Freitag, 4. August 2023

Anatolien - Urheimat der Indogermanen?

Eine neue, prominent veröffentlichte Studie behauptet es
- Aber fast alles spricht dagegen

Der geringe Anteil an Steppengenetik, der bei den Völkern des östlichen antiken Mittelmeerraumes und in Anatolien gefunden wird (bei den Hethitern, Griechen usw.), der einen außerordentlich aufrüttelnden Befund darstellt und uns als ziemlich umtreibend anmutet, bringt Historische Linguisten vom MPI in Leipzig in einer neuen, prominent veröffentlichten Studie dazu, einmal erneut eine ziemlich simple, man möchte fast sagen, gar zu "billige" These anzubieten und zu vertreten, nämlich die, daß das Urvolk der Indogermanen in Anatolien gelebt hätte (1): 

Dieses Abstammungssignal ist jedoch in aDNA aus dem mykenischen Griechenland (19), dem Balkan (20) und Anatolien (21–23) weniger deutlich, was insbesondere Zweifel daran aufkommen läßt, ob die Steppenhypothese die Ausbreitung aller Zweige der (indogermanischen) Sprachfamilie erklären kann im östlichen Mittelmeerraum und in Asien. Dieses umfassendere aDNA-Bild „unterstützt nicht die klassische Betrachtungsweise der Steppenhypothese“ (24).
However, this ancestry signal is less evident in aDNA from Mycenaean Greece (19), the Balkans (20), and Anatolia (21–23), casting doubt on whether the Steppe hypothesis can explain the spread of all branches of the family, especially in the eastern Mediterranean and Asia. This fuller aDNA picture “does not support a classical way of looking at the steppe hypothesis” (24).

Bezeichnenderweise stammen die zuletzt zitierten Worte (nur) von einem Wissenschaftsjournalisten (Michael Price). Und sie wurden schon 2018 formuliert in Zusammenhängen, die heute längst obsolet sind (damals vermutete man noch die Domestikation des Pferdes in Asien in der Botai-Kultur). 

Abb. 1: Steppen-Hypothese (B), Bauern-Hypothese (C), Hybrid-Hypothese (D)

Wissenschaftler selbst haben sich - soweit wir sehen - selten so weit aus dem Fenster gelehnt. Auffallend ist deshalb, daß unter den Autoren dieser neuen Studie auch die beiden Leipziger Archäogenetiker Wolfgang Haak und Johannes Krause genannt sind. Glauben sie wirklich, daß das Bild dieser Studie besonders gut zu allen Erkenntnissen der Archäogenetik paßt? An anderer Stelle heißt es (1):

Jüngste Daten der Archäogenetik legen nahe, daß die Wurzel des anatolischen Zweiges (der indogermanischen Sprachen) nicht auf die Steppen zurück geführt werden kann, sondern eher auf den Süden des Kaukasus. 
Recent aDNA evidence suggests that the Anatolian branch cannot be sourced to the steppe but rather to south of the Caucasus.

Hierbei wird nicht in Rechnung gestellt, daß sich Sprache, Religion und Kultur in Einzelfällen und in Ausnahmefällen auch ohne Genetik verbreiten können oder auch parallel zu nur verschwindend kleinen Anteilen von Genetik.

Vieles - wenn nicht das meiste spricht dagegen

Wenn sich innerhalb der iranisch-neolithische Völkergruppe südlich des Kaukasus, bzw. des Kaspischen Meeres das Urvolk der Indogermanen befunden hätte, hätte es sich doch naheliegenderweise zusammen mit jener iranisch-neolithischen Genetik, die wir dann auch an der Mittleren Wolga antreffen, über Armenien und Anatolien bis nach Griechenland ausbreiten müssen. Ist das plausibel? Es hätte das schon sehr früh geschehen müssen, den die Ausbreitung der iranisch-neolithischen Genetik bis Griechenland hat sich ja ebenfalls vergleichsweise früh ergeben.

Es hieße das auch, daß es schon innerhalb der iranisch-neolithischen Bauernkulturen zu einer sehr deutlichen und tiefen Sprachgrenze gekommen sein muß. Denn sonst ist diese Völkergruppe doch mit anderen Sprachfamilien assoziiert bis heute. Wo will man eine solche Sprachgrenze finden? Wo sich doch die neolithischen genetischen Herkunftsanteile aus dem Iran, aus Anatolien und aus der Levante alle in fließenden Übergängen sehr früh über ganz Anatolien verbreitet haben, schon um 7.000 v. Ztr. - ? Dann hätte ja das Urvolk der Indogermanen noch früher existieren müssen.

Bekanntlich haben wir hier auf dem Blog einen ganz anderen Weg gewählt, den auffallenden Befund des geringen Anteils Steppengenetik im östlichen Mittelmeerraum in die Geistesgeschichte einzuordnen. Wir möchten meinen, daß unser Weg der bei weitem aufrüttelndere und den Tatsachen gegenüber auch angemessenere ist. Eben kein künstlich anmutender "hybrider" (wie in der neuen Studie).

Wir vertreten mit Friedrich Hölderlin die Meinung, daß die antik-griechische Kultur aus ganz anderen seelischen Gesetzmäßigkeiten heraus gelebt hat als wir Abendländer das tun, die wir uns zugleich so sehr mit dieser antik-griechischen Kultur verbunden fühlen und uns mit ihr identifizieren, da wir uns als Indogermanen zugleich so sehr mit ihnen verwandt fühlen.

Ja, auch wir hier auf dem Blog waren zutiefst erstaunt, daß es so wenig Steppengenetik bei den Hethitern und den antiken Griechen gegeben haben soll (0 Prozent, bzw. 8 Prozent). Aber wir können ja inzwischen den Weg der Ausbreitung dieser Steppengenetik von Norden nach Süden innerhalb Griechenlands oder innerhalb Armeniens und innerhalb des Balkans immer besser erkennen und wir können uns zugleich klar machen, daß auch mit geringen oder gar keinen Anteilen Steppengenetik Sprache und Kultur von Indogermanen angenommen und verbreitet worden sein kann. Was zum Beispiel auch archäologisch sehr gut aufgezeigt werden kann an der Maikop-Kultur nördlich des Kaukasus und innerhalb des Kaukasus.

Natürlich wäre auch unser Bild auf den ersten Blick sehr ungewöhnlich und unerwartet. Aber es wäre zugleich auch in sich "geschlossener", weniger "hybrid" und es wäre sehr bezeichnend und würde einen tiefen Blick werfen lassen können in die inneren, sprich psychischen Gesetze des weltgeschichtlichen Geschehens.

Demgegenüber kommt uns jede andere Erklärung schon längst als viel zu "überlebt" und als gar zu simpel vor. Es scheint uns auch nicht so zu sein, daß die These in dieser Studie aus rein linguistischer Sicht besonders zwingend wäre. 

Es ist doch viel naheliegender, daß sich der sehr spezifische indogermanische Geist im "Abseits" der Weltgeschichte heraus bildete, an der Mittleren Wolga und nicht inmitten der vergleichsweise dicht besiedelten vorkeramischen oder keramischen bäuerlichen Kulturen des Irans, des Kaukasus oder Anatoliens.

Auch sehen wir an der Mittleren Wolga aus Sicht der Archäogenetik und der Archäologie alle Einzelheiten und Details einer klaren Ethnogenese, der Neuformung einer Kultur aus zwei sehr unterschiedlichen genetischen und kulturellen Komponenten. 

Mit der neuen Anatolien-Hybrid-These würde der "Clash of Cultures" zwischen der indogermanischen und der vorindogermanischen Kultur und Bevölkerung - schon bei der Ethnogenese der Indogermanen selbst wie auch beispielsweise bei der Ethnogenese der antiken Griechen - bei weitem nicht so kraß ausfallen. Aber Weltgeschichte wählt nicht immer nur die "milden" und fließenden Übergänge. Weltgeschichte wählt oft auch die Kontraste und Gegensätze. 

Es ist doch viel plausibler, daß in solchen Zusammenhängen des vergleichsweise "harten" Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen jenes Umwälzende entstanden ist, das sich "Indogermanen" nennt als inmitten bäuerlicher Kulturen des Kaukasus, des Irans oder Anatoliens, wo vom Standpunkt der Archäologie aus bislang nirgendwo solche einschneidenden Prozesse von Ethnogenese durch Zusammentreffen völlig gegensätzlicher Kulturen und Abstammungsgruppen zu beobachten waren. 

Freilich hat der Gang der Forschung zur Völkergeschichte in den letzten Jahrzehnten immer wieder erneut sehr "Überraschendes", "Unerwartetes", "Counter-Intuititves" mit sich gebracht. Deshalb mag es durchaus Sinn machen, diese "Hybrid-These" nicht gar zu leichtfertig beiseite zu schieben.

Ergänzung 27.9.23: Auf dem Blog Eurogenes steht man dieser Studie ähnlich kritisch gegenüber (Eurogenes12/08/2023).

/ Bearbeitet: 5.8.23 /

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  1. Paul Heggart et. al.: Language trees with sampled ancestors support a hybrid model for the origin of Indo-European languages. Science Magazine, 28.7.2023 (Resgate)

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