Samstag, 4. März 2023

"Gibt es das 'wilde Denken' auch in Europa?"

Der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber gibt überraschende, eigenständige Antworten

Der Begriff "wildes Denken" stammt von dem französischen Ethnologen jüdischer Herkunft Claude Lévi-Strauss (1908-2009). Innerhalb der Völkerkunde stellt er ein wichtiges Denkkonzept dar. 

Strauss benannte mit "Wildem Denken" Denkweisen der naturnah lebenden menschlichen Kulturen, die auf traditionell ganzheitlichen und mythisch erklärten Weltanschauungen beruhen. Alle Wesen, Dinge und Phänomene werden dabei durch einen allumfassenden, magischen Zusammenhang miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang beruht nicht auf abstrahierenden und rationalen Überlegungen (Wiki).


Der deutsche Filmemacher Rüdiger Sünner hat über dieses "wilde Denken" 2020 ein Gespräch geführt mit dem von uns schon länger als schätzenswert aufgefallenen deutschen Biologen und Philosophen Andreas Weber (geb. 1967) (Wiki). Andreas Weber äußert in diesem Gespräch für uns außerordentlich überraschende Gedanken, die uns hier auf dem Blog mehr als wichtig erscheinen müssen (1; 20'47-25'39). 

Diese Gedanken stellen eine echte Bereicherung dar. 

Es geht darum, daß es "wildes Denken", "animistisches Denken", "schamanisches Denken" auch in Europa gab, immer gab. Daß dieses "Denken" aber durch die Einführung des Christentums verloren gegangen ist, ja, "verdammt" wurde. Und es geht darum, daß die Anknüpfung der Europäer an dieses frühere "wilde Denken" erfolgte immer wieder erneut über eine Auseinandersetzung mit der antik-griechischen Kultur.

Und tatsächlich: In dieser antik-griechischen Kultur hat ja die animistische Weltauffassung und das moderne wissenschaftliche Denken immer völlig parallel nebeneinander her bestanden und einander befruchten können und hat nicht gar zu kraß einander gegenseitig infrage gestellt. 

Andreas Weber benennt nun einmal erneut Friedrich Hölderlin insbesondere als einen derjenigen, die um dieser "animistischen", "wilden", "schamanistischen" Komponente willen diesen Rückbezug zum antik-griechischen Denken und seiner Kultur gesucht haben.

Keine Frage, Andreas Weber hat recht. Man muß sich ja nur die Antigone-Tragödie von Sophokles ansehen und die Rolle, die sie sowohl einerseits im klassischen Griechenland gespielt hat ebenso für Hölderlin (oder für seinen Freund Hegel), um zu sehen, wie intensiv das Denken der fortschrittlichsten Denker des 19. Jahrhhunderts auch um diesen "animistischen", "wilden", "schamanistischen" Kerninhalt der antik-griechischen Kultur gekreist hat.

Andreas Weber erscheint uns insbesondere deshalb als ein so wesentlicher Denker und Autor, weil er sich sehr behutsam äußert. Er äußert sich, soweit wir sehen können nie in einem eklatanten Widerspruch zum modernen wissenschaftlichen Weltbild. Vielmehr stellen seine Äußerungen eine notwendige und angemessene Ergänzung, Vervollständigung des modernen, naturwissenschaftlichen Weltbildes dar. Und diese Ergänzung und Vervollständigung erscheint uns so unendlich notwendig. Und es erscheint uns so unendlich notwendig, über diese Ergänzung und Vervollständigung angemessen sprechen zu lernen. Und nicht zu schwurbeln. Ein angemessenes Reden darüber findet sich ja für uns auch - beispielsweise - in so durch und durch rationalen Vorträgen wie denen des Hirnforschers Gerhard Roth, die unter dem Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" zu finden sind.

Der springende Punkt ist: "Wildes Denken" enthielt natürlich immer auch Aberglaube. Etwa daß Götter oder Geister durch Blitze oder Naturkatastrophen strafen könnten, und daß man sich deshalb ihre Gunst erhalten müsse. Diesen Aspekt des "wilden Denkens", der im 19. und 20. Jahrhundert in Form von Monotheismus, Okkultismus, Esoterik und Parapsychologie fröhliche Urständ feierte und feiert, diesen Aspekt "wiederzubeleben" wäre der größte Unsinn, der modernen Gesellschaften angetan werden kann.

Aber das "wilde Denken" enthält eben daneben auch den Aspekt, Natur als etwas Ganzheitliches und Beseeltes anzusehen, ganz unabhängig von allem gar zu vordergründigen Lohn-Straf-Denken, tit-for-tat-Denken. Und diesen Aspekt wiederzubeleben, und zwar auch so, wie davon Andreas Weber spricht, das erscheint uns als sehr bedeutsam.

"Das schamanische, das indigene Griechenland"

Wir wollen im folgenden die wichtigsten Teile des Interviews als Transkript wieder geben. Das Transkript haben wir leicht überarbeitet, um es leserlicher zu machen. Auf die Frage "Gibt es das 'wilde Denken' auch in Europa?" gibt Andreas Weber die folgende fünfminütige Antwort (1; 20'47-25'39):

Erst einmal ist klar, daß natürlich auch die Europäer zu einem bestimmten Zeitpunkt schamanische Kulturen waren. Also es ist auch klar - und das ist eigentlich auch nicht besonders umstritten, daß diejenigen, die in Europa Felsbilder gemalt haben, in ihrer Kulturform denen geähnelt haben, die heute noch Felsbilder malen in Australien oder in Südafrika. Das ist schon einmal klar. Das ist schon nicht so ganz beliebt bei europäischen Urzeitforschern. Weil es diese Berührungsängste gibt. Aber es wäre wirklich ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, wenn man das abstritte. Also es ist völlig klar, daß unsere Kultur daher kommt.
Dann ist auch sehr wichtig zu sehen, daß wir über diese Form von schamanischer europäischer Urkultur eigentlich ausschließlich durch die Brille der kirchlichen Kolonisation sprechen können. Und dann wird das alles zum Heidnischen. So wie auch die Kolonisatoren in Südafrika von den Heiden sprachen, die sie bekehren mußten, wird also unsere Frühgeschichte zum Heidnischen und dadurch schon einmal abgewertet. Das darf man übrigens nicht vergessen, wie stark auch heute noch die kirchliche Brille über unserer aller Augen steckt. Das darf man wirklich nicht vergessen, wenn man sich damit beschäftigt, merkt man das. Und man denkt sich, wow, das ist ja wirklich irre. Das heißt, wir haben ein ganz besonderes Verhältnis dazu. Und das Verhältnis übersetzt sich eigentlich so: Alle anderen Völker waren das mal - aber wir irgendwie nicht. Aber das stimmt natürlich nicht.
Und ich sehe die Brücken dahin ... - außer natürlich durch die Orte selbst, die überall sind, da kann man ja hin gehen und dann merkt man's. Da sind ja auch Ausgrabungen und so weiter und man findet das. Aber außer über die Orte sind die Brücken sehr stark in der frühen griechischen Kultur bis hin in die Philosophie. Also alles vor Platon ist eigentlich noch schamanisches Zeitalter, bloß daß wir es nicht so nennen. Wir nennen es dann das präklassische Griechenland. Aber das ist das schamanische, das ist das indigene Griechenland. 

Das ist ein hinreißender Gedanke, so auf Griechenland zu schauen. Und natürlich wird so so unendlich viel "Unverständliches" an der antik-griechischen Kultur mit einem Schlag "verständlich". All das viele "Urtümliche", "Unverständliche", was sich in dieser Kultur findet, noch bei Sokrates findet. Und von dem wir nur annäherungsweise etwas verstehen, weshalb wir uns deutlich leichter tun mit der rein "rationalen" Seite der antik-griechischen Kultur. Natürlich finden wir dieses animistische Denken nicht nur in der erwähnten Kunst der Felsbilder. Wir finden sie etwa auch in der Jahrtausende lang praktizierten Kunst der Statuen-Menhire, der wir hier auf dem Blog eingehende Betrachtungen gewidmet haben, die sich sehr gut parallel zu diesem Beitrag lesen (Stgen2019). Andreas Weber sagt weiter:

Da haben wir eine Brücke. Wir haben über die griechische Kultur eine Brücke. Dann verstehen wir, warum die Dichter und Denker im Anfang des 18. Jahrhunderts sich so für Griechenland interessiert haben. Die haben das schamanische Griechenland gesucht und das gilt sowohl für die Romantik - Hölderlin - als auch für die Klassik. Das sind beides Abkünfte der Suche nach dem schamanischen Griechenland.
Und wir wissen, beides auch mit dem Gedanken: wir müssen eine neue Verbindung zur Natur finden. Die Natur ist beseelt. Das sind sozusagen alles diese romantischen Themen. Und das hat man da gesucht. Wenn man Hölderlin liest, wird das sehr deutlich. Daß er, wenn er von einem neuen mythischen Zeitalter spricht, daß er dann in Griechenland tatsächlich ein indigenes Verhältnis zur Welt sucht. Das konnte er nicht so nennen, das können wir heute so nennen. Das tut aber die Hölderlin-Forschung immer noch nicht. Weil wir nämlich denken, daß wir Europäer keine indigenen Wurzeln haben. Was aber nicht stimmt. Insofern ist für mich natürlich gerade die Romantik in ihren verschiedenen Fortsetzungen - dann auch in den Ausgrabungen und im Orientalismus, da kam ja dann ganz viel, die alle versucht haben, solche Kulturen zu verstehen, um eigenen Wurzeln oder auch unbewußte eigene Wurzeln irgendwie zu finden - da ist für mich ganz viel drin. Und ich würde sagen, das Anliegen der Romantik, das ja lautet, die Welt als, man könnte vordergründig sagen, als beseelt zu verstehen. Das enthält das ganz stark.
Aber ich würde es ein bisschen präziser fassen. Und ich würde sagen, die Romantik hat versucht, das Materielle als Transzendenz eines Subjektiven zu fassen. Das war das ursprüngliche Programm der Romantik. Also das Schöpferische wird manifest in den Dingen. Und das ist doch klar, daß die sich von den Spuren des schamanischen Griechenlands angezogen gefühlt haben. Und es gab ja nur das schamanische Griechenland. Es gab ja keine Zeugnisse des, sagen wir, schamanischen Norddeutschland. Die waren ja völlig verschüttet durch die Kolonialisierung der Kirche. Ich muß das auch tatsächlich so sagen, weil das war nichts anderes als eine Kolonialisierung mit den entsprechenden Exzessen und der Vernichtung der kulturellen Stätten und des kulturellen Erbes. Also war da nichts. Es war nichts da. In Griechenland hat es sich dann in diese griechische Blüte der Klassik entwickelt und dadurch hat sich das irgendwie erhalten.

Wir möchte demgegenüber nur ergänzen: Das Suchen des "indigenen Griechenland" ist ein Aspekt von Renaissance, von Rückbezug zur Antike. Es gibt natürlich auch noch viele andere Aspekte. Das ist eben das Spannende, Begeisternde an den antiken Griechen, daß sie mehrerlei waren. Sie waren einerseits noch "Naturvolk", andererseits natürlich "das" Kulturvolk schlechthin. Und damit eben alles das, was über den Aspekt "Naturvolk" hinaus weist.

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  1. Rüdiger Sünner: Wildes Denken - Ein Gespräch mit dem Biologen und Naturphilosophen Dr. Andreas Weber. 16.5.2020, https://youtu.be/4Le6EtXUJZE?t=1247.

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