Samstag, 4. Juli 2020

Wandlungsfreude und Beharrungsvermögen in der Völkergeschichte

In ihren Auswirkungen auf regionale demographisch-genetische Kontinuität oder deren Abbruch
- Einige grundlegendere Überlegungen ausgehend vom derzeitigen Forschungsstand der Archäogenetik

Der Übergang zur seßhaften Lebensweise und zum Leben in Staaten stellt das dehnbare Band zwischen den Genen und der Kultur eines Volkes unter starke Beanspruchung. Ein despotischer Herrscherwille, der vornehmlich von Weisheit geleitet ist und eine entsprechende, in Kultur und Genen schon angelegte Bereitschaft der Angehörigen eines Volkes, sich einem solchen Herrscherwillen unterzuordnen, mag einen solchen Übergang erleichtern, ohne daß das genannte Band zerreißen muß, und ohne daß das jeweilige Volk in der Folge von anderen Völkern gar zu leicht ersetzt wird (demographisch).

Europe agricultural revolution
Abb. 1: Der Eroberungszug der anatolisch-neolithischen Dorfgemeinschaften und frühen Staaten durch Europa (7.000 bis 4.300 v. Ztr.) - Wikirictor / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0) (Wiki)

Gelingt dieser Übergang zur seßhaften und bäuerlichen Lebensweise in einer bestimmten Frist und auch über lange Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg nicht nachhaltig genug - wie etwa bei den europäischen Fischer-, Jäger- und Sammler-Völkern - dann können diese Völker von Völkern ersetzt werden, bei denen dieser Übergang schneller gelungen ist und ohne daß dabei das bei ihnen vorliegende dehnbare Band zerrissen worden wäre. Eben unter anderem durch weise, despotische Herrschaftsformen unterschiedlicher Art.

In Ostasien hat die starke Beharrungsfreude der dortigen Völker offenbar dazu geführt, daß sich diese nicht gar zu häufig gegenseitig bedrängt haben bei ihrem jeweiligen Übergang zur seßhaften Lebensweise. Diese vollzog sich dort in jeder Region (Gelber Fluß, Tibet, Amur-Fluß) offenbar in der regional jeweils gegebenen zeitlichen Abfolge, ohne daß eine Be- oder Verdrängung von außen her eine gar zu große Rolle gespielt zu haben scheint (1). (Abgesehen von solchen Ausnahmen wie der Jomon-Kultur auf Japan etwa.) Man bedenke, daß zum Beispiel auch die taiwanesisch-stämmige austronesische Seefahrer-Kultur, die die südpazifische Inselwelt besiedelt hat, sich offenbar vornehmlich darauf beschränkt hat, eine zuvor unbesiedelte Inselwelt zu besiedeln, und ohne andere Völker zu bedrängen. Sie scheint dabei also vergleichsweise selten andere Völker bedrängt oder gar ersetzt zu haben. Auf diese Weise jedenfalls kam in Ost- und vielen Teilen Südostasiens jene Jahrtausende lange genetische Kontinuität seit dem Mesolithikum zustande, wie sie inzwischen sehr deutlich zu beobachten ist durch die Archäogenetik (1).

In Europa hat die starke Wandlungsfreude der hiesigen Völker hingegen dazu geführt, daß die anatolisch-neolithische Völkergruppe und die iranisch-neolithische Völkergruppe, die in ihren Ursprungsregionen bis heute einigermaßen genetische Kontinuität seit dem Mesolithikum aufweisen, sich sehr früh und außerordentlich stark demographisch expansiv verhalten haben (Abb. 1), auch auf Kosten anderer Völker, die in den jeweiligen Regionen zuvor ansässig waren, und denen - deshalb - keine Zeit gelassen wurde, eigenständig und mit der ihnen eigenen Kombination von Genen und Kultur zum Ackerbau überzugehen.

Bei den Bandkeramikern etwa wurde schon vor Jahrzehnten (zuerst von Jens Lüning) (bei der Erforschung "ältestbandkeramischer" Siedlungen) sogar sehr bewußt expansives, "eroberndes" Kolonisations-Verhalten (sozusagen "Rodungsbauerntum") festgestellt. Das heißt: Die nachfolgende Generation der Siedler an der jeweiligen Siedlungsgrenze dieser Kultur begründete eine neue Siedlungsstelle nicht etwa in der Nähe ihrer Heimatsiedlung, sondern gleich 30 Kilometer fern der Heimatsiedlung inmitten des entlegenen Urwalds. Und erst in der nachfolgenden Generation wurde auch der Zwischenraum aufgesiedelt. (Daß dies "staatlich koordiniert" geschehen sein könnte, fiel der Forschung bislang schwer anzunehmen. Es mehren sich aber inzwischen die Hinweise auf quasi-staatliche Koordination auch bei den Bandkeramikern, etwa in Form überregionaler religiöser Zentren, sowie von Verteidigungsanlagen und Kriegszügen.) Also schon bei den anatolisch-neolithischen Bauernvölkern, bzw. (womöglich) ihren frühen Staaten ist sehr viel Veränderungsfreude, ja, Eroberungswille zu erkennen. Nur deshalb konnte sich die Bandkeramik so schnell über so weite Teile Mitteleuropas (bis ins Pariser Becken und bis zur Kanalküste) ausbreiten.

Daß die in Europa einheimischen Fischer-, Jäger- und Sammler-Völker auch selbstständig zum Ackerbau hätten übergehen können, wird prinzipiell durchaus möglich gewesen sein. Immerhin könnte man sagen, daß ihnen - etwa auf den britischen Inseln oder in der norddeutschen Tiefebene oder im Ostseeraum - mehrere Jahrhunderte oder gar Jahrtausende Zeit dazu gegeben worden war von Seiten der Weltgeschichte. Als Hemmfaktoren dafür könnten vorgelegen haben:

  1. Die große Veränderungsbereitschaft schon kulturell weiter entwickelter europäischer Völker, die "schneller" diesen Übergang vollzogen haben und die dann jeweils selbst sehr schnell expansiv und erobernd tätig wurden.
  2. Die womöglich in Genen und Kultur stärker angelegte Unfähigkeit in diesen einheimischen mittel- und nordeuropäischen Völkern, sich anderen, weiseren Menschen des eigenen Volkes - wie es sicher dafür notwendig gewesen wäre - sozial unterzuordnen und in die Gemeinschaft einzuordnen.

Diese letztere Unfähigkeit hat ja noch der römische Geschichtsschreiber Tacitus - weltgeschichtlich vergleichsweise "spät" - bei den heidnischen Germanen festgestellt und beobachtet. Diese heidnischen Germanen stammten ja - wie wir noch heute - schon zur Zeit des Tacitus zu einem höheren Teil von der Völkergruppe der (zum Teil blonden) osteuropäischen Fischer, Jäger und Sammler ab als die meisten schon damals den Römern bekannten Völker. Und in Genetik und Kultur dieser ursprünglichen Völkergruppe könnte Individualität eine Rolle gespielt haben wie in keiner Kultur sonst weltweit. Deshalb scheint in dieser Völkergruppe bis heute die Fähigkeit, höherer Einsicht innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu folgen, vergleichsweise bescheiden ausgebildet zu sein. In dieser Kultur will es jeder für sich "besser wissen".

Genau diese Unfähigkeit und die daraus folgende, zum Teil ganz unglaubliche Uneinigkeit mag bei der Ethnogenese der Indogermanen an der Mittleren Wolga nun in einem ersten weltgeschichtlichen Schritt abgemildert worden sein dadurch, daß in das eigene Volk 47 Prozent iranisch-neolithische Genetik (wohl vor allem über die weibliche Linie) eingemischt wurde. Womöglich gelang das sogar, ohne daß das zuvor bei den osteuropäischen Fischern, Jägern und Sammlern bestehende Band zwischen Genen und Kultur vollständig zerrissen wäre. Anhand der Tierkopfszepter (vormals Elchkopfszepter) zum Beispiel ist erkennbar, daß vorherige kulturelle Traditionen auch nach der Transformation zu den Urindogermanen fortgeführt wurden.

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/ Anmerkung: Dieser Beitrag versucht eine zusammenfassende Deutung der in den letzten beiden Jahren hier auf dem Blog referierten archäogenetischen Erkenntnisse zur Völkergeschichte Europas und Asiens, ohne noch einmal gesondert jeden einzelnen Beitrag dazu zu zitieren. Bitte für Einzelheiten zahlreiche Blogartikel der letzten beiden Jahre hier auf dem Blog konsultieren, bzw. studieren. Die hier eingestellte Grafikn kann übrigens nur eine erste Andeutung geben. Sie ermöglicht keinerlei tieferes Verständnis. Vorläufig anstelle einer vergleichbare Grafik für China seit dem Mesolithikum eine solche für die Zeit seit 1.000 v. Ztr.: (Wiki). 

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  1. Bading, Ingo: Die Ethnogenese des chinesischen Volkes, 27.3.2020, https://studgendeutsch.blogspot.com/2020/03/die-ethnogenese-des-chinesischen-volkes.html
  2. Bading, Ingo: Deutschlands Vorgeschichte im Überblick, 23.6.2020, https://youtu.be/5A5YCpuanTI.

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