-Kultur" (2400/1700-1300/1200 v. Ztr.) (Wiki). Insbesondere der polnische Mittelalter-Historiker und Direktor der Universität Posen in den 1960er Jahren Gerard Labuda (1916-2010) (Wiki) (s. Yt), seiner Herkunft nach ein Kaschube aus dem Kreis Karthaus in Westpreußen, in dem er 1916 als deutscher Staatsbürger geboren worden war, und wo er 2010 auch begraben worden ist, vertrat die These, daß diese "Trzciniec-Kultur" das Urvolk der Slawen darstellen würde und auch in der Urheimat der Slawen gelebt hätte.

 Abb. 2: Die mittelbronzezeitliche Trzciniec-Kultur" (2400-1300 v. Ztr.) (Wiki) - Haben die Menschen dieser Kultur schon eine slawische Sprache gesprochen?

Diese Kultur ist benannt nach einem Dorf Trzciniec (Wiki) nahe Lublin (GMaps), gelegen in der Weichselgegend 160 Kilometer südlich von Warschau.

Ob die Genetik die These von Gerard Labuda bestätigen kann? Angehörige dieser Trzciniec-Kultur spielen jedenfalls die Hauptrolle in der neuen archäogenetischen Studie. Zu ihnen heißt es (1):

Im Vergleich zu frühbronzezeitlichen Populationen stehen die mittelbronzezeitlichen Individuen im PCA-Bereich genetisch verschiedenen europäischen Jäger-Sammler-Populationen näher. (...) Dies deutet auf ein zusätzliches Vermischungsereignis zu Beginn der Mittleren Bronzezeit hin, bei dem eine Population mit relativ hohen Anteilen dieser genetischen Komponente beteiligt war.
Compared to EBA populations, the MBA individuals were closer in the PCA space to various hunter-gatherer populations from Europe. (...) This suggests an additional admixture event at the beginning of the MBA involving a population with relatively high proportions of this genetic component. 

Zur Herkunft dieser neuen genetischen Komponente werden längere Ausführungen gemacht (1):

Bei der Verwendung von qpAdm zum Testen möglicher bidirektionaler Vermischungsmodelle, die zur Bildung der mittelbronzezeitlichen Populationen führten, wurden mehrere Modelle als plausibel eingestuft (s. Ergänzungsdaten 13), wobei der höchste p-Wert (p = 0,21) erhalten wurde bei einem Paar bestehend aus Iwno-Kultur und neolithisch-baltischen Jägern und Sammlern (Neolithic Baltic=NBL). Ähnlich hohe p-Werte wurden für andere Paare gefunden, darunter Iwno-Kultur und andere Jäger-Sammler-Populationen: Westeuropäische Jäger und Sammler (WHG), Jäger und Sammler von Gotland, Jäger und Sammler, die im Kontext der Brześć Kujawski-Kultur begraben wurden (BKGout) und Jäger-Sammler-Populationen, die dem baltischen Neolithikum (NBL) vorangingen (HGBL) (p = 0,207, 0,204, 0,164 bzw. 0,160).
When using qpAdm to test for possible two-way admixture models that resulted in the formation of MBA populations, several models were determined to be plausible (Supplementary Data 13) with the highest p value (p = 0.21) obtained for pair consisting of IC and Neolithic Baltic hunter-gatherers (NBL). Similarly high pvalues were found for other pairs including IC and other hunter-gatherer populations: Western Hunter Gatherers (WHG), PWC hunter-gatherers from Gotland, hunter-gatherer buried in BKG context (BKGout) and hunter-gatherer populations predating the NBL (HGBL) (p = 0.207, 0.204, 0.164, 0.160 respectively).

Im weiteren schreiben die Forscher (1):

Wir finden, daß eine Vermischung aus Schnurkeramikern, baltisch-neolithischen Jägern und Sammlern sowie Kugelamphoren-Kultur die genaueste Annäherung darstellen an jene Populationen, die an diesem Vermischungsprozeß beteiligt gewesen sein können.
We find CWCes, NBL and GAC to be the best proxies for populations involved in the admixture process.

Heißt das, daß jüngst neolithisierte Völker aus dem heutigen Raum Masurens, Ostpreußens und Litauens erobernd Richtung Süden gezogen sind, dort das brüchtig gewordene Reich der Iwno-Kultur unterworfen haben und sich mit der dortigen Bevölkerung vermischt haben? Entstand etwa hierdurch das Urvolk der Slawen in Form der mittelneolithischen "Trzciniec-Kultur"? In diesem Zusammenhang wird unter anderem verwiesen auf eine archäologische Studie von Dariusz Manasterski mit dem Titel "Exchanges between Syncretic Groups from the Mazury Lake District in Northeast Poland and Early Bronze Age Communities in Central Europe". Sie stammt aus dem Jahr 2010 (2). Ist in dieser Studie etwa die Urheimat der Slawen umschrieben? Lag sie in Masuren, im südlichen Ostpreußen? 

3. Eine - vermutlich indogermanisierte - Fischer-, Jäger- und Sammler-Kultur in Masuren

Manasterski spricht von der "Ząbie-Szestno"-Kultur. Diese ist benannt nach zwei bis 1945 deutschen Dörfern. Zum einen nach dem Dorf Sombien (poln. Ząbie) (Wiki) bei Hohenstein in Ostpreußen. Es liegt 17 Kilometer östlich des einstigen Tannenberg-Denkmals inmitten des Schlachtfeldes der Schlacht von Tannenberg im Jahr 1914 (Wiki). Diese Kultur ist außerdem benannt nach dem Dorf Seehesten (Wiki) bei Sensburg in Ostpreußen. Dieses Dorf wurde 1401 von dem Ordensritter Ulrich von Jungingen begründet, der 1407 bis 1410 Hochmeister des Deutschen Ritterordens war. In Seehesten gibt es noch heute die Ruine einer Burg des Deutschen Ritterordens. Seehesten liegt ebenfalls auf dem Schlachtfeld von 1914. Beide genannten Dörfer liegen 85 Kilometer voneinander entfernt, und zwar das erstere südlich, das letztere östlich von Allenstein (GMaps). 

Abb. 3: Die Sombien-Seehesten-Kultur (poln.: "Ząbie-Szestno"-Kultur) - Eine masurische, vermutlich indogermanisierte Jäger-Sammler-Kultur der Frühbronzezeit - Sie stand im Kulturaustausch mit indogermanischen Kulturen der Aunjetitzer Kultur (UC, IC, MC, SC) (aus: 2) UC - Unetice culture, IC - Iwno culture, MC - Mierzanowice culture, SC  - Strzyżów culture, TC - Trzciniec culture, PG - Płonia group, LG - Linin group, ZS - Ząbie-Szestno type

Zu Deutsch wäre diese masurische Jäger-Sammler-Kultur, die "synkretistisch" neolithische Kulturelemente übernommen hatte, also zu benennen als die "Sombien-Seehesten-Kultur" (poln. "Ząbie-Szestno"-Kultur). Die Schlußsätze der Studie von Dariusz Manasterski lauten (2):

Das derzeit bekannte Material läßt nur den Schluß zu, daß diese Gruppen einen ausgesprochen synkretistischen Charakter hatten und in ihren Inventaren Merkmale vereinten, die sowohl mit spätneolithischen als auch mit frühbronzezeitlichen Kulturen Mitteleuropas in Verbindung gebracht wurden (Manasterski 2009, S. 134, 148-149). Daher werden sie (Ansammlungen vom Typ Ząbie-Szestno) vorerst mit dem Namen der archäologischen Stätten an jenen Orten bezeichnet, wo bislang die charakteristischsten Beweise für sie gefunden wurden: Sombien (Fundort X) und Seehesten (Fundort II).
The material known at present allows us only to conclude that these groups were markedly syncretic in character, combining in their inventories attributes associated with Late Neolithic as well as with Early Bronze cultures of Central Europe (Manasterski 2009, pp.134, 148-149). Consequently, for the time being they (assemblages of Ząbie-Szestno type) are referred to using the name of archaeological sites at the locations which yielded the most characteristic evidence: Ząbie site X and Szestno site II.

Diese Kultur in Masuren hatte auch Kulturaustausch mit dem westlichen Pommern, wo nahe des Dorfes Buchholz bei Stettin (Wiki), bzw. am Fluß Plöne (poln. Płonia) (Wiki) Dolche eines bestimmten Typs, nämlich des Plöne-Typs (poln. Płonia-Typs) gefunden wurden (s. Abb. 3). Solche Dolche spielten insbesondere im Zusammenhang mit der Glockenbecher-Kultur eine Rolle.

Nach der Studie können aber nicht nur Populationen in Masuren in Betracht gezogen werden, sondern aus einem viel weiteren Gebiet entlang der Zone des "Waldneolithikums" im nördlichen Osteuropa. Denn die Vermischungen sind auch in der Ukraine zu beobachten, und zwar dort sogar noch früher (1):

Die wahrscheinlichste Hypothese ist, daß diese gemischten mittelbronzezeitlichen Populationen an der Grenze der subneolithischen Waldzone entstanden sind in Verbindung mit Populationen mit dominierender genetischer Abstammung von westeuropäischen Jägern und Sammlern, sowie mit Nach-Schnurkeramik-Gruppen, die durch einen großen Anteil Steppenabstammung gekennzeichnet sind. (Original: The most likely hypothesis is that these admixed MBA populations originated in the confluence of the sub-Neolithic forest zone, associated with populations with dominant WHG ancestry14,15 as well as post-CWC groups characterised by a large proportion of steppe ancestry.)

 Das kann eben gut mit den Chanten und Mansen aus der Gegend südlich des Ural parallel gesetzt werden, weil auch diese hervor gegangen sind durch eine Vermischung von Indogermanen mit einheimischen Fischern. Weiter heißt es (1):

„Die subneolithische Waldzone“ ist ein weit gefaßter Begriff, der verschiedene archäologische Kulturen aus Nordosteuropa umfaßt, die durch die lang anhaltende Bewahrung eines vorwiegend von Jägern und Sammlern geprägten Lebensstils und die Einbeziehung kultureller Elemente neolithischen und bronzezeitlichen Ursprungs gekennzeichnet sind. Diese Populationen unterscheiden sich genetisch weiterhin von den neolithischen und postneolithischen Populationen, obwohl sie ein gewisses Maß an langanhaltendem kulturellem und wirtschaftlichem Austausch aufrechterhielten. Es ist möglich, daß dies zu einem gewissen Grad an Genfluß zwischen diesen Populationen führte, ähnlich dem Fall der Grübchenkamkeramischen Kultur (Pitted Ware Culture = PWC) auf Gotland, die abgelöst wurde durch anschließende Kontakte mit frühbronzezeitlichen Nachkommen von Steppenhirten. Darüber hinaus wiesen die Trzciniec-Kultur (TCC) einerseits und die subneolithische Waldzone andererseits ähnliche kulturelle Merkmale auf, hauptsächlich in Form von Töpferwaren und Technologien. Diese Ähnlichkeiten wurden oft als Zeichen eines vor allem kulturellen Austauschs interpretiert. Unsere Ergebnisse, die eine Zunahme der WHG-Abstammung während der mittleren Bronzezeit zeigen, deuten darauf hin, daß es während dieser Interaktionen zumindest zu einem gewissen Grad zu genetischen Vermischungen kam.
The sub-Neolithic forest zone” is a broad term that includes various archaeological cultures from north-eastern Europe, characterised by long-lasting preservation of a predominantly hunter-gatherer lifestyle, and the incorporation of cultural elements of Neolithic and Bronze Age origin38. These populations remained genetically distinct from the Neolithic and post-Neolithic populations, although they maintained some level of long lasting cultural and economic exchange14 It is possible that this lead to some degree of gene flow between those populations, similar to the one observed in the case of PWC in Gotland6,16 followed by subsequent contacts with EBA descendants of steppe pastoralists. Moreover, the TCC and sub-Neolithic forest zone exhibited similar cultural traits, mostly in the form of pottery and technologies12,13,39,40,41. These similarities have often been interpreted as signs of primarily cultural exchange. Our results, showing an increase in WHG ancestry during the MBA, indicate that at least some level of admixture occurred during these interactions.

Wir sahen ja schon in früheren Beiträgen, daß es mancherlei Hinweise darauf geben könnte, daß sich die Indogermanen (Schnurkeramiker, Glockenbecher-Leute) mit eher unterdrückten Völkern am Rande der Großreiche verbündeten und deren Herrschaft dann gemeinsam abwarfen (so zum Beispiel auch auf Sardinien). Vielleicht gibt es ein ähnliches Muster auch hier in Ostmitteleuropa.

Nun, dabei muß nicht zwangsläufig eine sehr grundlegend neue Sprache entstanden sein, zumal im Norden sich ja schon die baltischen Sprachen anschließen. Das Slawische könnte sich ja grundsätzlich auch schon während der Überschichtung der Kugelamphoren-Kultur durch die Schnurkeramiker ausgebildet haben.

Die erwähnte Grübchenkammkeramische Kultur (Wiki) hat im westlichen Ostseeraum parallel zur Trichterbecherkultur, um 3.000 v. Ztr. parallel zur Kugelamphoren-Kultur und zur (indogermanischen) Streitaxt-Kultur bestanden und hat insbesondere auf Gotland in mesolithischer genetischer Kontinuität die Kultur der indogermanischen Streitaxt-Leute angenommen. Ein ähnlicher Prozeß ist in den baltischen Ländern zu beobachten. Diese letzten Jäger-Sammler-Kulturen im Ostseeraum werden auch unter dem Begriff "Waldneolithikum" behandelt. Dazu wird auch die Narva-Kultur (Wiki, engl) gezählt.

Wichtig ist aber weiterhin, daß in der Studie angeführt wird, daß sich frühe Individuen mit mittelbronzezeitlicher Genetik auch im südöstlichen Polen finden (poz794 und poz758), gefunden im kulturellen Kontext der Strzyżów-Kultur. Somit käme auch diese Region als Region der Ethnogenese der mittelbronzezeitlichen Trzciniec-Kultur infrage. Allerdings weist die Strzyżów-Kultur aus archäologischer Sicht neben den vormaligen Schnurkeramik-Elemente auch kulturelle Elemente der östlicheren indogermanischen Katakombengrab-Kultur auf, die wiederum eine Nachfolge-Kultur der sehr bedeutenden Jamnaja-Kultur in der Ukraine darstellt. Da die Menschen der Strzyżów-Kultur aber keinen erhöhten Steppengenetik-Anteil aufweisen müßten, wenn diese Katakombengrab-Kultur auch genetisch Einfluß auf sie genommen hätten - was nicht der Fall ist - und sie stattdessen einen erhöhten Anteil westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik aufweisen, scheint auch diese Kultur genetisch vom mesolithischen Norden, bzw. vom Waldneolithikum her beeinflußt zu sein. In der Studie heißt es (1):

Der Prozeß der Vermischung, der um 1800 v. Ztr. begann, scheint ein eher kontinuierlicher Vorgang gewesen zu sein als das Ergebnis eines einzelnen Migrationsereignisses. Das wird durch die Anwesenheit von Individuen mit sehr hohem oder sehr geringem Anteil an Jäger-Sammler-Vorfahren während der gesamten Zeitspanne belegt innerhalb der Auswahl der hier analysierten MBA-Proben.
The process of admixture, which began around 1800 BCE, appears to have been a continuous rather than a result of a single migratory event, as evidenced by the presence of individuals with very high or very low proportions of hunter-gatherer ancestry throughout the whole temporal range of MBA samples analysed here.

Ein solcher allmählicher Vermischungsprozeß dürfte mit eher geringerer Wahrscheinlichkeit die Entstehung einer völlig neuen Sprache, bzw. gar Ursprache einer Sprachfamilie zur Folge gehabt haben. Insofern könnte es sich bei diesen Völkern schon im slawische Völker gehandelt haben, die sich allmählich mit Menschen aus dem Waldneolithikum vermischten, ohne daß das zumindest außergewöhnliche Auswirkungen auf ihre Sprache und Kultur gehabt haben muß.

Auch sonst ist ja in Mitteleuropa während der mittleren Bronzezeit ein allmählicher anteilmäßiger neuerlicher Anstieg der vormaligen mittelneolithischen Genetik zu sehen. Vielleicht ordnen sich die hier beobachteten Vorgänge in der Trzciniec-Kultur auch in solche Zusammenhänge ein.

Der Vermischungsprozeß soll vor allem von Männern mit hohen Anteilen von Jäger-Sammler-Genetik getragen gewesen sein, denn die Häufigkeitsverteilung der Y-chromosomalen Haplotypen änderte sich durch diesen deutlich.

4. Eine weitere Studie stellt genetische Kontinuität in der Provinz Posen von der vorgotischen Bevölkerung bis ins Mittelalter fest

Die traditionelle Slawenhypothese, nach der sich die Slawen nach der Völkerwanderungszeit aus dem Pripjet-Sümpfen heraus in alle Richtungen ausgebreitet hätten, scheint durch eine weitere archäogenetische Studie (3) zunächst widerlegt.

In dieser ist genetisches Material, gewonnen aus vielen eisenzeitlichen Skeletten der Wiebark-Kultur von Fundorten in der ehemaligen deutschen Provinz Posen und darüber hinaus, also vermutlich Skelette der dort lebenden frühen Goten gewonnen und sequenziert worden. Diese hatten sich mit dortiger, bisher einheimischer osteuropäischer Bevölkerung - in Teilen - vermischt.

Die Studie vergleicht die sequenzierten Goten des Posener Raumes dann mit der mittelalterlichen Bevölkerung desselben Raumes. Die mittelalterliche Bevölkerung gleicht genetisch noch der heutigen Bevölkerung desselben Raumes. Das Ergebnis insgesamt lautet (3):

"Die meisten der für die eisenzeitlichen und mittelalterlichen Gruppen gesammelten Daten stimmen mit der Hypothese überein, die eine genetische Kontinuität von der Eisenzeit bis zum frühen Mittelalter in Ostmitteleuropa annimmt, und legen nahe, daß eine Ausbreitung aus dem Osten im 6. Jhdt. n. Ztr. nicht notwendig ist, um den Genpool der mittelalterlichen Gruppe zu erklären. Allerdings kann man aufgrund dieser Daten weder während der Völkerwanderungszeit noch später weitere Ausbreitungsbewegungen von Osteuropa her gänzlich ausschließen."

Interessanterweise gleicht die Zusammensetzung der mitochondrialen Haplogruppen der Frauen der sequenzierten Goten noch ziemlich gut denen der mittelalterlichen Polen, während sich die Häufigkeitsverteilung der Y-chromosompalen Haplogruppen der Männer nach der Abwanderung der Goten noch sehr deutlich verändert hat.

Damit könnte die Frage nach der Entstehung der Slawen einer Lösung näher kommen. Es würde das - soweit uns das zugänglich ist - heißen, daß die slawischen Sprachen in dieser Region schon in der Bronzezeit, also in der Zeit der Aunjetitzer und der Lausitzer Kultur gesprochen worden sein können und sich dort parallel zu den  keltischen und germanischen Sprachen im Westen entwickelt haben. Wenn sie aber in der Mittelbronzezeit dort schon gesprochen worden sind, können sie dort auch schon in der Frühbronzezeit, bzw. im Spätneolithikum - nach der Etablierung der Schnurkeramiker in diesem Raum - gesprochen worden sein.

Dem steht zumindest prinzipiell nichts entgegen, auch wenn es ungewöhnlich wäre, daß sich eine ganze Völkerfamilie, die parallel zur germanischen, keltischen, baltischen und finno-ugrischen gelebt hat, sich geschichtlich-archäologisch so viel weniger ausgeprägt geltend gemacht haben sollte als alle anderen, daß sie also immer wieder erneut von Völkern anderer Sprache überschichtet worden sein sollten, die kulturell und sprachlich wenig Einfluß auf die einheimische Bevölkerung genommen hätten.

All das könnte heißen: Die Sprache der Slawen, das Urslawische, entstand, als die Kugelamphoren-Kultur um 3.000 v. Ztr. von Schnurkeramik- und Glockenbecher-Leuten überlagert und indogermanisiert worden ist. Diese These halten wir schon seit vielen Jahren für plausbibel - und es scheinen sich die Daten zu mehren, die in Übereinstimmung stehen mit dieser These, insbesondere die in diesem Beitrag referierten Daten aus der Archäogenetik (1, 3).

Über die "Trzciniec-Kultur" (2400-1300 v. Ztr.) (Wiki) gibt es derzeit noch gar keinen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel. Auf dem polnischsprachigen lesen wir (Wiki):

Einige Autoren betrachten das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Trzciniec-Kultur als Wiege der Protoslawen.

Seit 1913 wird von polnischen und tschechischen Archäologen die Theorie der autochthonen Herkunft der Slawen vertreten (Wiki):

Protoslawen sollen bereits in der Bronzezeit das Gebiet des heutigen Polen bewohnt haben (als Autochthone oder als Zustrom). Kostrzewskis autochthone Theorie von 1913 war eine Antwort auf die einige Jahre zuvor entwickelte allochthone Theorie, eine Ansicht, die die Siedlungen der frühen Slawen weiter östlich, im Dnjepr-Becken, ansiedelte (der Autor der ersten Veröffentlichung zu diesem Thema im Jahr 1902 war der tschechische Archäologe Lubor Niederle). (...) Es gibt auch Konzepte, die die Trzciniec-Kultur mit der Wiege der Protoslawen (vier westliche Gruppen dieser Kultur in Polen) verbinden.

(siehe ebenso: Wiki.) Als ein Vertreter dieser Theorie wird dann angeführt der schon erwähnte Gerard Labuda. Seine Veröffentlichungen zu diesem Thema scheinen aber nur auf polnischer Sprache vorzuliegen. Wir lesen zu ihnen (Vanaland):

Trzciniec Kultur-Hypothese: Nach dieser Theorie des polnischen Historikers Gerard Labuda ist die Ethnogenese der Balto-Slawen in der Trzciniec Kultur (ca. 1700-1200 v. Chr.) zu sehen, die die Kulturgruppen von Trzciniec, Sosnica, Komarov zusammenfaßt. Hierbei handelt es sich um Schnurkeramiker, die sich unter Einfluß der Aunjetitzer Kultur zur Trzciniec Kultur weiter entwickelten.

2016 wurde aufgrund genetischer Untersuchungen ausgeführt (Wiki):

Die Ergebnisse ließen die Annahme zu, daß die Vorfahren der modernen slawischen Bevölkerung Vertreter neolithischer Kulturen oder zumindest der bronzezeitlichen Bevölkerung Mitteleuropas sein könnten.

Von den Anteilen ihrer genetischen Herkunftsgruppen her unterscheiden sich die heutigen Mitteleuropäer, ob sie nun eine germanische oder slawische Sprache sprechen, kaum. Wenn also die Entstehung des Urgermanischen auf die Zeit der Ankunft der Schnurkeramiker und Glockenbecher-Leute im Nord- und Ostseeraum datiert wird (um 3.000 und 2.200 v. Ztr.) (Stgen2022), könnte es doch eigentlich naheliegend sein, die Entstehung des Urslawischen auf diesselbe Zeit zu datieren. 

Über den polnischen Archäologen Jan Kowalczyk, der 1964 über die Kugelamphorenkultur schrieb, wird berichtet:

Ein Text von monographischem und populärwissenschaftlichem Charakter "Das Volk der Kugelamphoren-Kultur", wurde von Jan Kowalczyk in zwei nachfolgenden Büchern von (dem Verlag) "Z Abyss of Ages" veröffentlicht (Kowalczyk 1964a; 1964b). Er wurde in Form einer erzählten Geschichte verfaßt. Er bezieht sich nur auf die Kugelamphoren-Kultur, deren Gemeinschaft der Autor zu den Vorfahren der heutigen Polen zählt. (...) Der Autor betont die zerstörende und dunkle Rolle der Kugelamphoren-Gemeinschaften in der Vorgeschichte. Er bringt das Verschwinden der Trichterbecher-Kultur mit Angriffen der Kugelamphoren-Kultur in Verbindung, wie der Brand der Siedlung in Gródek beweise. Die Zeit der Vorherrschaft der Trichterbecher-Gemeinschaften bezeichnet er als „goldenes Zeitalter der Steinzeit“ und die Kugelamphoren-Gemeinschaften als „Wikinger des Neolithikums“.
A text of monographic and popular-scientific character, Lud kultury amfor kulistych [The People of the Globular Amphora culture] was published by J. Kowalczyk in two subsequent cahiers of Z otchłani wieków (Kowalczyk 1964a; 1964b). It has been written in the form of a spoken story. It refers only to the GAC, whose community the author includes among the ancestors of contemporary Poles. (...) The Author emphasizes the destructive and grim role of the GAC communities in prehistory. He connects the disappearance of the FBC with attacks from the GAC, as evidenced by the burning of the settlement in Gródek. The period of dominance of the TRB communities is referred by him to as the “golden age of the Stone Age”, and the GAC communities – as “Vikings of the Neolithic”.

Merkwürdigerweise ist von Seiten der Forschung in Bezug auf das Urslawische selten angenommen worden, daß es sich bis ins Mittel-, bzw. Spätneolithikum zurück verfolgen lassen könnte. Oft werden die slawischen Sprachen als viel jünger erachtet als die germanischen Sprachen.

Ein Grund für diese Sichtweise war sicherlich, daß man in der Bronze- und Eisenzeit sieht, wie sich keltische und germanische Stämme innerhalb Europas von Norden nach Süden und auch nach Osten ausbreiten, wobei man aber wenig Anhaltspunkte findet für eine ähnliche Ausbreitung slawischer Stämme. Von ihrer Kultur her scheinen die slawischen Stämme in dieser Zeit viel weniger auf Wanderungs- und Eroberungsbewegungen hin ausgerichtet gewesen zu sein wie viele andere indogermanische Völker. Erst die genetisch und kulturell durch die Wikinger angeregten "Russen" haben sich dann in der Neuzeit kolonisierend Richtung Osten und Süden ausgebreitet und dabei viele finno-ugrische und kaukasische Völker unterworfen.

Die Kulturgrenze, die noch heute Westeuropa von Osteuropa trennt, die die germanischen Völker von den slawischen Völkern trennt, könnte sich also womöglich doch schon im Spätneolithikum heraus gebildet haben. Bis in diese Zeit zurück läßt sich ja auch - soweit bislang übersehbar - die Ausbildung der Artgrenze zwischen der west- und der osteuropäischen Hausmaus verfolgen (Stgen2021, bzw. Stgen2008).

Von der spätbronzezeitlichen Lausitzer Kultur, die sich von Schlesien aus Richtung Norden und Osten ausgebreitet hat, wird angenommen, daß sie von der mitteldeutschen Bronzezeitlichen Hügelgräberkultur und ihrer Nachfolge-Kultur, der Urnenfelderkultur beeinflußt gewesen ist, die ihr im Westen benachbart war. Dies waren die nachmaligen Kelten. Ebenso gibt es aber Hinweise darauf, daß die Lausitzer Kultur auch schon von Germanen aus dem Norden beeinflußt und/oder getragen gewesen sein könnte. Vielleicht bildeten ja Kelten und/oder Germanen eine Art Oberschicht innerhalb der Lausitzer Kultur, während die Grundbevölkerung aus slawischsprachigen Stämmen bestanden hat.

Die ostgermanischen Königsherrschaften wären dann dadurch entstanden, daß diese - von Skandinavien kommend - die slawischen Völker vor Ort unterwarfen und ggfs. die einheimische Bevölkerung "versklavten". Daher dann der von Tacitus berichtete große Sklavenbesitz, der die Grundlage der ostgermanischen Königsherrschaften bildete. Der Handel mit Sklaven aus dem osteuropäischen Raum bildete ja noch im Frühmittelalter die Grundlage für den Reichtum der Sklavenhändler unter den Arabern, den Franken und den Wikingern. Die reichen Goldschätze auf der Insel Gotland - darunter viele arabische Münzen - werden auf die Einnahmen aus diesem Sklavenhandel zurück geführt. 

Grubenhäuser

Die Archäologie unterscheidet das keltische, das germanische und das slawische Grubenhaus (Kupka 2011). Das das slawische Grubenhaus ein Indikator sein könnte für die Verbreitung des Slawen auch schon zur Zeit der germanischen Stämme in Osteuropa (4), könnte eine Beschäftigung mit diesem Phänomen weitere Erkenntnisse mit sich bringen (Kupka 2011):

Bei der Beschäftigung mit den römischen Grubenhäusern entlang des norischen und oberpannonischen Donaulimes  zeigte sich,  daß es  sich  bei  diesem  Bautyp  nicht  nur um ein vereinzelnd auftretendes Phänomen in römischen Siedlungen handelt. Vielmehr bezeugt die große Anzahl, daß Grubenhäuser ein fixer Bestandteil im Siedlungsbild entlang des untersuchten Limesabschnitts waren. Dabei muß jedoch betont werden, daß diese Hütten nur in nichtstädtischen Siedlungen zu finden sind, also militärischen und zivilen Vici. Das Fehlen in Städten wurzelt in der Tatsache, daß dieser Bautyp nicht dem typisch römischen Bauwesen entspricht und seine Tradition auch nicht in der römischen Kultur zu suchen ist. (...) (Es) stellte sich heraus, daß Giebelpfostenhäuser als typisch keltische und Sechs- bzw. Mehrpfostenhäuser als typisch germanische Grubenhäuser angesprochen werden könnten.

Und (Kupka 2011, S. 75):

In der Latènezeit war das Grubenhaus in den Siedlungen des Donauraums ein häufig erscheinender Bautyp. Er gilt vor allem für Niederungssiedlungen als typische Bauform. So werden die  Grubenhütten  der römischen Kaiserzeit in Pannonien häufig als Fortbestand „früheisenzeitlicher Traditionen“ betrachtet.

Und (Kupka2011, S. 81):

Vor allem im östlichen Raum bauten die Slawen aufgrund der klimatischen Verhältnisse viele Grubenhäuser. Ihre Verbreitung erstreckte sich etwa vom Dnepr bis zur Elbe, vor allem in höher gelegenen Lagen. Die Häuser waren im Osten meist mehr als einen Meter eingetieft, während nach Westen hin die Tiefe auffällig abnimmt. Dies steht wohl mit einer Anpassung an das westliche Klima in Zusammenhang.

Somit könnten Grubenhäuser - auch im keltischen oder germanischen Siedlungsbereich - die Wohnform von Unterschichten darstellen, ggfs. von andersethnischen Unterschichten, die von keltischen oder germanischen Stämmen überlagert oder ggfs. als Sklaven gehandelt wurden (Wiki):

In den slawischen Regionen Osteuropas waren Grubenhäuser größer und besaßen oft eine Feuerstelle. In den meisten Siedlungen gibt es keine Hinweise auf Gebäude, die zu ebener Erde errichtet wurden.
In the Slavonic regions of Eastern Europe, Grubenhäuser are larger and often have a fireplace. In most settlements there have been no features of buildings at ground level. 

Mit der Ankunft ostgermanischer Völker wie der Wandalen und Goten treten Grubenhäuser aber parallel zu den germanischen Langhäusern auf (Wiki):

In keltischen und germanischen Siedlungen waren Grubenhäuser überwiegend Nebengebäude ohne Feuerstelle. In vielen wurden Spuren handwerklicher Tätigkeit gefunden, nicht selten Webgewichte und Spinnwirtel, gelegentlich sogar Standspuren eines Webstuhls. Es wird daher eine Nutzung als Werkstätten, besonders als Webhäuser angenommen. In dem Zusammenhang wird auf Tacitus’ Germania verwiesen, nach der die Germanen ihr Leinen „unter der Erde“ fertigten. Durch die höhere Luftfeuchtigkeit der in den Boden eingetieften Räume sind Flachsfasern geschmeidiger und damit leichter zu verarbeiten. (...)
In vor- und frühgeschichtlichen slawischen Siedlungen hatten dagegen großenteils die Wohngebäude einen eingetieften Boden. Die in den Karpaten und den osteuropäischen Waldsteppen vorkommenden Grubenhäuser werden als burdei oder bordei (Rumänisch: bordei, Ukrainisch: бурдей) bezeichnet. 

Die Ursprünge dieses Grubenhauses könnten in die Bandkeramik und in das Mittelneolithikum zurück reichen (Wiki):

Besonders in der Bischeimer Kultur sind rechteckige Grubenhäuser typisch (z. B. Schernau, Rhön). Auch aus der Trichterbecherkultur, besonders der Bernburger Kultur sind sie bekannt. Ein sehr flaches rechteckiges Grubenhaus der Bernburger Kultur wurde in Windehausen, Kr. Nordhausen ausgegraben.

Diesen Zusammenhängen könnte noch weiter nachgegangen werden.

Kossinna

Deutsche Archäologen in der Tradition des christentumskritischen Gustaf Kossinna, also seine Schüler und sein Umfeld, haben seit mehr als hundert Jahren versucht, die deutschen Ostgebiete östlich der Oder, der Neiße und des Bayrischen Waldes als "uralten germanischen Siedlungsboden" darzustellen. Aus dieser Sicht hat die Ethnogenese der Slawen und ihre Ausbreitung - angeblich - aus den Pripjetsümpfen heraus erst im Frühmittelalter stattgefunden und auch erst nach Abwanderung der ostgermanischen Stämme der Wandalen, Goten und Markomannen aus diesen Gebieten, wobei Reste dieser germanischen Stämme auch weiterhin dort gelebt hätten. Einer der letzten, eng entlang des aktuellen Standes der Wissenschaft argumentierenden Vertreter dieser Sichtweise war Helmut Schröcke (Schröcke1996).

Eine Ausbreitung aus den Pripjet-Sümpfen heraus war die am weitest verbreitete Ansicht zur Ethnogenese der Slawen bis heute. Diese Ansicht wurde auch ganz unabhängig von der eingangs genannten deutsch-völkischen Sichtweise vertreten.

Die deutsch-völkische Sichtweise hatte zudem die Ethnogenese der Indogermanen in den südlichen Ostseeraum verlegt und bis in die Zeit der Bandkeramik zurück datiert, womit für die Slawen in diesem Raum nur noch wenig "Platz" geblieben wäre, weder zeitlich noch räumlich. Diese These hat sich aber weder räumlich und zeitlich seither durch die Forschung bestätigt und ist schließlich durch die Archäogenetik vollständig widerlegt worden.

Die mit der deutsch-völkischen Sichteweise verbundene damalige "Rasseforschung" hatte außerdem auch eine sogenannte "ostische" Rassekomponente bei den Slawen angenommen. Von dieser hat sich in der modernen Archäogenetik keinerlei Spur finden lassen. Genetisch sind die Slawen in Ostmitteleuropa - was die Zusammensetzung ihrer Herkunftsgruppen betrifft - von uns Deutschen kaum zu unterscheiden.

Die Frage ist dennoch bis heute offen geblieben, wo und wann eigentlich die slawische Sprach- und Völkerfamilie geschichtlich entstanden ist.

War die Substrat-Sprache aller slawischen Sprachen jene Sprache, die vom Volk der Kugelamphoren-Kultur gesprochen worden ist? So wie die Substrat-Sprache der germanischen Sprachen jene Sprache gewesen sein ist, die vom Volk der zeitgleichen Trichterbecher-Kultur gesprochen worden ist? Beide mittelneolithische Kulturen haben ein umfangreiches "genetic replacement" erlebt während der Zuwanderung der Indogermanen.

In diesem Beitrag können zu all diesen Themen nur Fragen gestellt werden. Man darf gespannt sein, in welcher Weise sich in näherer Zukunft die offenen Fragen klären werden.

Ergänzung 21.3.24: In einer neuen Studie aus März 2024 wird zu den Goten ausgeführt (8):

Die späteren Personen, die mit den ursprünglich ostgermanischsprachigen Gruppen, den ukrainischen Ostgoten und den Westgoten von Iberia, in Verbindung gebracht wurden, scheinen meistens Einheimische zu sein (...). Zwei Ausnahmen bilden Goten aus Iberien, deren genetische Herkunft auf die nordöstlich-südöstliche Ostseeküste hindeutet (von denen einer eine nordeuropäische Y-Haplogruppe trägt), was auf einen Ursprung in Nordosteuropa, aber nicht speziell in Ostskandinavien schließen läßt. Diese Abstammung umfaßt Populationen, die mit der Ausbreitung der slawischen Bevölkerung in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik in Zusammenhang stehen und mit der aus Nordosteuropa stammenden baltischen Vorfahren aus der Bronzezeit in Zusammenhang stehen. Mit den aktuell zur Verfügung stehenden Daten ist eine genauere Bestimmung des Ausgangsortes der slawischen Völkerwanderungen noch nicht möglich.
Most later individuals associated with the originally East Germanic-speaking groups, the Ukrainian Ostrogoths and the Visigoths of Iberia, appear to be locals (Supplementary Note 6.9.6). Two exceptions are from Goths from Iberia, who genetically fall on the Northeast-Southeast Baltic cline (one of which carries a Northern European Y haplogroups), suggesting an origin in North East Europe, but not Eastern Scandinavia specifically. This cline includes populations related to the spread of Slavic populations in Poland, Hungary and the Czech Republic and are to be related to the Baltic Bronze Age ancestry originating in North East Europe. With the current sampling, determining a more precise homeland of the Slavic migrations is not yet possible.

Immerhin interessant, daß sich schon unter den Goten Menschen finden, die die spätere, typisch slawische genetische Herkunft aufweisen. Somit könnte auch die Zurückführung des Slawen auf die Goten einen wahren Kern enthalten. (Ergänzung Ende)

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*) Laut polnischem Wikipedia befand sich das Gut Iwno/Lindental durchgängig im Besitz polnischer Adelsfamilien (Wiki, poln). ("Im 14. Jahrhundert gehörte das Dorf der Familie Grzymalit, im 15. Jahrhundert der Familie Tomicki und dann der Familie Iwiński. Im 17. Jahrhundert gehörte es den Familien Cielecki und Poniński, im 18. Jahrhundert der Familie Krzycki und vom 19. Jahrhundert bis 1939 der Familie Mielżyński.") Exin gehörte zum Kreis Schubin (Wiki). Dieser kam 1772 als Teil der Provinz Westpreußens an Preußen. Ab 1815 kam dieser Kreis zum Regierungsbezirk Bromberg und damit zur Provinz Posen. Von den 44.360 Einwohnern des Kreises Schubin waren im Jahr 1890 etwa 54 % Polen, 43 % Deutsche und 3 % Juden. Das Gutshaus in Iwno (Lindental) ist erhalten und restauriert worden. (Literatur: Fritz Brosowski: Festschrift zum 700 jährigen Bestehen der Stadt Exin, Kreis Altburgund-Schubin, Provinz Posen, und ihrer Umgebung, 1262-1962. Der Heimatkreis, 1962 [GB] )

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  1. Chyleński, M., Makarowicz, P., Juras, A. et al. Patrilocality and hunter-gatherer-related ancestry of populations in East-Central Europe during the Middle Bronze Age. Nat Commun 14, 4395 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-40072-9, 1.8.2023, https://www.nature.com/articles/s41467-023-40072-9
  2. Manasterski, Dariusz: Exchanges between Syncretic Groups from the Mazury Lake District in Northeast Poland and Early Bronze Age Communities in Central Europe. Archaeol. Balt. 13, 126–139 (2010) (Acad)
  3. Stolarek, I., Zenczak, M., Handschuh, L. et al. Genetic history of East-Central Europe in the first millennium CE. Genome Biol 24, 173 (2023). https://doi.org/10.1186/s13059-023-03013-9, 24. Juli 2022, https://link.springer.com/article/10.1186/s13059-023-03013-9
  4. Wstęp. W: Gerard Labuda: Słowiańszczyna starożytna i wczesnośredniowieczna. Poznań: wydawnictwo Poznańskiego Towarzystwa Przyjaciół Nauk, 2003, s. 16 (Deutsch: Einleitung. In: Gerard Labuda: Antike und frühmittelalterliche Slawen. Verlag der Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften, Posen 2003, S. 16
  5. Schröcke, Helmut: Germanen - Slawen. Vor- und frühgeschichte des ostgermanischen Raumes. Nordfriesische Verlagsanstalt, Viöl 1996
  6. Kupka, Angelika: Grubenhäuser entlang des norischen und oberpannonischen Donaulimes. Diplomarbeit, Uni Wien 2011 (pdf
  7. Donat, P.: Grubenhäuser und der nordwestslawische Siedlungsraum. In: Materiały Zachodniopomorskie, Stettin 2016 - bibliotekanauki.pl (pdf)
  8. Steppe Ancestry in western Eurasia and the spread of the Germanic Languages. By Hugh McColl (...) Kristian Kristiansen, Martin Sikora and Eske Willerslev. bioRxiv. posted 14 March 2024 (Biorxiv)

Freitag, 4. August 2023

Anatolien - Urheimat der Indogermanen?

Eine neue, prominent veröffentlichte Studie behauptet es
- Aber fast alles spricht dagegen

Der geringe Anteil an Steppengenetik, der bei den Völkern des östlichen antiken Mittelmeerraumes und in Anatolien gefunden wird (bei den Hethitern, Griechen usw.), der einen außerordentlich aufrüttelnden Befund darstellt und uns als ziemlich umtreibend anmutet, bringt Historische Linguisten vom MPI in Leipzig in einer neuen, prominent veröffentlichten Studie dazu, einmal erneut eine ziemlich simple, man möchte fast sagen, gar zu "billige" These anzubieten und zu vertreten, nämlich die, daß das Urvolk der Indogermanen in Anatolien gelebt hätte (1): 

Dieses Abstammungssignal ist jedoch in aDNA aus dem mykenischen Griechenland (19), dem Balkan (20) und Anatolien (21–23) weniger deutlich, was insbesondere Zweifel daran aufkommen läßt, ob die Steppenhypothese die Ausbreitung aller Zweige der (indogermanischen) Sprachfamilie erklären kann im östlichen Mittelmeerraum und in Asien. Dieses umfassendere aDNA-Bild „unterstützt nicht die klassische Betrachtungsweise der Steppenhypothese“ (24).
However, this ancestry signal is less evident in aDNA from Mycenaean Greece (19), the Balkans (20), and Anatolia (21–23), casting doubt on whether the Steppe hypothesis can explain the spread of all branches of the family, especially in the eastern Mediterranean and Asia. This fuller aDNA picture “does not support a classical way of looking at the steppe hypothesis” (24).

Bezeichnenderweise stammen die zuletzt zitierten Worte (nur) von einem Wissenschaftsjournalisten (Michael Price). Und sie wurden schon 2018 formuliert in Zusammenhängen, die heute längst obsolet sind (damals vermutete man noch die Domestikation des Pferdes in Asien in der Botai-Kultur). 

Abb. 1: Steppen-Hypothese (B), Bauern-Hypothese (C), Hybrid-Hypothese (D)

Wissenschaftler selbst haben sich - soweit wir sehen - selten so weit aus dem Fenster gelehnt. Auffallend ist deshalb, daß unter den Autoren dieser neuen Studie auch die beiden Leipziger Archäogenetiker Wolfgang Haak und Johannes Krause genannt sind. Glauben sie wirklich, daß das Bild dieser Studie besonders gut zu allen Erkenntnissen der Archäogenetik paßt? An anderer Stelle heißt es (1):

Jüngste Daten der Archäogenetik legen nahe, daß die Wurzel des anatolischen Zweiges (der indogermanischen Sprachen) nicht auf die Steppen zurück geführt werden kann, sondern eher auf den Süden des Kaukasus. 
Recent aDNA evidence suggests that the Anatolian branch cannot be sourced to the steppe but rather to south of the Caucasus.

Hierbei wird nicht in Rechnung gestellt, daß sich Sprache, Religion und Kultur in Einzelfällen und in Ausnahmefällen auch ohne Genetik verbreiten können oder auch parallel zu nur verschwindend kleinen Anteilen von Genetik.

Vieles - wenn nicht das meiste spricht dagegen

Wenn sich innerhalb der iranisch-neolithische Völkergruppe südlich des Kaukasus, bzw. des Kaspischen Meeres das Urvolk der Indogermanen befunden hätte, hätte es sich doch naheliegenderweise zusammen mit jener iranisch-neolithischen Genetik, die wir dann auch an der Mittleren Wolga antreffen, über Armenien und Anatolien bis nach Griechenland ausbreiten müssen. Ist das plausibel? Es hätte das schon sehr früh geschehen müssen, den die Ausbreitung der iranisch-neolithischen Genetik bis Griechenland hat sich ja ebenfalls vergleichsweise früh ergeben.

Es hieße das auch, daß es schon innerhalb der iranisch-neolithischen Bauernkulturen zu einer sehr deutlichen und tiefen Sprachgrenze gekommen sein muß. Denn sonst ist diese Völkergruppe doch mit anderen Sprachfamilien assoziiert bis heute. Wo will man eine solche Sprachgrenze finden? Wo sich doch die neolithischen genetischen Herkunftsanteile aus dem Iran, aus Anatolien und aus der Levante alle in fließenden Übergängen sehr früh über ganz Anatolien verbreitet haben, schon um 7.000 v. Ztr. - ? Dann hätte ja das Urvolk der Indogermanen noch früher existieren müssen.

Bekanntlich haben wir hier auf dem Blog einen ganz anderen Weg gewählt, den auffallenden Befund des geringen Anteils Steppengenetik im östlichen Mittelmeerraum in die Geistesgeschichte einzuordnen. Wir möchten meinen, daß unser Weg der bei weitem aufrüttelndere und den Tatsachen gegenüber auch angemessenere ist. Eben kein künstlich anmutender "hybrider" (wie in der neuen Studie).

Wir vertreten mit Friedrich Hölderlin die Meinung, daß die antik-griechische Kultur aus ganz anderen seelischen Gesetzmäßigkeiten heraus gelebt hat als wir Abendländer das tun, die wir uns zugleich so sehr mit dieser antik-griechischen Kultur verbunden fühlen und uns mit ihr identifizieren, da wir uns als Indogermanen zugleich so sehr mit ihnen verwandt fühlen.

Ja, auch wir hier auf dem Blog waren zutiefst erstaunt, daß es so wenig Steppengenetik bei den Hethitern und den antiken Griechen gegeben haben soll (0 Prozent, bzw. 8 Prozent). Aber wir können ja inzwischen den Weg der Ausbreitung dieser Steppengenetik von Norden nach Süden innerhalb Griechenlands oder innerhalb Armeniens und innerhalb des Balkans immer besser erkennen und wir können uns zugleich klar machen, daß auch mit geringen oder gar keinen Anteilen Steppengenetik Sprache und Kultur von Indogermanen angenommen und verbreitet worden sein kann. Was zum Beispiel auch archäologisch sehr gut aufgezeigt werden kann an der Maikop-Kultur nördlich des Kaukasus und innerhalb des Kaukasus.

Natürlich wäre auch unser Bild auf den ersten Blick sehr ungewöhnlich und unerwartet. Aber es wäre zugleich auch in sich "geschlossener", weniger "hybrid" und es wäre sehr bezeichnend und würde einen tiefen Blick werfen lassen können in die inneren, sprich psychischen Gesetze des weltgeschichtlichen Geschehens.

Demgegenüber kommt uns jede andere Erklärung schon längst als viel zu "überlebt" und als gar zu simpel vor. Es scheint uns auch nicht so zu sein, daß die These in dieser Studie aus rein linguistischer Sicht besonders zwingend wäre. 

Es ist doch viel naheliegender, daß sich der sehr spezifische indogermanische Geist im "Abseits" der Weltgeschichte heraus bildete, an der Mittleren Wolga und nicht inmitten der vergleichsweise dicht besiedelten vorkeramischen oder keramischen bäuerlichen Kulturen des Irans, des Kaukasus oder Anatoliens.

Auch sehen wir an der Mittleren Wolga aus Sicht der Archäogenetik und der Archäologie alle Einzelheiten und Details einer klaren Ethnogenese, der Neuformung einer Kultur aus zwei sehr unterschiedlichen genetischen und kulturellen Komponenten. 

Mit der neuen Anatolien-Hybrid-These würde der "Clash of Cultures" zwischen der indogermanischen und der vorindogermanischen Kultur und Bevölkerung - schon bei der Ethnogenese der Indogermanen selbst wie auch beispielsweise bei der Ethnogenese der antiken Griechen - bei weitem nicht so kraß ausfallen. Aber Weltgeschichte wählt nicht immer nur die "milden" und fließenden Übergänge. Weltgeschichte wählt oft auch die Kontraste und Gegensätze. 

Es ist doch viel plausibler, daß in solchen Zusammenhängen des vergleichsweise "harten" Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen jenes Umwälzende entstanden ist, das sich "Indogermanen" nennt als inmitten bäuerlicher Kulturen des Kaukasus, des Irans oder Anatoliens, wo vom Standpunkt der Archäologie aus bislang nirgendwo solche einschneidenden Prozesse von Ethnogenese durch Zusammentreffen völlig gegensätzlicher Kulturen und Abstammungsgruppen zu beobachten waren. 

Freilich hat der Gang der Forschung zur Völkergeschichte in den letzten Jahrzehnten immer wieder erneut sehr "Überraschendes", "Unerwartetes", "Counter-Intuititves" mit sich gebracht. Deshalb mag es durchaus Sinn machen, diese "Hybrid-These" nicht gar zu leichtfertig beiseite zu schieben.

Ergänzung 27.9.23: Auf dem Blog Eurogenes steht man dieser Studie ähnlich kritisch gegenüber (Eurogenes12/08/2023).

/ Bearbeitet: 5.8.23 /

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  1. Paul Heggart et. al.: Language trees with sampled ancestors support a hybrid model for the origin of Indo-European languages. Science Magazine, 28.7.2023 (Resgate)