Samstag, 22. Januar 2022

Anatolien - Formierungsprozesse der ersten Bauernvölker (13.000 bis 5.000 v. Ztr.)

11.000 v. Ztr. - Erste iranische Genetik kommt nach Anatolien 
7.600 bis 5.700 v. Ztr. - Südanatolisch-levantinische Genetik kommt nach Anatolien
- Die Entstehung der anatolisch-neolithischen Völkergruppe
- Jene Völkergruppe, die das Neolithikum über ganz Europa verbreitet hat

Anatolien. Das große und reiche Anatolien (Wiki). Dieser Raum hat das Entstehen, die Blüte und den Verfall so unzählig vieler Völker, Kulturen, Königreiche und Sprachen von frühester Zeit der Menschheitsgeschichte an erlebt (Wiki, Wiki). 

Man tauche hinein in die Geschichte der Völker so vieler Jahrtausende und man wird sehen, daß eine Beschäftigung mit dem deutschen Archäologen Heinrich Schliemann und mit seinen Ausgrabungen in Troja und daß ein Lesen von solchen Klassikern wie "Götter, Gräber und Gelehrte", in denen über die Ausgrabung der Königsstadt der Hethiter, Hattusa, berichtet wird, nur erste Andeutungen geben können, von jenem kulturellen Reichtum, von dem es hier Kenntnis zu nehmen gilt, von dem einen Eindruck zu verschaffen wirklich sinnvoll sein könnte für den, der die Geschichte der Menschheit wirklich verstehen will.

Abb. 1: Ein Wildschwein als Zeremonialgefäß, Hacılar, südwestliche Türkei, um 6.000 v. Ztr. (5) - Hacılar war Siedlungsort seit dem 8. Jahrtausend v. Ztr. - Ausgestellt im "Museum für die Anatolischen Kulturen" in Ankara

Anatolien. Hier entstand im 7. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung die Ausgangspopulation jener Völkergruppe, die ab 6.500 v. Ztr. den Ackerbau rund um das gesamte Mittelmeer, über den Balkan, die Donau hinab ins Wiener Becken und von dort durch ganz Mitteleuropa hindurch bis an die Kanalküste ausbreitete und schließlich - ab 4.400 v. Ztr. als Trichterbecher-Kultur - bis nach Skandinavien, ja, als Cucuteni-Tripolje-Kultur und als Kugelamphorenkultur bis tief in die Ukraine und nach Rußland hinein, eine Völkergruppe, die dann in Europa im indogermanischen Völkersturm des Spätneolithikums, etwa ab 3.800 v. Ztr. genetisch und kulturell nach und nach unterging.

Der höchste Anteil seiner Genetik hat sich bis heute in Sardinien erhalten. Aber wir alle, alle Europäer tragen die Genetik dieser Völkergruppe in uns, in größeren und kleineren Anteilen, um so weiter südlich, um so größer, um so weiter nördlich, um so weniger umfangreich.

In einer archäogenetischen Studie von Johannes Krause und Mitarbeitern aus dem Jahr 2018 wurde das erste Genom eines Jägers und Sammlers aus Anatolien aus der Zeit um 13.000 v. Ztr. veröffentlicht (Wiki). Über dieses wird gesagt (1): 

Anatolische Jäger und Sammler unterscheiden sich genetisch von anderen spätpleistozänen Populationen und repräsentieren eine zuvor nicht beschriebene Population.
We find that the Anatolian hunter-gatherers are genetically distinct from other reported late Pleistocene populations and thus represent a previously undescribed population.

Ein bislang den Ancient-DNA-Forschern in diesem Raum noch nicht bekannt gewordenes - genetisch einzigartiges - Volk ist entdeckt worden. Und dieses Volk hat dann auch ab 6.500 v. Ztr. genetisch weitgehend unverändert den Ackerbau und die seßhafte Lebensweise angenommen.

Aber noch zuvor scheint es zu genetischen Einmischungen (höchstens 10 bis 20 %) von frühen iranischen Jägern und Sammlern (oder Hirten/Bauern) gekommen zu sein und auch von westeuropäischen Jägern und Sammlern. Auch die "südanatolisch-levantinischen" Bauern scheinen genetischen Einfluß auf die Formierung dieser Völkergruppe genommen zu haben. Über die anatolisch-neolithischen Jäger-Sammler (AHG) heißt es (1): 

Die Herkunftsgruppe der anatolischen Jäger und Sammler hat die Hälfte ihrer Genetik von der levantinisch-neolithischen Herkunftsgruppe erhalten und die anderen Hälfte von der Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler. (...) Bemerkenswerter Weise war es zu dieser Vermischung schon fünftausend Jahre vor Einführung des Ackerbaus in dieser Region gekommen und korreliert möglicherweise mit Belegen für menschliche Interaktionen zwischen Zentralanatolien und dem Levanteraum während des Epipaläolithikums.
AHG derives around half of his ancestry from a Neolithic Levantine-related gene pool (48.0 ± 4.5 %; estimate ± 1 SE) and the rest from the WHG-related one (tables S4 and S5). These results support a late Pleistocene presence of both ancestries in a mixed form in central Anatolia. Notably, the genetic connection with the Levant predates the advent of farming in this region by at least five millennia and potentially correlates with evidence of human interactions between central Anatolia and the Levant during the Epipalaeolithic.

Fünftausend Jahre vor 6.500 v. Ztr. heißt 11.500 v. Ztr.. Das wäre in Südanatolien, am Oberlauf von Euphrat und Tigris, die Kulturstufe des Natufium, eine schon recht weit entwickelte Kultur mit Halbseßhaftigkeit, in der sich die westeuropäische Hausmaus zu domestizieren begann (zur Hausmaus siehe andernorts hier auf dem Blog), und in der man Bergheiligtümer wie Göbekli Tepe zu errichten begann.*) 

11 % osteuropäische Jäger-Sammler-Genetik in Serbien (7.000 v. Ztr.)

Über die mesolithische Jäger und Sammler-Kultur am Eisernen Tor im heutigen Serbien (Wiki), repräsentiert nicht zuletzt durch den Ausgrabungsort "Lepenski Vir" (Wiki), heißt es in der Studie von 2018 (1): 

Die Jäger und Sammler am Eisernen Tor können modelliert werden als eine Vermischung dreier Herkunftsgruppen, nämlich von nahöstlichen Jägern und Sammlern (26% anatolische Jäger und Sammler oder 11 % Natufium-levantinische Herkunfsgruppe), westeuropäische Jäger und Sammler (63 %, bzw. 78 %) und osteuropäische Jäger und Sammler (11 %)."
"We find that Iron Gates hunter-gatherers can be modeled as a three-way mixture of Near-Eastern hunter-gatherers (25.8 ± 5.0 % AHG or 11.1 ± 2.2 % Natufian), WHG (62.9 ± 7.4 % or 78.0 ± 4.6 % respectively) and EHG (11.3 ± 3.3 % or 10.9 ± 3 % respectively)."

Hatte man also bis 2018 gedacht, die Jäger-Sammler am Eisernen Tor in Serbien wären Mischungen aus west- und osteuropäischen Jägern und Sammlern, entdeckte man nun eine genetische Komponente des Nahen Ostens, wobei bis heut enoch nicht ganz klar ist, wie das einzuordnen ist. In der Zusammenfassung der Studie von 2018 heißt es (1): 

Wir stellen die hohe genetische Kontinuität (80 bis 90 %) zwischen Jägern und Sammlern und frühen Bauern in Anatolien heraus und entdecken zwei unterschiedliche, dort hinein kommende genetische Komponenten: eine frühe iranisch-kaukasische und eine spätere, die in Beziehung zur Levante steht.
We find high genetic continuity (~80-90%) between the hunter-gatherer and early farmers of Anatolia and detect two distinct incoming ancestries: an early Iranian/Caucasus related one and a later one linked to the ancient Levant.

Und zu den letzteren (1): 

Genetische Beiträge von außerhalb der Region, verbunden mit zwei frühen Bauernpopulationen des Fruchtbaren Halbmonds ersetzten jeweils etwa 10 und 20 % der einheimischen Genetik. Die frühere steht in Verbindung mit dem Neolithikum des Iran oder Kaukasus, die spätere in Verbindung mit dem Neolithikum der Levante.
External genetic contributions, associated with two distinct early farming populations of the Fertile Crescent, substituted about 10% and 20% of indigenous ancestry each. The earlier one is associated with Neolithic Iran/Caucasus and the later one with Neolithic Levant.

11.000 v. Ztr. - Iranische Genetik kommt nach Anatolien

Inzwischen sind die Zeitpunkte beider hier erwähnter Einmischungen in einer neuen Studie anhand eines neuen Verfahrens ("DATES") genauer bestimmt worden (2):

Wir ziehen die Schlußfolgerung, daß die iranische neolithische Bauern-Komponente um 10.900 v. Ztr. nach Anatolien herein kam, was vor der Einführung des Ackerbaus in Anatolien liegt. 
We infer the Iran Neolithic farmer-related gene flow occurred ~10,900 BCE (12,200-9,600 BCE), predating the origin of farming in Anatolia.

Welche Art von Lebensweise jene Menschen iranischer genetischer Herkunft gelebt haben, deren Genetik sich hier bis nach Anatolien ausgebreitet hat, wäre noch genauer zu klären. Entspricht sie der Lebensweise wie sie in der obigen Abbildung (Abb. 2) zur Darstellung kommt?

Abb. 2: Museum in Şanlıurfa in der Südost-Türkei: Jäger und Sammler in Anatolien (Wiki)

Zumindest in Teilen des iranischen Zagros-Gebirge, und zwar in jenem Teil, der sich mit dem östlichen Teil des Fruchtbaren Halbmonds deckt, gab es Stämme, die zu jenem Zeitpunkt schon ähnlich halb seßhaft oder seßhaft lebten ähnlich wie die Menschen ("Natufium-levantinischer" Herkunft) im mittleren und westlichen Teil des Fruchtbaren Halbmonds, wie vor wenigen Tagen hier auf dem Blog dargestellt (3). Die Lebensgrundlage im Zagros-Gebirge war eine auf männliche Individuen fokussierte Jagd auf wilde Schafe und Ziegen, sowie auf die Haltung von wilden, weiblichen Schweinen, die man sich mit wilden Ebern paaren ließ (so wie zum Teil bis heute auf Neuginea). Dadurch sind dort auch schon höhere Siedlungsdichten erreicht worden. Ob aber jene "iranischen" Jäger und Sammler, deren Genetik um 11.000 v. Ztr. zur Genetik der anatolischen Jäger und Sammler hinzu kommt, aus dem Fruchtbaren Halbmond stammten oder aus dem Bereich nördlich von ihm, darüber ist an dieser Stelle noch gar nichts gesagt. Weiter heißt es (2):

Während der nachfolgenden Jahrtausende vermischten sich diese frühen "Bauern" mit levantinisch-neolithischen Gruppen, um jene anatolisch-neolithischen Bauern zu formen, die sich dann nach Europa ausbreitete und nach Osten ...
During the subsequent millennia, these early farmers further admixed with Levant Neolithic groups to form Anatolian Neolithic farmers who spread towards the west to Europe and in the east ....

Daß es sich bei den hier angeführten anatolischen Jäger und Sammler schon um "Bauern" oder Hirten gehandelt hat, scheint uns bislang keinesfalls sicher zu sein.

7.600 bis 5.700 v. Ztr. - Südanatolisch-levantinische Genetik kommt nach Anatolien

Sicher aber ist, daß sie es im Zuge des zweiten hier genannten Vermischungsprozesses zur Ausbildung neolithischer Lebensweise gekommen ist. Dazu heißt es weiter (2):

.... um sich dort mit iranisch-neolithischen Bauern zu vermischen, um die kupferzeitlichen Gruppen von Seh Gabi und Hajji Firuz zu formen. Indem wir das neue Verfahren DATES nutzen, kommen wir zu dem Ergebnis, daß sich diese kupferzeitlichen Gruppen 7.600 bis 5.700 v. Ztr. geformt haben.
.... to mix with Iran Neolithic farmers forming the Chalcolithic groups of Seh Gabi and Hajji Firuz. Using DATES, we inferred the Chalcolithic groups were genetically formed in ~7,600–5,700 BCE. 

Das ist genau jene Zeit, die wir für die Formierung und Ausbreitung der Halaf-Kultur, bzw. der südkauasischen Shulaveri-Shomu-Kultur voraussetzen müssen und es würde auch dazu passen, daß sich PPNB-Kulturelemente vom Zagros-Gebirge am Ostufer des Schwarzen Meeres und am Unterlauf des Don gefunden haben. Dies deutet doch auf sehr weit ausgreifende Aktivitäten der akeramischen neolithischen Bevölkerungen im Zagros-Gebirge (3). 

Abb. 3: Die Lage von Aşıklı Höyük (Wiki)

 

Domestizierung der Schafe und Ziegen in der Mittleren Türkei ab 8.400 v. Ztr.

Ergänzung 17.3.2022: Die Siedlung Aşıklı Höyük (Wiki, engl) lag in der Mittleren Türkei am nördlichen Rand des Fruchtbaren Halbmonds und gehörte in die Kulturstufe des akeramischen Neolithikums, war auch älter als der viel bekanntere Siedlungsort Catalhöyük. Ab 8.400 v. Ztr. begann in Aşıklı Höyük - autochthon - die Domestizierung von Schafen und Ziegen (4): 

Das erste Stadium ... war eine "Einfangen-und-Wachsenlassen"-Strategie, die das jahreszeitlich gebundene Einfangen von wilden Zicklein/Geißlein/Lämmern mit einschloß aus den umliegenden Höhenlagen und das Aufziehen derselben über mehrere Monate hinweg, bevor sie innerhalb der Siedlung geschlachtet wurden. Das zweite Stadium verband die Reproduktion von Schafen und Ziegen am Siedlungsort mit fortdauerndem Einfangen von jungen Ziegen. Das dritte Stadium weist die Merkmale einer Herden-Haltung in großem Stil auf ... Der Übergang vollzog sich allmählich. Aber er brachte über die Zeit hinweg frühe domestizierte Formen mit sich und umfangreiche Unterschiede in der Organisation der menschlichen Arbeit, der Siedlungsform und der Abfall-Anhäufung. Aşıklı war ein unabhängiges Zentrum der Ziegen-Domestikation und unterstützt damit das evolutionäre Modell, das einen vielfältigen Ursprung der domestizierten Ziegen annimmt.
The earliest mode was embedded within a broad-spectrum foraging economy and directed to live meat storage on a small scale. This was essentially a “catch-and-grow” strategy that involved seasonal capture of wild lambs and kids from the surrounding highlands and raising them several months prior to slaughter within the settlement. The second mode paired modest levels of caprine reproduction on site with continued recruitment of wild infants. The third mode shows the hallmarks of a large-scale herding economy based on a large, reproductively viable captive population but oddly directed to harvesting adult animals, contra to most later Neolithic practices. Wild infant capture likely continued at a low level. The transitions were gradual but, with time, gave rise to early domesticated forms and monumental differences in human labor organization, settlement layout, and waste accumulation. Aşıklı was an independent center of caprine domestication and thus supports the multiple origins evolutionary model.

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*) 1995, als der Bloginhaber sich sehr gründlich mit den vorkeramischen Kulturen des Fruchtbaren Halbmonds beschäftigte, hatte er die Vermutung, daß sie durch Zuwanderung von Eiszeitjägern aus Europa entstanden sein könnten, da diese ja aufgrund der fortschreitenden Verwaldung Europas am Ende der Eiszeit auch zunehmend nach Süden ausgewichen sein könnten. Inzwischen schält sich aber wohl doch heraus, daß sich diese Annahme nicht bestätigt. Denn die Völkergruppen der west- und der osteuropäischen Jäger und Sammler haben sich ja ab 11.000 v. Ztr. auch bis in den Ostseeraum und nach Skandinavien ausgebreitet und dort zum Teil miteinander vermischt und haben das wenige Jahrtausende später auch im Baltikum gemacht und auf dem Balkan. Von einer großen Ausweichbewegung der westeuropäischen Jäger und Sammler nach Süden kann nach derzeitigem Kenntnisstand sicherlich nicht die Rede sein. Die Menschen scheinen sich vielmehr vor Ort nach und nach an die neuen Lebensumstände - an den damaligen Klimawandel - angepaßt zu haben.
Eine solche Dynamik von Kulturen, die sich von Süden nach Norden ausbreiten oder von Kulturen, die sich von Norden nach Süden ausbreiten oder von Osten nach Westen, wie sie einen großen Teil der Menschheitsgeschichte seit der Seßhaftwerdung bestimmt, eine solche Dynamik scheint es vor dem Übergang zu dieser noch nicht gegeben zu haben.

//  Zuerst auf Google+, 25.9.2018;
überarbeitet und erweitert: 22.1.2022;
ergänzt um [5]: 1.5.22  //
 
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  1. Late Pleistocene human genome suggests a local origin for the first farmers of central Anatolia. September 2018.DOI: 10.1101/422295, Autoren: Michal Feldman, Eva Fernandez Dominguez, Luke Reynolds u.a., sowie Johannes Krause, Preprint biorixv (Researchgate)
  2. Reconstructing the spatiotemporal patterns of admixture during the European Holocene using a novel genomic dating method Manjusha Chintalapati, Nick Patterson, Priya Moorjani bioRxiv 2022.01.18.476710; doi: https://doi.org/10.1101/2022.01.18.476710 
  3. Bading, Ingo: Das Zagros-Gebirge in der Völkergeschichte, Januar 2022, https://studgendeutsch.blogspot.com/2022/01/das-zagros-gebirge-in-der.html
  4. Stiner, M. C., Munro, N. D., Buitenhuis, H., Duru, G., & Özbaşaran, M. (2022). An endemic pathway to sheep and goat domestication at Aşıklı Höyük (Central Anatolia, Turkey). Proceedings of the National Academy of Sciences, 119(4), https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2110930119
  5. Hacılar, TurkishArchaeoNews @turarchaeonews, 4.3.2022, https://twitter.com/turarchaeonews/status/1499717291008741380

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