Montag, 22. März 2021

Vanuatu - Größte Sprachvielfalt auf kleinstem Raum

Drei Besiedlungswellen in den letzten zweitausend Jahren 
- Sie nahmen Einfluß auf die Ausgestaltung der sprachlichen Vielfalt

Die kühne Ausbreitung des Volkes der Lapita-Kultur (Wiki, engl), der Mikronesier und Polynesier und der damit verbundenen austronesischen Sprachgruppe (Wiki) von Südtaiwan aus in der südostasiatischen und pazifischen Inselwelt, in der "Südsee" 3.000 v. Ztr. bis 1.000 n. Ztr. mit Auslegerbooten ist ein Thema, das von Seiten der Forschung in den letzten Jahrzehnten eine immer bessere Aufklärung gefunden hat. Es war deshalb auch immer einmal wieder Thema auf unseren Blogs (1-4).

Abb. 1: Ausbreitung des Volkes der Lapita-Kultur in Südostasien 3.000 bis 1.000 v. Ztr., sowie 800 bis 1400 n. Ztr. (Wiki)

Bis 1.500 v. Ztr. breitete sich des Volk der Austronesier über die Inselwelt Indonesiens und Borneos aus ("Rötlich" in Abb. 1). Bis 1.200 v. Ztr. breitete es sich entlang des Bismarck-Achipels und der Küste Papua Neuguineas bis hin zu den Salomon-Inseln, bis zu den Inseln von Vanuatu, bis zu den neukaledonischen Inseln und bis zu den Fitschi-Inseln aus ("Lila" in Abb. 1). Um 900 v. Ztr. breitete es sich bis nach Tonga aus, um 800 v. Ztr. bis nach Samoa und um 700 n. Ztr. bis nach Tahiti, um 1.000 n. Ztr. bis zu den Osterinseln ("Grün" in Abb. 1). Was für ein verrückter, Jahrtausende übergreifender Besiedlungsvorgang! (Siehe auch Anhang.)

Wir hatten auch schon die Erkenntnis der letzten Jahre behandelt, daß es nach der Erstbesiedlung von vielen Inseln insbesondere im heutigen Melanesien ("Lila" in Abb. 1) noch ein "genetic replacement" gegeben hat, einen Bevölkerungsaustausch, gerne auch unter scheinbarer Beibehaltung der ursprünglichen austronesischen Muttersprache, und zwar durch Menschen von melanesischer Papua-Guinea-Herkunft. Und genau dieses Geschehen wird durch neuere Forschungen nun immer differenzierter faßbar (5-7). Es wird deutlich, daß es nicht nur ein erstes "genetic replacment" gegeben hat, sondern auch ein zweites gegenläufiges von Polynesien aus sozusagen "rückwärts". 

Im Dezember 2020 war ein - etwas langatmig anzusehendes - Video über die aktuellen Bemühungen der Sprachforscher erschienen, die sich für die Inselwelt von Vanuatu interessieren, weil es dort auf kleinstem Raum die größte Sprachvielfalt weltweit gibt (5). Die Forscher fragen, wie diese Sprachvielfalt - und die damit verbundene kulturelle Vielfalt - zustande gekommen sein mag und wie sie sich stabil erhalten konnte über die Jahrhunderte. Antworten werden in dem Video aber noch so gut wie gar nicht gegeben, noch nicht einmal Hinweise auf sich andeutende Antworten.

Was in ihrem Video nun - womöglich sträflicherweise - gar nicht erwähnt wird (soweit wir das mitbekommen), ist die Tatsache, daß etwa zeitgleich von Seiten der Ancient-DNA-Forschung aufgezeigt wird, daß diese Sprachvielfalt mit einer dreifachen Schichtung der genetischen Herkunftsanteile in den jeweiligen Sprachgruppen einhergeht (6) (s. Abb. 2).

Abb. 2: Die genetischen Herkunftsgruppen in der Inselwelt des Südpazifik (aus: 6) - Grün: Lapita-Kultur (von Taiwan aus) (Polynesier), Blau: Papua-Neuguina (Melanesier)

Die diesbezüglichen Forschungsergebnisse finden sich zunächst zusammen gefaßt in Abb. 2: Die Inseln Atayal und Kankanaey sind heute allein von Menschen mit der Herkunftsgruppe der Lapita-Kultur besiedelt. Sie haben sich entweder seit der Erstbesiedlung nicht mit hinterher kommenden Melanesiern (blaue Herkunftsgruppe) vermischt oder aber dieser Herkunftsanteil ist in späteren Epochen wieder verschwunden. Auf der Insel Tonga kam es zur Einmischung mit Melanesiern, ebenso auf weiteren angezeigten Inseln. Diese Einmischung scheint durch Menschen erfolgt zu sein, deren Vorfahren ursprünglich auf der Insel Neupommern (Neubritannien; New Britain) wohnten, und deren Vorfahren hinwiederum selbst schon sich mit Angehörigen des Volkes der Lapita-Kultur vermischt hatten. In einer Kurzzusammenfassung heißt es (6):

Eine einmalige Ausbreitung von Neupommern her kann den größten Anteil der Herkunft der späteren Gruppen (auf Vanuatu) erklären. Polynesische Ausbreitungen aus jüngerer Zeit trugen (später) ebenso sowohl zum kulturellen wie genetischen Erbe derselben bei.
A single spread from New Britain can explain most of the ancestry of later groups. More recent Polynesian migrations contributed both cultural and genetic legacies.

Es hat nach dieser Studie in den letzten tausend Jahren noch einmal eine eine Rück-Ausbreitung der Genetik der austronesischen Sprachgruppe gegeben in Teilbereiche von Vanuatu hinein. In der Zusammenfassung der Studie heißt es demgemäß (6): 

Unsere Ergebnisse zeigen drei zeitlich unterschiedliche Bevölkerungsumbrüche auf.
Our results outline three distinct periods of population transformations.

Zunächst erfolgte die oben schon beschriebene Besiedlung durch das Volk der Lapita-Kultur.

Abb. 3: Fischer in Simpsonhafen, Neu Pommern, 1905 (Postkarte)

Über einen zweiten Bevölkerungsumbruch ab etwa 800 v. Ztr. heißt es (6):

Zum zweiten können sowohl die Papua-Herkunft, die in Vanuatu seit 2.500 Jahren vorherrscht und die kleinere Papua-Herkunftskomponente der Polynesier modelliert werden als herstammend von einer einzigen Ausgangspopulation, die sich höchstwahrscheinlich auf der Insel Neupommern befand, was die Ausbreitung von Menschen nahelegt, die diese Herkunft in die pazifische Inselwelt brachten, zeitlich und räumlich im Gefolge der Ersten Ausbreitungsbewegung.
Second, both the Papuan ancestry predominating in Vanuatu for the past 2,500 years and the smaller component of Papuan ancestry found in Polynesians can be modeled as deriving from a single source most likely originating in New Britain, suggesting that the movement of people carrying this ancestry to Remote Oceania closely followed that of the First Remote Oceanians in time and space.

Damit wäre die Insel Neupommern (heute: Neubritannien) (Wiki) im Bismarck-Archipel ein wichtiger Ausgangspunkt der zweiten Ausbreitungsbewegung gewesen. Neupommern war - als Teil von Deutsch-Neuguinea (Wiki) - bis 1914 deutsche Kolonie. Nach dem 11. September 1914 und nach dem Gefecht bei Pita Paka (Wiki) wurde Neupommern von Australien besetzt, um den deutschen Kreuzern Anlaufpunkte in Häfen wegzunehmen. Der deutsche Maler Emil Nolde hat 1913/14 wichtige Jahre auf Deutsch-Neuguinea verbracht zur gleichen Zeit wie der Maler Max Pechstein auf anderen Südsee-Inseln. Auf Neupommern wird auch heute noch die einzige kreolendeutsche Sprache "Unserdeutsch" gesprochen. In der neuen Studie heißt es weiter (6):

Zum dritten stammen die (archäogenetisch untersuchten) Chief Roi Mata-Individuen ab von einer Vermischung von Vanuatu- und polynesischer Herkunft und sie stehen in Beziehung zu polynesisch-beeinflußten heutigen Gemeinschaften im zentralen, nicht aber im südlichen Vanuatu, womit aufgezeigt wird, daß sich der polynesische genetische Einfluß in verschiedenen Gruppe aufgrund unabhängiger geschichtlicher Ereignisse vollzogen hat.
The Chief Roi Mata’s Domain individuals descend from a mixture of Vanuatu- and Polynesian-derived ancestry and are related to Polynesian-influenced communities today in central, but not southern, Vanuatu, demonstrating Polynesian genetic input in multiple groups with independent histories.

Soweit wir es verstehen, hat es also auch noch nach der Einmischung der Papua-Genetik erneut eine Einmischung von polynesischer Genetik gegeben, wie es ja schon in der Kurzzusammenfassung hieß:

Jüngere polynesische Ausbreitungen trugen sowohl zum kulturellen wie genetischen Erbe (der Sprachgruppen auf Vanuatu) bei.
More recent Polynesian migrations contributed both cultural and genetic legacies.

Dazu wird noch ausgeführt (6):

Eine dritte Ausbreitungsbewegung (M3) ist während des letzten Jahrtausends festzustellen, verbunden mit der Begründung von "polynesischen Ausreißer"-Gemeinschaften in Vanuatu (wie in anderen Gebieten von Melanesien und Mikronesien): das heißt, Inseln, auf denen Untergruppen der polynesischen Sprachfamilie gesprochen werden und wo Elemente der polynesischen materiellen und nichtmateriellen Kultur gepflegt werden. Polynesische Einflüsse erstecken sich in Vanuatu auch über eine Zahl von Inseln, die benachbart liegen zu den Ausreißer-Gemeinschaften, und die polynesischen Einfluß zeigen ohne daß es zu einem vollständigen Austausch der Muttersprache gekommen wäre. Allerdings ist wenig bekannt über das Ausmaß der Bevölkerungsbewegung, die mit diesen von Polynesien abgeleiteten kulturellen und sprachlichen Veränderungen verbunden gewesen sind.
A third distinct migration stream (M3) occurring within the last millennium and associated with the establishment of ‘‘Polynesian Outlier’’ communities in Vanuatu (as in other areas of Melanesia and Micronesia): that is, islands where Polynesian sub-group languages are spoken and where elements of Polynesian material and non-material culture are practiced [12, 13]. Polynesian impacts in Vanuatu also extend to a number of islands neighboring the Outlier communities showing Polynesian influence but without full language replacement. Little is known, however, about the degree of population movement accompanying these Polynesian-derived cultural and linguistic changes.

Und (6):

Eine dieser von Polynesien aus beeinflußten Inseln ist Efate im zentralen Vanuatu, wo heute zwei polynesisch-sprachige Gemeinschaften existieren, eine auf der kleinen Insel Ifira vor der Küste und eine in Mele, im Südwesten der Insel. Auf Efate und den kleinen benachbarten Inseln Eretok und Lelepa befindet sich "Chief Roi Mata's Domain", die 2008 in das Verzeichnis der UNESCO-Weltkulturerbe-Gebiete aufgenommen wurde angesichts des engen Zusammenhangs von mündlichen Traditionen  und einem spektakulären Begräbnisort, der in den 1960er Jahren ausgegraben wurde.
One such Polynesian-influenced island is Efate in central Vanuatu, where two Polynesian-language-speaking communities exist today, one on the small off-shore island of Ifira and one at Mele on the southwest of the island. Also located on Efate and the adjacent small islands of Eretok and Lelepa is ‘‘Chief Roi Mata’s Domain,’’ which was inscribed on the UNESCO World Heritage Area list in 2008 on the basis of strong links between oral traditions and a spectacular mortuary site excavated in the 1960s.

Mit all dem deutet sich die Möglichkeit an, daß die Sprachvielfalt auf Vanuatu vor allem erst einmal in Verbindung betrachtet werden muß mit der Vielfalt der genetischen Herkunftsanteile, die in der jeweiligen Sprachgruppe vorliegen und die mit der zeitlichen "Schichtung" der jeweiligen Genetik und Kultur in Abgleich zu bringen sind.

Es ist ja insgesamt keineswegs auszuschließen, daß die Wahrnehmung unterschiedlicher genetischer Anteile hinsichtlich der Herkunftsgruppen - etwa über Hautfarbe, Beschaffenheit der Haare etc. - auch zu "kinship recognition", zur Wahrnehmung des genetischen Verwandtschaftsgrades beiträgt und damit zu unterbewußteren oder bewußteren Sprach- und Heiratsschranken.

Aufgrund all solcher Zusammenhänge und Möglichkeiten darf man auf weitere Ergebnisse der Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte Melanesiens, Polynesiens und Vanuatus gespannt sein.

Ergänzung 23.9.21: Eine neue Studie kann die Ausbreitungsbewegung von Samoa aus ab 830 n. Ztr. gen Süden und Osten genauer und detaillierter fassen. Als letztes wurden 1210 die Osterinseln und 1360 die Insel Raivavae besiedelt (12, 13).

Anhang: Die Hochwertung der Polynesier im Deutschland der 1930er Jahre

Geistes-, wissenschafts- und philosophiegeschichtlich ist bezüglich dieses Themas nicht uninteressant die Auseinandersetzung, die es in den 1930er Jahren in Deutschland mit der Kultur und Religion der Austronesier gegeben hat. Dies kann etwa aufgezeigt werden anhand der weit verbreiteten Schriften des Autors Erich Scheurmann (1878-1957) (Wiki), des Verfassers des noch heute vielfach gelesenen "Papalangi". Es kann das auch aufgezeigt werden anhand der Ausdeutung mancher Inhalte solcher Schriften von Seiten der damaligen Philosophie (8).

Es könnte in diesem Zusammenhang auch auf den bis heute unbekannt gebliebenen Umstand verwiesen werden, daß ein so prominenter Vertreter des - als geistig oft außerordentlich beschränkt angesehenen - "preußischen Militarismus", nämlich Erich Ludendorff, im April 1927 von einem Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges und zugleich eines seiner "Verehrer" zu seinem 72. Geburtstag einen Bildband geschenkt erhalten hat über Bali (9). Dieser Bildband hat sich im Buchnachlaß Erich Ludendorffs - im Ludendorff-Archiv in Tutzing - erhalten. Er scheint also auf Seiten des Empfängers des Geschenkes Wertschätzung erfahren zu haben. Dieser Band enthält eine Fülle von Fotografien der Menschen von Bali, aufgenommen von dem Fotografen Georg Krause (erste Eindrücke hier: Catawiki). Auf der Rückseite der Titelseite steht als handschriftliche Widmung:

Bali! Wie ich es auch sah!
Meinem Feldherrn 1914/18
zu seinem 72. Geburtstag
gewidmet
Hugo Kleber
Blankenese - Hamburg

Der Schenkende war also offenbar auch selbst auf Bali, vielleicht als Angehöriger der Handelsmarine, vielleicht als Kaufmann oder sonst im Auftrag einer Firma.

Um sich übrigens einen Eindruck von dem Aufenthalt des Entdeckers James Cook auf der Insel Tahiti zu verschaffen, kann womöglich auch gut ein Spielfilm aus dem Jahr 1987 empfohlen werden (10). Als sehr sehenswert kann auch die Facebook-Seite der Abteilung Kultur der Osterinseln empfohlen werden (11), auf der die heutige Pflege der Kultur und des Gemeinschaftslebens auf der Osterinsel sehr eindrucksvoll zur Darstellung kommt.

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  1. Bading, Ingo: Studium generale: Jade-Handel in Südostasien 2.500 Jahre lang von Taiwan aus (studgendeutsch.blogspot.com), 2007
  2. Bading, Ingo: Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt?: Dienen Menschenopfer der Stabilisierung menschlicher Gesellschaften seit vielen Jahrtausenden? (studgenpol.blogspot.com), 2017
  3. Bading, Ingo: Studium generale - Kurzbeiträge: Warum bevorzugten die Frauen Austronesiens nach 2000 v. (ibading.blogspot.com), 2-2018
  4. Bading, Ingo: Studium generale: Philippinen besiedeln die Marianen-Inseln (2.300 v. Ztr.) (studgendeutsch.blogspot.com), 2020
  5. Evolution of Cultural Diversity in Vanuatu - Research Project on Vimeo, MPI-SHH / Scientific Services, 3.12.2020
  6. Mark Lipson, Matthew Spriggs, Frederique Valentin, Stuart Bedford, Richard Shing, Wanda Zinger, Hallie Buckley, Fiona Petchey, Richard Matanik, Olivia Cheronet, Nadin Rohland, Ron Pinhasi, David Reich: Three Phases of Ancient Migration Shaped the Ancestry of Human Populations in Vanuatu. Current Biology, Volume 30, Issue 24, 21 December 2020, Pages 4846-4856.e6, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S096098222031366X, (freies pdf)
  7. Jonathan S. Friedlaender, Serena Tucci: Human Migrations: Tales of the Pacific. Current Biology, Volume 30, Issue 24, 21 December 2020, Pages R1478-R1481, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S096098222031366X.
  8. Ludendorff, Mathilde: Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen. Ludendorffs Verlag, München 1936 
  9. Krause, Gregor (Fotograf); With, Karl: Bali. 2. Auflage in einem Band. Mit 207 Abbildungen und ungekürztem Text. Folkwang-Verlag GmbH, Hagen i.W., 1922 [Schriften-Serie Geist, Kunst und Leben Asiens. Hrsg. von Karl With. Band II u. III, Insel Bali Ausgabe in einem Band]
  10. Wind und Sterne. James Cook. 1987, https://youtu.be/ocRnS2jpUEM
  11. Osterinsel, https://www.facebook.com/TapatiRapaNuiOficial/ 
  12. A. Ioannidis et al. Paths and timings of the peopling of Polynesia inferred from genomic networks. Nature. Vol. 597, September 23, 2021, p. 522. doi: 10.1038/s41586-021-03902-8 
  13. Bower, Bruce: DNA offers a new look at how Polynesia was settled. In: Science Mag, https://www.sciencenews.org/article/dna-genetics-how-polynesia-settled-migration-islands-pacific-ocean 

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