Dienstag, 26. Februar 2008

Der "anthroposophische Lebensstil" als demographischer Faktor

Zusammenfassung

Statistische Daten zu Menschen, die einen „anthroposophischen Lebensstil“ leben, machen auf einen Fall aufmerksam, der in der "Evolutionären Religionswissenschaft" und in der Religionsdemographie noch nicht erforscht worden ist: Überdurchschnittliche Geburtenrate bei gleichzeitiger überdurchschnittlicher Konfessionslosigkeit. An diesem ersten exemplarischen Fall wird aufgezeigt, dass auch Konfessionslose mit moderner, philosophisch und naturwissenschaftlich zumindest partiell aufgeklärter Religiosität - insofern ihr Lebensstil in eine solche Gemeinschaftsbildung eingebettet ist, wie sie der "anthroposophische Lebensstil" aufweist - zur Erhöhung von Geburtenraten und offenbar auch zur Erhöhung von gesellschaftlicher Solidarität beitragen können.

Abstract
Scientific data about people following an "anthroposophic lifestyle" show that new forms of religiosity developed mainly in the 20th century are able to enhance social solidarity and birth rates of people, also of those who have left the traditional christian churches.
An english version of this article is also available (1).

Einleitung

Die junge Wissenschaftsdisziplin der "Evolutionären Religionswissenschaft", bzw. Religionsbiologie (auch „Religionswissenschaftliche Studien aus evolutionärer Perspektive“ genannt, engl. "Evolutionary Religious Studies" [s. Binghamton]), und darin spezieller die Religionsdemographie hat in den letzten Jahren zahlreiche Erkenntnisfortschritte mit sich gebracht.*) Als einige wesentlichere seien benannt: Religiosität steht in Wechselbeziehung zur Humangenetik und wurzelt in angeborenen Komponenten (2). Religiosität nimmt weltweit ausgeprägter und universeller auf das Fortpflanzungsverhalten von Menschen Einfluss, als jedes andere kulturelle Merkmal. Religiöse, menschliche Gemeinschaften sind kulturell stabiler als nicht-religiöse (3-5). Religiöse Menschen haben mehr Kinder als atheistische (5).

Der Fokus der jungen Disziplin lag zu Anfang auf den traditionellen Großkirchen oder auf jener stammesorientierten Vorgänger-Religion, aus der diese hervorgegangen sind (der jüdischen Religion).

Es existiert derzeit in der wissenschaftlichen Literatur - soweit übersehbar - noch kein wissenschaftlicher Nachweis oder auch nur Hinweis darauf, dass auch moderne, erst im 20. Jahrhundert entstandene Formen von Religiosität eine Erhöhung der Geburtenrate von Menschen mit sich bringen können. Auf diese Thematik macht die  vorliegende Studie aufmerksam, indem sie in einem ersten Schritt empirische Daten auswertet zum sogenannten "anthropophischen Lebensstil". Er soll hier als ein erster exemplarischer Fall zumindest partiell "modernerer", im 20. Jahrhundert entstandener Religiosität in dieser Hinsicht behandelt werden.  

Dabei ist natürlich gleich einzuschränken, daß der Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861-1925) (Wiki), seinen Anhängern sozusagen einen "tollen Mix" aus außerordentlich archaischen Formen von Religiosität verbunden mit moderneren, philosophisch und wissenschaftlich aufgeklärten Formen von Religiosität angeboten hat. Der "anthroposophische Lebensstil" ist aber insgesamt weniger explizit an die eigentlichen Lehren von Rudolf Steiner gebunden, sondern mehrheitlich von diesen heute eher abgekoppelt (siehe unten). Rudolf Steiner war sowohl ein Vertreter des Geistesgutes solcher Christentums-feindlichen Denker wie Friedrich Nietzsche und Johann Wolfgang von Goethe (10), wie er Verehrer von Jesus oder Buddha war. Er steht dabei in der Tradition der theosophischen Bewegung, in der Okkultismus, esoterisches und magisches Denken aller Art blühten, also sehr archaische Formen menschlicher Religiosität und Vergemeinschaftung (etwa: Freimaurerei). Er glaubte an die Reinkarnation und er und seine engsten Anhänger ließen offen, ob er nicht selbst eine Reinkarnation von Buddha, Jesus oder Goethe wäre (oder gar von allen dreien zusammen). 

Menschen, die einen „anthroposophischen Lebensstil" leben, finden sich heute vor allem in Westeuropa. Hier insbesondere in Westdeutschland, in den Niederlanden, der Schweiz, Schweden und Großbritannien. Außerdem in Nordamerika und Australien. In Deutschland bilden sie jene gesellschaftliche Gruppierung mit den meisten Privat-Schulen. Hier betreiben sie 200 Waldorf-Schulen mit nicht weniger als 80.000 Schülern.

Abb. 1: "Badging" - Ein gruppenspezifisches
Erkennungsmerkmal (Wiki)

Außerdem betreiben sie Kindergärten. Es gibt anthroposophisch orientierte Ärzte, die gemäß "anthroposophischer Medizin" behandeln. Es gibt Krankenhäuser, Altersheime und Universitäten, die vornehmlich von der gesellschaftlichen Gruppierung der Anthroposophen getragen werden. All das sind deutliche Indikatoren eines überdurchschnittlichen sozialen Engagements und des Gefühls überdurchschnittlicher sozialer Verantwortlichkeit und Solidarität, die mit einem solchen Lebensstil verbunden zu sein scheinen. Es ist sozusagen eine eigene Infrastruktur aufgebaut worden, innerhalb sich Menschen, die sich diesem Lebensstil verbunden fühlen, bewegen können und beheimatet fühlen können.

Es handelt sich bei den genannten Bereichen zudem um soziale Lebensbereiche, die evolutionspsychologisch und traditionell immer auch das besondere Interesse von Frauen angesprochen haben und ansprechen. Von Frauen ist bekannt, dass sie sich im Durchschnitt mehr für Religiosität und Spiritualität interessieren als Männer. Dementsprechend befinden sich beispielsweise auch mehr Frauen als Männer unter den Patienten von anthroposophisch orientierten Ärzten. Im Gegensatz dazu ist von Atheisten bekannt, dass Frauen unter ihnen oft nur kleine Minderheiten bilden. In der vor einigen Jahren neu gegründeten Giordano-Bruno-Stiftung etwa machen sie derzeit nur 20 % der Stiftungsmitglieder aus (11, 12). Ähnliches gilt für die atheistische "Brights"-Bewegung in den angloamerikanischen Ländern.

Methoden

Als exemplarisches Beispiel, um moderere Religiosität als demographischen Faktor einschätzen zu können, wird in der vorliegenden Studie wissenschaftliche Literatur über Menschen ausgewertet, die einem "anthroposophischen Lebensstil" folgen.

Menschen, die einen "anthroposophischen Lebensstil" leben, arbeiten, wie schon erwähnt, auch an Universitäten, unter anderem in der medizinischen und in der pädagogischen Forschung. Sie betreiben eigene Forschungsprogramme und wissenschaftliche Journale. Deshalb sind sie auch schon häufig Gegenstand wissenschaftlicher Studien und Meta-Studien geworden, häufiger als viele andere, religiös vielleicht vergleichbare Gruppierungen. So unter anderem in der Medizin und in der Pädagogik (13-19). Es geht in diesen Studien z.B. um die Anerkennung der Effizienz anthroposophischer Medizin durch die Krankenkassen oder um die Folgewirkungen anthroposophischer Pädagogik (19, 20). Auch religionswissenschaftliche Studien zu ihnen liegen vor (10, 21-25).

Ergebnisse

Ein Literatur-Überblick ergibt: Tausende von Menschen, die einen "anthroposophischen Lebensstil" leben, sind in den letzten Jahren Gegenstand von wissenschaftlichen Studien gewesen (13-25).

a. Allgemeines Bild

Menschen, die einen "anthroposophischen Lebensstil" leben, zählen wesentlich mehr Akademiker unter ihre Reihen als die Durchschnittsbevölkerung. Allein lebende Menschen gibt es unter ihnen weniger als in Kontrollgruppen. Waldorf-Schüler haben im Durchschnitt etwas mehr Geschwister als Nicht-Waldorf-Schüler, Familiengröße und Haushaltsgröße liegen leicht über dem Durchschnitt von Kontrollgruppen, bzw. der Durchschnittsbevölkerung. Es gibt weniger Raucher und Übergewichtige unter ihnen.

b. Haltung gegenüber der Lehre von Rudolf Steiner und gegenüber der Waldorf-Pädagogik

1.124 ehemalige Waldorf-Schüler, geboren zwischen den 1930er und den 1970er Jahren, haben im Winter 2004/05 an einer Fragebogen-Erhebung teilgenommen, bei der sie über ihr Leben und Denken befragt worden sind (19 - 21). Die Mehrheit dieser befragten ehemaligen Waldorf-Schüler (60 %) steht der Lehre von Rudolf Steiner indifferent oder ablehnend gegenüber. Nur eine Minderheit steht ihr positiv gegenüber. Aber 80 % von ihnen würden wieder auf eine Waldorf-Schule gehen. – Hier deutet sich eine für diese Gruppierung sehr typische hohe Identifikation mit praktischen Anwendungen ihrer zugrundeliegenden Lehre an, nicht aber mit der Lehre selbst. Es ist aber davon auszugehen, dass ein "innerer Kern" von Anhängern der Lehre von Rudolf Steiner existiert, der die Existenz, den Zusammenhalt und das zahlenmäßige Wachstum dieser gesellschaftlichen Gruppierung in den letzten 80 Jahren stabilisiert hat.

c. Politische Orientierung

Die Hälfte der erwähnten 1.124 ehemaligen Waldorf-Schüler sympathisieren mit politischen Parteien. Von dieser Hälfte sympathisiert wiederum die Hälfte mit der Partei "Bündnis 90/Die Grünen". Die Hälfte der anderen mit politischen Parteien sympathisierenden ehemaligen Waldorf-Schüler nennen die SPD als jene Partei, mit der sie sympathisieren.

d. Geburtenrate

Von den befragten 1.124 ehemaligen Waldorf-Schülern hatten 692 Kinder (61 %) und 352 (noch) keine (30 %). 50 % von ihnen waren unter 37 Jahre alt, viele werden also künftig noch Kinder bekommen. 253 waren zwischen 64 und 68 Jahre alt und hatten durchschnittlich 2,2 Kinder pro Person. 236 waren zwischen 50 und 64 Jahre alt und hatten 2,0 Kinder pro Person. 542 waren zwischen 30 und 37 Jahre alt und hatten 0,9 Kinder pro Person (20, S. 6). Wenn diese 542 am Ende ihres Lebens doppelt so viele Kinder haben wie zum Zeitpunkt der Studie, was nicht sehr unwahrscheinlich sein dürfte, dann werden sie durchschnittlich 1,8 Kinder pro Person haben. Die Gruppe insgesamt hat dann – über die drei letzten Generationen hinweg - eine Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Person. (26) All diese Werte liegen deutlich über der gegenwärtigen durchschnittlichen Geburtenrate in Deutschland, die bekanntlich 1,3 Kinder pro Frau beträgt.

e. Konfessionszugehörigkeit

In Westdeutschland waren im Jahr 2004

19 % der Menschen nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft und 74 % Mitglied einer christlichen Kirche.

(In Deutschland insgesamt waren 2005
32 % der Menschen konfessionslos und 65 % Kirchenmitglieder,
da es in den ehemaligen atheistischen neuen Bundesländern schon seit Jahrzehnten
70 % Konfessionslose und nur 27 % Kirchenmitglieder gibt.)

Von den 1.124 befragten ehemaligen Waldorf-Schülern (die alle in Westdeutschland aufgewachsen sind), waren

43 % nicht Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft und 57 % waren Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft.

Die Nichtkirchlichkeits-Rate der ehemaligen Waldorf-Schüler ist also mehr als doppelt so hoch wie die Nichtkirchlichkeits-Rate der mit ihnen zu vergleichenden Durchschnittsbevölkerung in Westdeutschland. Überdurchschnittliche Nichtkirchlichkeits-Raten finden sich bei ihnen schon in den älteren, in den 1930er Jahren geborenen Jahrgängen. In den jüngeren Jahrgängen werden sie noch ausgeprägter.

Somit liegt ein Fall vor, der noch wenig oder gar nicht in "Religionswissenschaftlichen Studien aus evolutionärer Perspektive" ("Evolutionary Religious Studies") thematisiert und erforscht worden ist: Überdurchschnittliche Geburtenrate bei gleichzeitig (gegenüber dem Durchschnitt) doppelt so häufiger Konfessionslosigkeit.

f. Beruht der gesamtdemographische Effekt vorwiegend auf den konfessionell Gebundenen?

Im folgenden ist noch kritisch die Frage zu überprüfen, ob die Geburtenrate der kirchlich Gebundenen unter den ehemaligen Waldorf-Schülern so stark überdurchschnittlich ist, dass eine Geburtenrate der Konfessionslosen unter ihnen, die mit der Geburtenrate sonstiger Konfessionsloser in Deutschland übereinstimmen könnte, "verdeckt" sein könnte. Jedoch scheint auch dies nicht in besonders ausgeprägtem Maße der Fall zu sein. Dies soll anhand der weiteren Daten gezeigt werden. 

Von den 57 % Mitgliedern einer Kirche oder Religionsgemeinschaft unter den befragten 1.124 ehemaligen Waldorf-Schülern befanden sich:

55 % Mitglieder protestantischer Kirchen,
17 % Mitglieder der katholischen Kirche,
17 % Mitglieder der anthroposophischen "Christengemeinschaft" (gegründet 1922 zusammen mit Rudolf Steiner, ohne dass dieser selbst Mitglied wurde; nicht anerkannt von den offiziellen christlichen Kirchen in Deutschland),
10 % Mitglieder der jüdischen, buddhistischen und anderer Religionsgemeinschaften.

In den letzten Jahrzehnten hat es dabei einen Anstieg des zahlenmäßigen Anteils der Mitglieder der katholischen Kirche gegeben (jüngste Jahrgangsgruppe: 27 %) und einen Rückgang des zahlenmäßigen Anteils der "Christengemeinschaft" (jüngste Jahrgangsgruppe: 12 %).

g. Kirchenzugehörigkeit und positive Einstellung gegenüber der Lehre von Rudolf Steiner als demographisch vorteilhafte Faktoren

Es scheint keine ausgeprägten Unterschiede in der Identifikation mit der Lehre von Rudolf Steiner zu geben zwischen Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen unter den ehemaligen Waldorf-Schülern. Nur Mitglieder der "Christengemeinschaft" weisen eine auffällig höhere Identifikation mit der Lehre von Rudolf Steiner auf.

Von den 692 befragten ehemaligen Waldorf-Schülern mit Kindern waren 60 % Kirchenmitglieder und 40 % konfessionslos. Von den 352 befragten ehemaligen Waldorf-Schülern ohne Kinder waren 50 % Kirchenmitglieder und 50 % konfessionslos (20, S. 193). Leider erlauben es die bisher veröffentlichten Daten nicht, danach zu fragen, ob es unter den Konfessionslosen - bspw. - mehr Eltern mit Einzelkindern gibt als unter den Kirchenmitgliedern und ob - bspw. - "Christengemeinschafts"-Mitglieder deutlich stärker zu Mehrkind-Familien neigen als andere Gruppierungen. Durch solche Daten könnten die bislang schon aufzeigbaren Unterschiede, was Korrelation zwischen Elternschaft und Kirchenzugehörigkeit betrifft, noch prononcierter hervortreten. Gegenwärtig kann dazu aber nichts gesagt werden.

Von den 692 befragten ehemaligen Waldorf-Schülern mit Kindern standen 43 % der Lehre von Rudolf Steiner positiv gegenüber und 56 % nicht. Von den 352 befragten ehemaligen Waldorf-Schülern ohne Kinder standen 34 % der Lehre von Rudolf Steiner positiv gegenüber und 65 % nicht.

Das heißt: Sowohl Kirchenzugehörigkeit wie positive Einstellung gegenüber der Philosophie von Rudolf Steiner haben positive Effekte auf die Geburtenrate. Aber Kirchenzugehörigkeit hat immer noch mehr positive Effekte als die positive Einstellung gegenüber der Philosophie von Rudolf Steiner.

h. Religiöse Orientierung im allgemeinen Sinn

Auf den Satz „Der Gedanke an eine höhere kosmische Ordnung gibt mir Sinn und Orientierung in meinem Leben." antworteten im Fragebogen von den befragten 1.124 ehemaligen Waldorf-Schülern 58 % mit "Ja".

Diskussion

Die Geburtenrate von Kirchenmitgliedern unter den ehemaligen Waldorf-Schülern liegt über derjenigen von Kirchenmitgliedern unter ehemaligen Nicht-Waldorf-Schülern, und ist ebenso überdurchschnittlich bezogen auf die Gesamt-Geburtenrate in Deutschland. (Für Mitglieder der "Christengemeinschaft" könnten noch deutlich höhere überdurchschnittliche Geburtenzahlen angenommen werden.)

Jenes Ergebnis jedoch, das am meisten überrascht, ist das bezüglich der Konfessionslosen unter den ehemaligen Waldorf-Schülern. Sie scheinen nach den bisher veröffentlichten Zahlen eine Geburtenrate zu haben, die nur wenig unter der von kirchlich gebundenen ehemaligen Waldorf-Schülern liegt, und die damit ebenfalls nicht nur deutlich über der Geburtenrate von Konfessionslosen in der Normalbevölkerung liegt, sondern auch gegenüber der durchschnittlichen Geburtenrate von konfessionell Gebundenen unter der Normalbevölkerung.

Anders ausgedrückt: Die überdurchschnittliche Geburtenrate von anthroposophisch orientierten Menschen kann bei einem überdurchschnittlichen Anteil von Konfessionslosen unter ihnen nicht allein auf einer überdurchschnittlichen Geburtenrate der konfessionell Gebundenen unter ihnen beruhen, zumal die anteilmäßigen Unterschiede zwischen denen, die Kinder haben, zu denen die keine haben, in Bezug auf konfessionelle Einordnung nur um 10 % unterschieden sind, und zumal auch nur allein schon eine positive Einstellung zur Lehre von Rudolf Steiner positive Auswirkung auf die Geburtenrate hat.

Religionswissenschaftler Michael Ebertz hat die Befragung der ehemaligen Waldorf-Schüler auf ihre religiösen Aspekte hin ausgewertet. Seine Interpretation der Ergebnisse geht in die Richtung, dass er sagt (21), dass moderne Menschen zweierlei Formen von Religiosität kennen und leben (27). Die eine ist die institutionalisierte: Menschen sind Mitglieder von Kirchen. Die andere ist die so genannte „universelle Religion“ in dem Sinne des abgefragten „Glaubens an eine höhere kosmische Ordnung“. Er nennt letztere Form der Religiosität auch eine "vitalistische" Weltsicht, vielleicht in der geistigen Nähe von Ernst Haeckel's "Monismus" angesiedelt. Und Ebertz vermutet, dass die ältere Form der Religiosität (die institutionalisierte) heute oft überlagert ist von der zweiten Form der Religiosität, die sich in vielerlei Hinsicht von der ersten Form unterscheidet. Und die hier präsentierten Daten zeigen, dass offenbar auch diese zweite Form der Religiosität im Prinzip Auswirkungen hinsichtlich einer positiven Beeinflussung der Geburtenrate haben kann, zumal in einem solchen sozialen Umfeld, "Setting" wie desjenigen eines „anthroposophischen Lebensstils“.

Es könnte wichtig sein, auf den Umstand hinzuweisen, dass im Prinzip auch solche Formen von Religiosität wie sie etwa von Albert Einstein vertreten worden sind - und denen auch Atheisten wie Richard Dawkins aufgeschlossen gegenüber stehen (28) -, dass solche Formen von Religiosität im Prinzip auch künftig dazu befähigt sein können, solche "reproduktiven Regime" zu etablieren, wie sie notwendig sind, wenn das demographische - und damit kulturelle - Überleben der westlichen Welt und aller seiner emanzipatorischen Werte sichergestellt sein soll.


Ingo Bading, M.A., Berlin

(überarbeitet: 10.9.2011)

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*) Veranlassung und Motivation, sich auf die inhaltlichen Fragestellungen dieser Arbeit einzulassen, gaben vor allem Diskussionen mit Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume, Tübingen, sowie weiterführende Diskussionsbeiträge um die Jahreswende 2007/08 innerhalb eines sich um ihn bildenden, bislang nur informellen, an religionsbiologischen Fragen interessierten Diskussionskreises (Lars Fischer, Edgar Dahl, Ingo-Wolf Kittel und andere).


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Zitierte Literatur:

  1. Bading, Ingo: The reproductive benefits of an anthroposophic lifestyle. Auf: http://studgen.blogspot.com/2008/02/reproductive-benefits-of-anthroposophic.html ; die jeweils aktuelle deutsche Version auf: http://studgendeutsch.blogspot.com/2008/02/der-anthroposophische-lebensstil-als.html ; als pdf. hier: http://stores.lulu.com/Studium_generale
  2. Hamer, Dean: Das Gottes-Gen. 2007
  3. Wilson, David Sloan: Darwin's Cathedral. Evolution, Religion, and the Nature of Society. University of Chicago Press 2002
  4. Sosis, Richard: Teure Rituale. In: Gehirn & Geist, 10.12.2004, http://www.spektrum.de/magazin/teure-rituale/838840; siehe auch seine Publikationsliste: http://www.anth.uconn.edu/faculty/sosis/publications.html
  5. Blume, Michael; Ramsel, Carsten; Graupner, Sven: Religiosität als demographischer Faktor. Ein unterschätzter Zusammenhang? Marburg Journal of Religion, Vol. 11, No. 1, (June 2006) (freier Download im Netz)
  6. Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung. Springer-Verlag, Berlin 1953
  7. Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. Carl Hanser Verlag, München 2003
  8. Conway Morris, Simon: Jenseits des Zufalls. Wir Menschen im einsamen Universum. Berlin University Press, Berlin 2008. (engl. Untertitel genauer: Inevitable Humans in a Lonely Universe. Cambridge University Press 2003)
  9. Bading, Ingo: Vorstudien zu einer Vergleichenden Religionsdemographie. Auf Wissenschaftsblog „Studium generale“
  10. Blume, Michael: Anthroposophie - Religionsdemographische Betrachtungen von Ingo Bading. At: "Religionswissenschaft aus Freude", Wissenschaftsblog von Michael Blume, 20.02.2008, see here.
  11. Bading, Ingo: Die Atheisten in Deutschland sind stark "Männer-lastig". At: Scienceblog "Studium generale", 20.11.2007 (---> here)
  12. Salcher, Ernst: Ergebnisse der Befragung der Förderkreismitglieder der Giordano Bruno-Stiftung (Juli-September 2007) (pdf.) (free download: ---> here)
  13. Roland Unkelbach u.a.: Unterschiede zwischen Patienten schulmedizinischer und anthroposophischer Hausärzte. In: Forsch Komplementärmed 2006; 13:349–355, Published online: November 3, 2006
  14. Gunver S. Kienlea u.a.: Anthroposophische Medizin: Health Technology Assessment Bericht – Kurzfassung. In: Forsch Komplementärmed 2006; 13 (suppl 2):7–18
  15. Helen Flöistrup u.a.: Allergic disease and sensitization in Steiner school children. In: J Allergy Clin Immunol, January 2006, Available online November 29, 2005
  16. Harald J. Hamre u.a.: Anthroposophic vs. conventional therapy of acute respiratory and ear infections: a prospective outcomes study. In: Wien Klin Wochenschr (2005) 117/7–8: 256–268
  17. H. J. Hamre u.a: Anthroposophic therapies in chronic disease: the anthroposophic medicine outcomes study (AMOS). In: Eur J Med Res (2004) 9: 351-360
  18. Johan S Alm u.a.: Atopy in children of families with an anthroposophic lifestyle. In: Lancet 1999; 353: 1485 – 88
  19. Barz, Heiner; Randoll, Dirk (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. 2. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007 (St. gen.-Bookshop) [important parts of the text, introduction and formulars - all in german - can bee found at: http://www.hhu.de/waldorfabsolventen/]
  20. Randoll, Dirk; Barz, Heiner: Absolventenstudie zur Waldorf-Pädagogik (Deutschland). Tabellenband 1. (free download - pdf. ---> here.)
  21. Ebertz, Michael N.: Was glauben die Ehemaligen? (= What do believe people that have experienced Waldorf-education?) In: see 14., p. 133 – 160
  22. Hörtreiter, F.: Anthroposophie und christlicher Glaube. Eine Erwiderung auf Bernhard Grom SJ. In: Materialdienst der EZW 68/2005, S. 251 - 255 (---> here)
  23. Bading, Ingo: Anthroposophen: Akademiker-lastige Gruppierung mit leicht überdurchschnittlicher Geburtenrate. At: Scienceblog "Studium generale", 22.01.2008 (---> here)
  24. Bading, Ingo: Anthroposophen: Auch Neue (nicht-monotheistische) Religiosität in westlichen Gesellschaften erhöht Geburtenrate. At: Scienceblog "Studium generale", 15.2.2008 (---> here)
  25. Bading, Ingo: Auch die konfessionslosen anthroposophisch Orientierten haben eine überdurchschnittliche Geburtenrate. At: Scienceblog "Studium generale", 17.2.2008 (---> here)
  26. Bading, Ingo: Die positiven demographischen Auswirkungen eines anthroposophischen Lebensstils - Diskussion weiterer Details. At: Scienceblog "Studium generale", 26.2.2008 (---> here)
  27. Campiche, Roland J.: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung. Zürich 2004
  28. Dawkins, Richard: Der Gotteswahn. 2007

Sonntag, 24. Februar 2008

Die positiven demographischen Auswirkungen eines "anthroposophischen Lebensstils" - Diskussion weiterer Details

Der Anteil der Konfessionslosen an der Wohnbevölkerung in Westdeutschland (alte Bundesländer) betrug im Jahr 2004 19 %. 74 % der Wohnbevölkerung Westdeutschlands gehörten einer christlichen Kirche an. Das bedeutet, daß die Nichtkirchlichkeits-Rate der ehemaligen (westdeutschen) Waldorf-Schüler in der von mir behandelten Studie (siehe frühere Beiträge) doppelt so hoch ist wie die mit ihr zu vergleichende Nichtkirchlichkeits-Rate der sonstigen westdeutschen Durchschnittsbevölkerung. Das mußte noch nachgetragen werden.

Im Netz findet sich auch eine Grafik, die die konfessionelle Zugehörigkeit der Waldorf-Schüler in Nordrhein-Westfalen des Schuljahres 2006/2007 mit derjenigen der übrigen dortigen Schüler vergleicht. (Duisburgweb.de)

Überraschenderweise sind hier nicht - wie in der von mir behandelten Studie - 43 % der Waldorf-Schüler, sondern nur:
etwa 28 % konfessionslos. Und weiterhin:
etwa 30 % evangelisch
etwa 25 % katholisch und
etwa 17 % sonstige (anzunehmenderweise
inklusive Christengemeinschafts-Mitgliedern).
Also grob stimmt das Bild mit der von mir behandelten Waldorf-Absolventen-Studie überein. Daß hier die Konfessionslosen 15 % weniger Anteil haben, könnte ein Hinweis darauf sein, daß auch die "Ehemaligen" zu höheren Anteilen erst nach dem Verlassen der Schule aus der Kirche ausgetreten sind. Auf jeden Fall unterscheidet sich die konfessionelle Zusammensetzung der privaten Waldorf-Schulen auch noch ohne das zu erwartende künftige Austreten vieler derzeitiger Waldorf-Schüler deutlich von der aller anderen Schulen in Nordrhein-Westfalen.

Im Begleittext steht:
"Jede(r) Zehnte der rund 2 257 000 Schülerinnen und Schüler an den allgemein bildenden Schulen NRWs ist im derzeit laufenden Schuljahr konfessionslos. Wie das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik mitteilt, ist rund jede(r) Zweite katholisch, jede(r) Dritte evangelisch und jede(r) Neunte islamisch."
Auch hier dürfte die niedrigere Konfessionslosigkeits-Rate darauf zurückzuführen sein, daß die Entscheidung zum Kirchenaustritt meistens erst in einem späteren Lebensalter getroffen wird. Aber all das gab noch einmal Anregung, die Angaben im diesbezüglichen Beitrag von Michael Blume zu überprüfen. Dabei ergaben sich noch einige Korrekturen im Detail. - Das folgende ist im wesentlichen nur für "Pfennigfuchser".

Zunächst haben nur 61,6 %, nicht 66 % der Befragten Kinder. 31,3 % haben keine und 7,1 % haben dazu keine Angaben gemacht. (pdf.-Tabelle 1, S. 6)

Und wenn ich die hier zu konsultierende Tabelle richtig lese und noch einmal rechnerisch überprüfe, was doch ganz interessant ist, wie man dabei feststellen könnte, dann haben die 253 älter als 64-Jährigen unter den Befragten durchschnittlich 2,2 Kinder (also 39 + 174 + 174 + 60 + >70 / 253 - 8 = >2,11 ).

Die 236 älter als 50-Jährigen unter den Befragten haben durchschnittlich 2,0 Kinder.
(Also 40 + 188 + 90 + 68 + >60 / 236 - 9 = >1,96 )

Die 542 älter als 30-Jährigen haben durchschnittlich 0,9 Kinder.
(100 + 216 + 90 + 32 + >10 / 542 - 50 = 448/>492 = >0,9)
Aber diese 448 Kinder, bzw. 0,9 Kinder pro Person der über 30-Jährigen wird man doch wohl noch gut und gerne verdoppeln dürfen auf 896, also, sagen wir, auf 1,8 Kinder pro Person, wenn man grob abgeschätzt die hinzunimmt, die in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren noch geboren werden dürften.

Für die hier untersuchte Gruppe ergeben sich also insgesamt - bis zum Jahr 2004 - zwar "nur" 1,5 Kinder pro Person. (189 + 606 + 384 + 172 + >145 / 1.124 - 80 = >1.496/1.044 = >1,43)

Aber wenn man noch einmal 448 Kinder für die über-30-Jährigen zur Gesamtgruppe hinzuzählt, erhält man folgende Rechnung:

>1.496 + 448 / 1.044 = 1,9 Kinder pro Person.

(Wobei man ja wohl hoffen dürfte, daß der Fragebogen nicht zu häufig gleichzeitig an Eltern von den gleichen Kindern versendet worden ist, wodurch es natürlich zu Doppelzählungen von Kindern hätte kommen können.)

Diese Angaben von Michael stimmen:
Von den 106 befragten (oft älteren) Christengemeinschafts-Mitgliedern haben 78 % Kinder,
von den 352 befragten Protestanten haben 68 % Kinder,
von den 106 befragten (oft jüngeren) Katholiken haben 46 % Kinder.
Hat er aber daraus nun einen Mittelwert gebildet, um zu sagen, daß 70 % derjenigen, die einer Religionsgemeinschaft angehören, Kinder hätten und nur 60 % der Konfessionslosen? Oder welcher Tabelle und welchen Spalten auf den Seiten 193/194 entnimmt er diese Zahlen? Man kann es - soweit ich sehe - nach den dortigen Angaben nur umgekehrt formulieren (- so wie ich das auch getan hatte), man kann nur sagen: von denen, die Kinder oder keine Kinder haben, sind soundsoviel konfessionell gebunden und soundsoviel nicht.

Aber grob könnte natürlich auch diese 70%/60%-Angabe stimmen.

Sonntag, 17. Februar 2008

Auch die konfessionslosen anthroposophisch Orientierten haben eine überdurchschnittliche Geburtenrate

Ich hatte ausgeführt und dargelegt, daß die Absolventen von Waldorf-Schulen eine (gegenüber der Restbevölkerung) leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei (gegenüber der "Normalbevökerung") deutlich unterdurchschnittlicher Kirchlichkeitsrate aufweisen. (Stud. gen. 1, 2) Religionswissenschaftler Michael Blume aber will es noch einmal genau wissen und fragt in Kommentaren - hier und auf seinem Blog -, ob die überdurchschnittliche Geburtenrate nicht doch daran liegen könnte, daß eben der kirchlich noch gebundene Teil unter den befragten Waldorf-Schul-Absolventen eine etwaig bloß durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Geburtenrate der Konfessionslosen unter ihnen durch noch deutlich überdurchschnittlichere Geburtenrate kompensieren würde, so daß das Endergebnis doch - vornehmlich oder allein - auf sie, die kirchlich Gebundenen, zurückzuführen wäre.

Michael Blume fragt also (Relig.wiss.):
Gibt es z.B. demografische Unterschiede zwischen Ex-Waldorfschülern, die heute Mitglieder der Christengemeinschaft, einer anderen Kirche, des Islam oder konfessionslos sind?
Diese These müßte einen sehr deutlichen Unterschied voraussetzen zwischen dem Geburtenverhalten von anthroposophisch orientierten Konfessionslosen und Konfessionsgebundenen. Ich werde gleich zeigen, daß ein solcher nicht gar so besonders ausgeprägt vorzuliegen scheint. Aber Michael, Danke erst einmal für diese doch auch noch einmal sehr spannende und weiterführende Fragestellung.

60 % der Befragten haben Kinder

Wenn man sich die Daten daraufhin genauer anschaut und durchdenkt, werden einem die hier vorliegenden Verhältnisse noch ein bischen klarer. Die 5. Frage auf dem Fragebogen (pdf.) lautete:
"Wie viele Kinder haben Sie?"
Von den 1.124 Befragten haben 692 Befragte Kinder und 352 Befragte keine. (1, S. 6) Also 61 % haben Kinder, 30 % haben - z. T. noch - keine. Dabei ist nämlich beachten, daß 50 % der Befragten unter 40 Jahre alt waren (1, S. 2), also viele von den Jüngeren künftig noch Kinder haben werden. Und weiterhin ist zu beachten, daß in den jüngeren Jahrgängen - wie schon früher erwähnt - sich der Anteil der Religionszugehörigkeiten etwas verschoben hat, es sind mehr Katholiken geworden und (noch) weniger geworden, die der Christengemeinschaft angehören.

Zunächst nun der erste Befund: In ihrer Verbundenheit gegenüber der Anthroposophie unterscheiden sich konfessionslose Ex-Waldorf-Schüler und christliche Ex-Waldorf-Schüler kaum. (1, S. 137) Aber die Daten dazu scheinen nicht sehr genau ausgebreitet zu sein. Einzige deutlichere Ausnahme: Die Mitglieder der Christengemeinschaft, die in der Regel eine hohe Verbundenheit mit der Anthroposophie aufweisen. Es muß also derzeit für mich noch ungeklärt bleiben, ob gerade diese Gruppierung - im Vergleich zu allen anderen Ex-Waldorf-Schülern - noch einmal besonders betont Christen oder nicht doch viel eher besonders betont Anthroposophen sind. Das kann ein deutlicher Unterschied sein. Dazu weiter unten noch mehr. Jedoch zunächst weiter bei den Daten.

60 % der Eltern und 50 % der Kinderlosen sind konfessionell gebunden

Von den 692, die Kinder haben, gehören 60 % einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft an und 40 % keiner. (1, S. 193) (Wir erinnern uns, von den Absolventen insgesamt gehörten 57 % einer an und 43 % keiner.) Von den 352, die keine Kinder haben, gehören umgekehrt 50 % einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft an und 50 % keiner. (1, S. 193)

Noch ein weiterer, in unserem Zusammenhang weniger wichtiger Befund: Von den 692 Befragten mit Kindern stehen 43 % der Anthroposophie positiv bejahend gegenüber, 56 % indifferent und ablehnend. (1, S. 8) Von den 352 Befragten ohne Kinder stehen 34 % der Anthroposophie positiv bejahend gegenüber, 65 % jedoch indifferent und ablehnend. (1, S. 8) Das heißt also, daß auch die Bejahung der Anthroposophie sich positiv auf Kinderzahlen auswirkt, aber insgesamt nicht so eindeutig wie Kirchenmitgliedschaft. Auf letztere soll im weiteren vor allem eingegangen werden.

Alles, was man über anthroposophisch Orientierte liest und von ihnen sonst im Alltagsleben so erfährt, weist in die Richtung, daß auch für die (noch) kirchlich Gebundenen unter den Anthroposophen diese Kirchenzugehörigkeit selbst zumindest keine überdurchschnittliche Rolle spielt verglichen mit sonstigen (nicht anthroposophisch orientierten) kirchlich Gebundenen. (2) Aber diese letzteren weisen ja auch schon eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate auf.

Auch die Geburtenrate der Konfessionslosen unter den Anthroposophen ist untypisch für Konfessionslose an sich

Eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate insgesamt jedoch bei einem so überdurchschnittlich großen Anteil von Konfessionslosen muß mehr oder weniger zwangsläufig heißen, daß auch die Konfessionslosen unter den Waldorf-Schul-Absolventen eine Geburtenrate aufweisen, die deutlich über der sonstiger Konfessionsloser liegt und sich fast an konfessionell Gebundene annähert - - - wenn nicht die konfessionell Gebundenen unter den anthroposophisch Orientierten eine sich an die Geburtenrate von sonstigen Konfessionslosen annähernde Geburtenrate der Konfessionslosen durch überdeutlich starke Geburtenrate kompensieren würden. Genau das ist aber nun doch nur sehr wenig ausgeprägt der Fall wie man den oben angebenen Daten entnehmen kann. Eine so deutliche Scheidung in den Lebensstilen zwischen Konfessionslosen und Konfessionsgebundenen wie man sie dann voraussetzen müßte, findet man auch sonst wohl nirgends im Alltagsleben bei anthroposophisch orientierten Menschen vor.

(Leider kann man den bisher veröffentlichten Daten nicht auch noch entnehmen, ob etwa Konfessionslose mehr zu Einzelkindern und konfessionell Gebundene mehr zu mehreren Kinder neigen. Man muß sich zunächst mit den Daten begnügen, die veröffentlicht sind.)

Wie sind die Zahlen zu bewerten?

Also die Kirchenzugehörigkeit ist zwischen Ex-Waldorf-Schülern mit Kindern und ohne Kinder um 10 % verschoben. Ist das eine leichte oder eine deutliche Tendenz dahingehend, daß konfessionslose Waldorf-Absolventen weniger Kinder haben als konfessionell gebundene? Ich neige dazu, diese Tendenz als nicht sehr ausgeprägt zu beurteilen. Kann man aus dieser Tatsache also etwas Zuverlässiges ableiten? Soweit ich sehe nur die Tatsache, daß für das Geburtenverhalten bei anthroposophisch Orientierten Menschen insgesamt das Geburtenverhalten der konfessionell Gebundenen typischer ist als das der nicht konfessionell Gebundenen.

Man wird wohl so sagen können: Wenn die kirchlich Gebundenen unter den anthroposophisch Orientierten ähnliche Geburtenraten aufweisen wie auch nicht anthroposophisch orientierte kirchlich Gebundene, so haben zumindest die konfessionslosen anthroposophisch Orientierten eine Geburtenrate, die deutlich über sonstigen Konfessionslosen liegt. Das ist wohl die entscheidendere Erkenntnis dieses Beitrages. Sie haben ihren Anteil an der überdurchschnittlichen Geburtenrate der anthroposophisch Orientierten insgesamt zu großen Teilen nicht auf die konfessionell Gebundenen unter ihnen "abgewälzt". Und letzterer Umstand allein ist es wohl so mehr oder weniger, auf den es hier ankommt und um dessentwillen einem die Anthroposophen aus religionsdemographischer Sicht wichtig sein könnten.

Die merkwürdige "Christengemeinschaft"

Noch einige Angaben, die man den Tabellen zu Michael Blumes Fragestellung entnehmen kann: Von den 106 Katholiken haben 50 % Kinder und 50 % nicht. (1, S. 194) Der Anteil der Katholiken ist aber in den jüngeren Jahrgängen höher, wodurch man diese Zahlen als nicht sehr aussagekräftig einschätzen kann. Von den 352 Protestanten haben 68 % Kinder und 32 % keine.

Aber nun: Von den 106 zur Christengemeinschaft Gehörigen haben sogar 84 Kinder und 19 keine. (1, S. 194) Diese letztere Tatsache finde ich doch recht bemerkenswert und aussagekräftig. Sie widerlegt meiner Meinung nach mehr oder weniger deutlich die von mir im früheren Beitrag zitierte Vermutung von Michael Ebertz, daß die Christengemeinschaft "Nachwuchsprobleme" hätte. Vielleicht entscheiden sich von diesen aus irgendwelchen Gründen heute nur weniger als früher für den Besuch von Waldorf-Schulen? - Da stochert man bei den bisherigen Zahlen wohl noch im Nebel herum. (Auch hier wiederum ist zu berücksichtigen, daß die zur Christengemeinschaft Gehörigen mehr den älteren als den jüngeren Jahrgangs-Stufen angehören.)

Mehr kann man zur Zeit aus den veröffentlichten Daten dieser Studie, soweit ich sehe, für die hier interessierenden Fragestellungen nicht ableiten. Viele abgefragte Eigenschaften werden in der tabellarischen Aufschlüsselung nicht mit Kinderzahl abgeglichen, wodurch wichtige Erkenntnismöglichkeiten versperrt bleiben.

Aber das, was man eben hier schon sehen kann, schwächt meine bisherige These nicht sehr deutlich ab, sondern präzisiert sie noch. Vielleicht tragen die Konfessionslosen unter den anthroposophisch Orientierten weniger zur überdurchschnittlichen Geburtenrate derselben bei als die konfessionell Gebundenen. Aber sie tragen doch wohl ziemlich eindeutig zu ihr bei. Und das ist ein Umstand, der sonst wohl noch nicht für Konfessionslose hat nachgewiesen werden können.

Noch einmal allgemeiner zu Michael Blumes Überlegungen

Michael Blume schrieb auch (Relig.wiss.):
Ein muslimisches oder buddhistisches Kind wird durch den Besuch eines evangelischen Kindergartens doch auch nicht automatisch evangelisch.
Auch von dem - bislang wohl noch sehr unwahrscheinlichen - Fall eines muslimischen oder buddhistischen Kindes, das einen Waldorf-Kindergarten besucht, auch von diesem wird man, wie ich denke, schon von vornherein bestimmte Eigenschaften annehmen, die man auch bei Kindern dieser Herkunft allgemein nicht annehmen wird, wenn sie beliebige andere Kindergärten besuchen. Will heißen: Interesse für Waldorf-Schulen oder -Kindergärten ist eben bisher doch ein sehr starker "Selektionsfaktor" auf bestimmte Eigenschaften hin, und zwar auf solche, die auch mit Religiosität und Spiritualität zu tun haben, wie ja die Studie aufgezeigt hat. Nur eben sehr viel weniger mit "traditionellen" Formen derselben.

Weniger "Lehrgebäude" als "Lebensgefühl"

Alle Daten deuten darauf hin, daß diese Menschengruppe der der Anthroposophie und den Waldorf-Schulen Nahestehenden viel weniger durch ein bestimmtes "Lehrgebäude" oder etwas ähnliches definiert ist, sondern eher durch ein Lebensgefühl, eine Welthaltung. Und zwar ist das eine Gemeinsamkeit, die eben doch eindeutig überkonfessionell ist. Ich kennzeichnete es schon ziemlich platt - aber, wie ich finde, immer noch treffend mit den Worten: "Öko, Öko, Öko, Birkenstock, Birkenstock, Birkenstock."

Dieser Umstand wird auch recht hübsch durch die Tatsache illustriert, daß die Hälfte der Befragten mit einer politischen Partei sympathisieren und davon wiederum die Hälfte mit "Bündnis 90/Die Grünen". - Wer hätte das wohl - - - nicht gedacht? ;-) Und ein weiteres Viertel davon sympathisiert mit der SPD. (1, S. 202) Also in diesen Bereichen von "Lebensgefühl" wird eher die gemeinsame Identität und Religiosität dieser Gruppierung gesucht werden müssen, als in einem präziser umrissenen überkommenen christlichen Glaubensbekenntnis oder in präziser umrissenen christlichen, religiösen Haltungen.

"Dualisierung der Religion"

Michael Ebertz hat seine Ergebnisse in einem breiteren religionssoziologischen Rahmen interpretiert, nämlich in dem Denkrahmen von der modernen "Dualisierung der Religion", also dem Auseinanderklaffen von "institutioneller Religion" und "universaler Religion". Er zitiert dafür einen Roland Campiche (3). Vielleicht sollte man eher sagen, von der "Überschichtung" von traditioneller Religiosität durch neue religiöse Vorstellungen. So verweist Ebertz auch auf eine frühere Allensbach-Studie, wonach viele Menschen, die sich als Christen bezeichnen, an eine Wiedergeburt glauben, ohne sich überhaupt oft bewußt zu sein, daß das gar nichts mehr mit Christentum zu tun hat. (2, S. 148f) Und Ebertz interpretiert die Waldorf-Umfrage-Ergebnisse dahingehend, daß die Ex-Waldorf-Schüler nicht besonders stark durch *irgendeine* institutionelle Religion geprägt sind (auch nicht insgesamt gesehen im engeren Sinne durch die Anthroposophie), sondern zunächst einmal vor allem durch die sogenannte ("überschichtete") "universale Religion".

"Insider" bei den Anthroposophen - hier der Hamburger Christengemeinschafts-Pfarrer F. Hörtreiter (4) - formulieren, so zitiert Ebertz, daß es "bei uns viel Anarchie und Individualismus" gäbe. (2, S. 144) Also eigentlich alles eher typische Eigenschaften von Konfessionslosen und Atheisten - aber eben dennoch auch mit der aufgezeigten überdurchschnittlichen Geburtenrate.

Ich glaube, es wird gar nicht so ganz einfach sein, ähnlich fest umrissene Gruppierungen wie die hier behandelten Ex-Waldorf-Schüler oder die Patientengruppen von anthroposophischen Ärzten zu finden, von deren "universaler Religion" man so einfach wie bei dieser Gruppierung nachweisen könnte, daß diese auch bei Konfessionslosen überdurchschnittliche Geburtenrate bewirkt und mit sich bringt.
___________________

1. Randoll, Dirk; Barz, Heiner: Absolventenstudie zur Waldorf-Pädagogik (Deutschland). Tabellenband 1. (frei herunterladbar als pdf. ---> hier.)
2. Ebertz, Michael N.: Was glauben die Ehemaligen? In: Barz, Heiner; Randoll, Dirk (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. 2. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007 (St. gen.-Buchladen), S. 133 - 160 [wesentliche Auszüge - der Fragebogen, alle Rohdaten und die Einleitung - auch auf: www.waldorf-absolventen.de]
3. Campiche, Roland J.: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung. Zürich 2004
4. Hörtreiter, F.: Anthroposophie und christlicher Glaube. Eine Erwiderung auf Bernhard Grom SJ. In: Materialdienst der EZW 68/2005, S. 251 - 255 (im Netz siehe hier)

Samstag, 16. Februar 2008

Neue Religiosität

Meine Forschungen zur Beeinflussung der Geburtenrate durch die "Lebensreform-Bewegung" und durch "Neue Religiosität", das heißt, zum demographischen "Wettbewerb der Religionen" (Stud. gen. 1, 2), darunter neuerdings als erste Fallstudie zu den Anthroposophen (Stud. gen. 1, 2, 3), veranlassen mich, die Beiträge hier auf dem Blog detaillierter zu ordnen und zu kategorisieren und dazu eine neue Katergorie einzuführen, benannt ---> "Neue Religiosität". Diese Kategorie orientiert sich an den Themen des "Arbeitskreises zur Geschichte neuer Religiosität im 20. Jahrhundert", gegründet von Prof. Stefanie von Schnurbein und Dr. Justus H. Ulbricht. (siehe Stud. gen.). *)

Aber derartige Dinge veranlassen einen doch weiterzudenken: Wie ordnet sich eigentlich ein solches Phänomen wie "Neue Religiosität", von dem ich - im Prinzip - glaube, gezeigt zu haben, daß es dazu befähigt ist, ein neues "demographisches Regime" zu etablieren (also eine neue "Bevölkerungsweise" im Sinne von Gerhard Mackenroth), wie ordnet sich ein solches Phänomen in die geschichtliche Entwicklung etwa der letzten 400 Jahre ein? Ich ordne die wesentlicheren geistigen Tendenzen der letzten 400 Jahre, die zeitlich nacheinander aber auch parallel und sich gegenseitig ergänzend und abstoßend das Denken der aufgeweckteren Menschen ihrer Zeit bestimmten, in der Weise, daß ich sage:

Auf das Vorherrschen eines äußerst erfolgreichen alten "religions-demographischen Regimes" (einer religiös bestimmten und durch Religion stabilisierten "Bevölkerungsweise") folgte geschichtlich gesehen eine lange, schwierige Phase von Versuchen und Mißerfolgen, um auf die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen in allen Bereichen von Theorie und Praxis neue religiöse, philosophische und weltanschauliche Antworten zu geben. Das heißt, es fand und findet Selektion statt auf Gen- und Mem-, sowie auf individueller und Gruppenebene, wobei die "evolutionär erfolgreiche Anpassung" mehr oder weniger eindeutig gelingt oder mißlingt. Den Atheisten weltweit ist sie bislang jedenfalls eindeutig mißlungen. Und dabei (und dadurch) kam es auch zu den "Urkatastrophen" des 20. Jahrhunderts, zu denen nun zuletzt auch der demographische Niedergang der westlichen und verwestlichten Gesellschaften unserer Zeit gezählt werden muß.

Atheismus bewirkt den demographischen Niedergang

Eine solche Gruppierung wie die der Anthroposophen zeigt aber nun - zumindest für mich - auf, daß es prinzipiell möglich ist - und deshalb sicherlich mit geschichtlicher Notwendigkeit früher oder später günstigstensfalls auch geschehen wird und muß -, daß sich durch die Ausbreitung "Neuer Religiosität" (also neuer "Meme") in westlichen und verwestlichten Gesellschaften sich ein neues "religions-demographisches Regime" etabliert, das befähigt ist, die kulturelle Entwicklung der westlichen Gesellschaften der letzten 400 Jahre weiterzuführen, statt sie zusammenbrechen und beenden zu lassen. Dies wäre die erforderliche "Mindestproduktion innovativen Wandels", die es nach Joseph A. Tainter geben müßte, um komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften vor dem Zusammenbruch zu bewahren und ihre Fortexistenz sicherzustellen. (Stud. gen.-Buchhandlung)

Es wäre ja doch ein hochgradiger Widersinn, daß es eine Wiederbelebung geschichtlich und geistig längst überwundener Formen von Religiosität sein sollte, die die westlichen Gesellschaften vor dem demographischen Zusammenbruch retten könnte. Daß darauf derzeit noch so viele Menschen starren und hoffen, zeigt das ganze Ausmaß an geistiger Unflexibilität unserer Zeit auf. - Jedenfalls: Aus solchen und weiteren Überlegungen ergäben sich grob die folgenden fünf Phasen in der "religions-demographischen Geschichte Europas" der letzten 400 Jahre:

1. Vor 1600: Das Vorherrschen "alter Religiosität" (des Christentums).

2. Seit etwa 1600: Kritik an der alten Religiosität (also die "Religionskritik" seit der "Aufklärung" bis zum Bestseller "Gotteswahn" von Richard Dawkins).

3. Seit etwa 1750: In der städtischen Bildungsschicht erste und vielfältige Artikulationen eines vollwertigen Ersatzes für die alte Religiosität (siehe etwa: Giordano Bruno, Naturwissenschaft, französische "Vernunftreligion", deutsche Klassik, deutscher Idealismus, deutsche Romantik - insbesondere Friedrich Hölderlin -, künstlerisches und kulturelles Schaffen in Europa etwa zwischen 1750 und 1950, umfassendere Lebensreform-Bewegungen im 20. Jahrhundert)

4. Seit etwa 1917: entseelte und zutiefst unmoralische Versuche der Etablierung von Lebensreform und "neuer Religiosität" durch die "politischen Religionen" des 20. Jahrhunderts: Kommunismus, Nationalsozialismus, Kapitalismus, Neoliberalismus und Atheismus, sowie moderne, gänzlich entseelte und moralisch völlig verflachte Entwicklungen auf allen Gebieten der Kultur und des Alltagslebens.

5. Seit etwa 1920 (und in starker Reaktion auf 4.): "Neue Religiosität" auf der Grundlage eines konsequent naturalistischen Weltbildes aber bei gleichzeitigem Leben und Formulieren einer mindestens hinlänglich vorbildlichen Moral und Ethik ("Prinzip Verantwortung"). (In vielerlei Ansätzen zu finden bei: Anthroposophen, Wandervögeln, bei Werner Heisenberg, Albert Einstein, Hans Jonas, Nicolai Hartmann, Konrad Lorenz, Adolf Portmann, Sigrid Hunke, Dieter Henrich, Hoimar von Ditfurth, Paul Davies, Richard Dawkins, David Sloan Wilson, Edward O. Wilson, John Leslie und vielen anderen mehr.)
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*) Gleichzeitig habe ich die Kategorie "Monotheismus" umbenannt in "Alte Religiosität [Monotheismus]" und die inzwischen zur Allerwelts-Kategorie aufgeblähte Kategorie "Religiosität" entschlackt und unbenannt in "Religiosität allgemein".

Freitag, 15. Februar 2008

Anthroposophen: Auch Neue (nicht-monotheistische) Religiosität in westlichen Gesellschaften erhöht Geburtenrate

Religionswissenschaftler Michael Blume vermutete gelegentlich in verstreuten Diskussionen, daß die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der Anthroposophen (St. gen. 1, 2) darauf zurückgeführt werden könnte, daß sie betonter als die Durchschnitts-Bevölkerung christlich-religiös wären. (Blume, Abgefischt 1, 2, 3) Er erwähnt, daß Rudolf Steiner selbst eine "Christengemeinschaft" gegründet hätte, die heute noch fortbesteht. Zu ergänzen ist zu letzterem zunächst, daß Rudolf Steiner selbst dieser Christengemeinschaft offenbar nie beigetreten ist. (1, S. 137)

Die religionssoziologische Literatur zu den Anthroposophen zeichnet nun aber doch ein wesentlich vielschichtigeres Bild, als offenbar von Michael vermutet. (1) 1.124 frühere Absolventen von Waldorf-Schulen wurden Ende 2004, Anfang 2005 - auch - zu ihrer religiösen Orientierung befragt (1, S. 134ff). (pdf.)

Die Kompliziertheit der bezüglich einer solchen Menschengruppe wie den Anthroposophen vorliegenden Verhältnisse wird zunächst besonders verdeutlicht durch die Tatsache, daß 60 % der Waldorfschul-Absolventen der Anthroposophie selbst indifferent, skeptisch oder negativ gegenüber stehen! (!!!) (1, S. 137) Und dennoch würden 80 % der Befragten wieder auf eine Waldorf-Schule gehen. (1, S. 139) (!!!) Also offenbar liegt hier, wie von mir schon vermutet, eine religionsdemographische Untersuchungs-Gruppe vor, deren Gemeinsamkeit vor allem erst einmal nur in einem gewissen Lebensgefühl besteht (z.B. "Öko" und "Birkenstock") und viel weniger in der Orientierung an einer bestimmten festumrissenen Ideologie, Weltanschauung oder Religion.

43 % Kirchenfreie unter den Waldorf-Schul-Absolventen - Tendenz steigend

Da man nun schon der Anthroposophie selbst so indifferent gegenüber steht, werden sich diese Umstände noch einmal verstärkt kundtun im Verhältnis zu den überkommenen christlichen Religionen. Hierzu einige Daten:

Während es
- in Deutschland insgesamt im Jahr 2005
32 % Kirchenfreie (Konfessionslose) und 65 % Kirchenmitglieder unter der Bevölkerung gab,
- in den neuen Bundesländern jedoch
70 % Kirchenfreie und 30 % Kirchenmitglieder,
gab es unter den 2004/05 befragten früheren Absolventen von Waldorf-Schulen (alles Westdeutsche):
43 % Kirchenfreie und 57 % Kirchenmitglieder. (1, S. 134f) Also eine Kirchlichkeitsrate, die ziemlich genau auf der Mitte zwischen all den "Namenschristen" der alten Bundesländer und all den "Atheisten" der neuen Bundesländer angesiedelt ist.

Ich denke also, Michael wird einige Gehirn-Akrobatik aufwenden müssen, um eine gegenüber der Normalbevölkerung leicht überdurchschnittliche Geburtenrate durch eine gegenüber der Normalbevölkerung deutlich unterdurchschnittliche Kirchlichkeitsrate erklären zu können.

Dabei ist noch festzustellen, daß die Nichtkirchlichkeitsrate unter den Anthroposophen (bzw. hier: Waldorfschul-Absolventen) zu steigen scheint, daß sie aber schon bei den älteren Jahrgängen überdurchschnittlich hoch war. Bei den 30 - 37-Jährigen lag sie im 2004/05 bei 47 % Kirchenfreie (53 % Kirchenmitglieder), während schon die älteren Jahrgänge (62 - 66-Jährige) eine gegenüber der heutigen Durchschnittsbevölkerung überdurchschnittlichen Anteil an Kirchenfreien/Konfessionslosen aufwiesen: 38 % Konfessionslose gegenüber 62 % Kirchenmitgliedern.

Also noch einmal wiederholt: Die Waldorfschul-Absolventen der letzten Jahrzehnte weisen (anzunehmenderweise) eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei zugleich leicht bis deutlich unterdurchschnittlicher Kirchlichkeitsrate auf. Sie stehen was Kirchenmitgliedschaft betrifft, zwischen der Durchschnittsbevölkerung der alten und der der neuen Bundesländer, und zwar auch schon die älteren Jahrgänge. Und zwar obwohl sie in ihrer weit überwiegenden Mehrheit Bewohner der alten Bundesländer sind. Von einer betonteren Nähe zu Kirche und Christentum scheint hier nirgends die Rede sein zu können.

Nachwuchsprobleme der anthroposophischen "Christengemeinschaft"

Aber noch weitere Tatsachen können Hinweise geben:

Von den Kirchenmitgliedern unter den Waldorfschul-Absolventen (also von den genannten 57 %) gehören
55 % protestantischen Kirchen
17 % der katholischen Kirche
17 % der (schon eingangs genannten anthroposophischen) "Christengemeinschaft" und
10 % jüdischen, buddhistischen und anderen Glaubensgemeinschaften an. (1, S. 136)

Bei den jüngeren Jahrgangsgruppen ist nun aber auffälligerweise der Anteil der Mitglieder bei der "Christengemeinschaft" auf 12 % gesunken, der Anteil der Katholiken jedoch auf 27 % gestiegen. "Was auch," wie die Studie vermutet, "auf erhebliche Nachwuchsprobleme dieser Weltanschauungsgemeinschaft" (nämlich der Christengemeinschaft) "schließen läßt". (1, S. 137)
[Achtung, die folgenden beiden Absätze sind unklar, deshalb verkleinert. Die Dinge werden in einem späteren Beitrag besser geklärt. Genaueres dazu siehe ---> hier.]
Es drängt sich also auch hier der Eindruck auf: Die von Michael genannte "Christengemeinschaft" selbst und eine betont christliche Orientierung unter Anthroposophen scheinen es nicht zu sein, die ihre leicht überdurchschnittliche Geburtenrate hervorrufen. Wie denn auch, wenn es offenbar die etwa 20.000 Mitglieder der "Christengemeinschaft" in Deutschland sind, also offenbar der "Kerntruppe" der christlich Gesonnenen unter den Anthroposophen, die die deutlichsten Nachwuchsprobleme unter ihnen haben. Wenn die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der Anthroposophen auf eine betontere Christlichkeit zurückzuführen sein sollte, dann sollte doch genau dieser Umstand noch einmal am Mitgliederzuwachs der "Christengemeinde" zusätzlich deutlich und prägnant festzustellen sein.
Aber genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Viel mehr:
Es eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei überdurchschnittlicher und stetig wachsenden Anteilen von Konfessionslosigkeit.
Ich denke, diese Tatsachen sind ausreichend, um die Hypothese (von Michael) zurückzuweisen, es wäre eine überdurchschnittliche Christlichkeit, die die überdurchschnittliche Geburtenrate bei den Anthroposophen hervorruft.


Aber welche Art von Religiosität könnte es dann sein, die das typische Lebensgefühl von anthroposophisch orientierten Menschen (hier: Waldorfschul-Absolventen) ausmacht? Dies wird in den weiteren Ausführungen der Studie etwas verdeutlicht. Es sind bei der Befragung von 2004/05 auch Aussagen abgefragt wie die folgenden: "Der Gedanke an eine höhere kosmische Ordnung gibt mir Sinn und Orientierung in meinem Leben." Dieser Satz wird von 58 % der Befragten bejaht. (1, S. 141) Weiterhin werden Wiedergeburts-Glaube, Karma-Glaube, "Existenz höherer Wesensglieder" und "meditative/kontemplative Erfahrung" abgefragt jeweils mit hier nicht genauer aufzuschlüsselnden - aber interessanten - Ergebnissen.

Und im "Ausblick" der hier benutzten Studie heißt es noch deutlicher:
"Auf dem Hintergrund der hier vorgelegten Analyse vermute ich unter den Befragten neben einigen (wenigen) christlichen und nicht-christlichen Theisten, die an eine höhere, außerweltliche Macht glauben, zu der jeder einzelne eine Beziehung aufbauen kann, eine - je jünger sie sind - starke Majorität an so genannten 'Vitalisten', welche die persönliche Existenz durch Wiedergeburt in einem Kreislauf des Lebens und der Natur eingespannt sehen und den Sinn des Lebens in ihm selbst sehen." (1, S. 158)
Fazit: Die Anthroposophen wird man in ihrer Gesamtheit keineswegs als prononciert oder überdurchschnittlich durch Monotheismus geprägte Menschen ansehen können. Und auch ihre leicht überdurchschnittliche Geburtenrate wird man deshalb auf andere Ursachen zurückführen müssen, als gerade auf eine solchartige Prägung.

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Abschließend noch einmal Originaltext der Studie:
"Läßt die Gesamtbevölkerung in Deutschland aller religiösen und weltanschaulichen Pluralität zum Trotz immer noch eine ziemlich klare Präferenz für das Christentum und die beiden großen Konfessionskirchen erkennen, zumindest was die formale Zugehörigkeit angeht, wird man hiervon bei den ehemaligen Waldorfschülerinnen und -schülern immer weniger ausgehen können. Sie stellen keinen religiöse Mikrokosmos der religiösen Landschaft in Deutschland dar. Eine starke Minderheit, nämlich gut zwei Fünftel der Befragten, ist religiös nicht organisiert (43 %); je jünger die Befragten sind, desto geringer ist dere Anteil der religiös Organisierten (30 - 37jährige: 53%). Diese machen bei den älteren Alterskohorten immerhin noch zwei Drittel aus (62-66jährige: 62%). (...)

Die Nähe und Ferne zur Anthroposophie scheint hierbei in keinem signifikanten Zusammenhang zu stehen; die Wahrscheinlichkeit ist nur etwas größer, unter den der Anthroposophie nahe stehenden Absolventinnen und Absolventen auch auf religiös Organisierte zu stoßen. (...) Mehr Frauen (60 %) als Männer (52 %) unter den Befragten gehören einer Religionsgemeinschaft an."

"Bereits die vergleichsweise schwache konfessionelle Bindung der ehemaligen Waldorfschüler weist darauf hin, daß sie - jedenfalls ein Großteil unter ihnen - nicht zum Pol der institutionalisierten Religion tendieren."

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Benutzte Literatur:

1. Ebertz, Michael N.: Was glauben die Ehemaligen? In: Barz, Heiner; Randoll, Dirk (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. 2. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007 (St. gen.-Buchladen), S. 133 - 160 [wesentliche Auszüge - der Fragebogen, alle Rohdaten und die Einleitung - auch auf: www.waldorf-absolventen.de]

Mittwoch, 13. Februar 2008

Zu welchen Anteilen stammen die aschkenasischen Juden von deutschen Frauen ab?


Zu Jon Entine - "Abraham's Children" (2007)


Das Buch von Jon Entine "Abraham's Children - Race, Identity, and the DNA of the Chosen People" (2007) ist eine etwas zeitaufwendigere Lektüre (400 Seiten). (siehe auch Stud. gen. 1, 2, 3) *) Ich habe alle Kapitel gründlicher durchgesehen und hoffe, nichts Wesentlicheres übersehen zu haben. Schon von Entine's Buch "Taboo" aus dem Jahr 2000 kann einem bekannt sein, daß bei Entine an den unauffälligsten Stellen die interessantesten Dinge stehen können, während er andererseits wohl als ein Autor bezeichnet werden darf, der sehr redselig schreiben kann, wobei dann nicht immer alles auf dem gleichen Niveau intellektueller Reflektiertheit stehen muß, was er schreibt.

Aber auch wenn dieses neue Buch wieder viele Anekdoten und Anekdötchen enthält, so möchte ich doch meinen, daß es kaum eine wesentliche "take away"-Botschaft vermittelt, die man nicht schon aus anderen Büchern und Veröffentlichungen hätte mitnehmen können. Freilich hat Entine erfreulicherweise einen schönen neuen Überblick gegeben, in dem fast jeder wesentliche Aspekt des Themas und fast jeder bedeutendere beteiligte Wissenschaftler bei der Erforschung des Themas wenigstens einmal irgendwo erwähnt worden ist. Auch die dazu gehörige wissenschaftliche Literatur ist dann jeweils genannt.


Eine gehörige Portion Stolz

Ganz ohne Zweifel spielt eine gehörige Portion Stolz mit, wenn Jon Entine - selbst kaum noch gläubiger Jude - die Geschichte seines Volkes vom genetischen Standpunkt aus "rekapituliert". So finden sich beispielsweise über das ganze Buch verteilt gleich drei Fallbeispiele von Menschen, die bis vor kurzem gedacht hätten, sie wären Nichtjuden, und die aufgrund von DNA-Tests herausbekommen haben, daß sie genetisch (auch) von Juden abstammen.

Badische Weinkönigin 2007/2008 - Andrea Köninger (Bildmitte)

Sicherlich war das im Dritten Reich und anderswo ziemlich nachteilig, derartiges herauszubekommen. Aber warum Jon Entine so geneigt ist, solche Einzelfälle so besonders herauszustellen, kann ich mir nur mit einem gewissen Stolz auf sein eigenes Volk und dessen "besondere" Genetik erklären.

Da ist der mexikanische, im wesentlichen spanisch-stämmige katholische Priester William Sanchez in Santa Fe (S. 13 - 25), der, nachdem er den jüdischen "Priester-Haplotyp" ("Cohanim-Haplotypen") auf seinem Y-Chromosom festgestellt hat (mithilfe der Firma "Family Tree DNA"), laut Entine so einigermaßen stolz äußert: "Being a priest runs in my family." Und dazu weiß dann Entine noch allerhand anderes zu zitieren und zu formulieren. Es scheint, als stamme Sanchez zusammen mit vielen weiteren spanisch-stämmigen Mexikanern in seiner Verwandtschaft von "Krypto-Juden" ab, die wegen der katholischen Inquistition gegen die spanischen Juden in früheren Jahrhunderte ihr Judentum verleugneten, bzw. nach Nordmexiko geflüchtet sind und dort ihre jüdische religiös-kulturelle Identität schrittweise - aber bis heute nie vollständig - verloren hatten. Aber auffällig häufen sich auch in diesen Familien die typisch jüdischen Erbkrankheiten wie Brustkrebs und andere.


Da ist der katholische, polnisch-stämmige Rechtsanwalt Cezary Fudali aus Ottawa in Kanada, der mit Hilfe der Firma "Family Tree DNA" herausbekommt, daß er nicht (nur) von Polen abstammt, sondern daß seine Großmutter als Kind einer jüdischen Mutter von Polen adoptiert worden war. (S. 267 - 269) - Ein streng gehütetes Familiengeheimnis bis vor wenigen Jahren. Und nun fragt sich dieser Rechtsanwalt laut Entine: "Is there a god for me?" Als wäre es selbstverständlich, daß wenn man jüdische Gene hätte, man auch eine besonderen Bezug zum jüdischen Gott hätte oder haben müsse. Die Selbstverständlichkeit, mit der Entine solche Überlegungen wiedergibt, leuchtet mir nicht so ganz ein, zumal doch Entine selbst sich gar nicht mehr als gläubig ansieht. Aber den überkommenen jüdischen Gott scheint er mit viel Liebe zu betrachten und er scheint ihn doch auch heute noch - "irgendwie" - für wichtig zu halten und stolz auf ihn zu sein. (Manchmal genügt für die Wahl einer Religion vielleicht wirklich nur "Nationalstolz" und Patriotismus? ...) (Das ist ungefähr so, als wäre man als Deutscher stolz darauf, wenn man feststellt, daß man - wohlgemerkt: in männlicher Linie - von irgendeiner germanischen Wotans- oder Odins-Priesterschaft abstammen würde und von daher plötzlich einen "neuen Gott" für sich entdecken würde ...)

Da ist die berühmte Gen-Pionierin Marie-Claire King, die im Jahr 1990 das erste Brustkrebs-Gen entdeckte, ausgerechnet jenes, das so viel Unheil gerade im jüdischen Volk anrichtet. Die genetischen Forschungen an ihrer eigenen Person bringen zu ihrer Überraschung auch jüdische Gene zum Vorschein, wiederum ein streng gehütetes Familiengeheimnis. In den bei solchen Dingen oft etwas schwülstig erscheinenden Worten von Jon Entine hätte sie entdeckt die "Jewish American Princess" in sich ... (S. 282 - 289).

Erbkrankheiten aufgrund von Intelligenz-Evolution?

Diese "besondere" "jüdische Genetik" - das verschweigt Entine keineswegs, sondern diskutiert es breit - bringt also auch eine nicht selten sehr heftige familiäre Häufung von schweren Erbkrankheiten mit sich. In der eigenen Familie von Jon Entine beispielsweise sind gleich mehrere nahestehende Verwandte an Brustkrebs und ähnlichen Krankheiten oft schon in frühem Lebensalter gestorben, wie er berichtet.


Da muß es einen Wissenschafts-Interessierte wie Jon Entine natürlich besonders interessieren, wenn im Jahr 2005 diese besondere Häufung von bestimmten Erbkrankheiten im jüdischen Volk erklärt wurde durch eine parallele Anhäufung von Intelligenz-Genen in demselben. Denn auch bezüglich vieler anderer Erbkrankheiten nimmt man inzwischen "stabilisierende Selektion" für diese an, wenn sie in einer größeren Häufigkeit in einer Population vorkommen, das heißt, sie können nicht nur nachteilig für diese Population gewesen sein, sondern müssen mit irgendwelchen Vorteilen verbunden, an Vorteile gekoppelt gewesen sein, sonst wären sie nicht so weit verbreitet. Die diesbezügliche Theorie von Cochran und Harpending, die auch schon mehrmals hier auf dem Blog diskutiert wurde, war sicherlich der Hauptauslöser zum Schreiben und Veröffentlichen dieses neuen Buches von Jon Entine.

Die neue "Rasseforschung" in der Humangenetik

Dieses Buch ist also eine große Sammlung von "Geschichten, die das Leben schrieb", die die Wissenschaft schrieb, und die die Weltgeschichte (bzw. Humanevolution) selbst schrieben. Der Autor hat "Dutzende" von Humangenetikern weltweit zur Thematik gesprochen und interviewt. So wird zum Beispiel viel Raum gegeben den persönlichen Geschichten der Humangenetiker, die den jüdischen "Priester-Haplotypen" entdeckten. Diese Geschichten werden geradezu "zelebriert", wie mir scheint, und was mir wiederum sehr auffällig vorkommt. "Blut" scheint für Jon Entine immer noch "ein ganz besonderer Saft" zu sein, insbesondere wenn es sich um jüdisch-orthodoxe Priester handelt.

Aber erst aus einer ganz anderen als aus der bloß auf alles "Jüdische" fokussierten Lese-Perspektive heraus könnte man, wie ich meine, die wirkliche Bedeutung dieses Buches erkennen. Meiner Meinung sollte es gar nicht in erster Linie als eine populärwissenschaftliche Berichterstattung über die derzeitige humangenetische Erforschung des jüdischen Volkes gelesen werden, sondern viel grundlegender als ein Buch über die modernen humangenetischen Forschungen überhaupt, wobei das jüdische Volk nur als ein gutes Anschauungsbeispiel dient und es deshalb durchaus sinnvoll ist, daß es im Mittelpunkt der Darstellung steht.

Aber ebenso wie schon in seinem Buch "Taboo" ist Jon Entine keineswegs nur an der Humangenetik des jüdischen Volkes interessiert. Sie dient ihm im Grunde nur als Aufhänger, um überhaupt grundlegende Fortschritte auf dem Gebiet der Humangenetik zur Darstellung zu bringen. Und darin liegt meiner Meinung nach die unbestreitbare Stärke seines neuen Buches. Denn zu dieser Thematik gibt es noch wenig populärwissenschaftliche Darstellungen. Am ehesten könnte noch Nicholas Wade's "Before the Dawn" genannt werden.


Im Kapitel 11 ab Seite 250 wird es zum Beispiel besonders interessant, wenn die Frage gestellt wird, ob es eine Zukunft der naturwissenschaftlichen Erforschung menschlicher Rassen und Völker geben wird. Und die Darstellung kommt - natürlich - zu dem Ergebnis, daß dem so sein wird, da alle derzeitigen humangenetischen Forschungen mehr oder weniger zwangsläufig darauf hinauslaufen. Hier bringt Jon Entine viele neue und nützliche Erläuterungen und Erklärungen.

Alle wichtigen Meilensteine zur Thematik werden behandelt: Die Forschungen des amerikanisch-jüdischen Anthropologen Franz Boas und seiner Schule, dann die Forschungen des italienischen Humangenetikers Luigi Lucca Cavalli-Sforza ("Human Genome Diversity Project") und schließlich von Humangenetiker Spencer Wells ("Genographic Project"). Sodann die Verkündung von führenden Humangenetikern (Francis Collins und Craig Venter) im Jahr 2000, daß man "Rasse" im menschichen Genom nicht finden würde. Und gleich darauf die Nennung und Zusammenstellung der Tatsachen und Argumente, die genau diese Behauptung als so wertlos und ganz und gar mißverständlich erkennen lassen.

Sodann wird das "Haplotype Map Project" erläutert. Und die aktuelle Einsicht der Verantwortlichen dieses Projektes, die Einsicht, die sich unter Humangenetikern weltweit ausbreitet:
"Each 'race and even ethnic groups within the races' have their own collection of diseases and specific reactions to drugs. They believe that environmental triggers for many common disorders, from cancer to asthma, that have no effect on one population group could devastate another. That's the explanation for many 'Jewish diseases'. ..." (S. 264f)
Die Entdeckung des ersten Brustkrebs-Gens durch die Humangenetikerin Mary-Claire King im Jahr 1990 wird breit geschildert, wie schon erwähnt, da dieses Brustkrebs-Gen besonders unter aschkenasischen Juden weit verbreitet ist. Die Erforschung der Tay-Sachs-Erbkrankheit, die ebenfalls überdurchschnittlich unter aschkenasischen Juden verbreitet ist, wird erläutert.

Angeborene Volks- und Rasseeigenschaften psychischer Art?

Und dann wird die Frage gestellt:
"There is grudging acceptance that the founder effect and genetic bottlenecks that result in 'ethnic' diseases may also contribute to group behavioral patterns. But which traits have a strong genetic component? Although most talk about inborn psychological or behavioral traits among Jews and other groups is plain rubbish or loose speculation, maybe not all of it is."
Sodann wird natürlich die schon erwähnte Cochran/Harpending-These zur "Naturgeschichte der aschkenasisch-jüdischen Intelligenz" aus dem Jahr 2005 erläutert. Und sodann werden die Forschungen des kalifornischen Psychologen Kevin MacDonald - allerdings eher in der Form einer herabsetzenden Karrikatur (siehe St. gen.) - nachgezeichnet.

Ruth, die hilfsbereite Nichtjüdin

Aber die entscheidende Neuerkenntnis für mich aus diesem Buch liegt gar nicht einmal in humangenetischen Erkenntnissen selbst, die referiert und diskutiert werden, sondern in der ganz erstaunlich anmutenden Möglichkeit einer orthox-religiös-jüdischen Interpretion derselben. Nämlich die sich abzeichnende Möglichkeit, daß etwa grob 40 % der Vorfahren der heutigen aschkenasischen Juden weltweit weibliche Mitteleuropäerinnen, sprich höchstwahrscheinlich deutsche Frauen vom Rhein (vielleicht aus der Zeit Karls des Großen - davor oder danach) waren, diese Tatsache also wird biblisch mit der Erzählung über "Ruth" religiös eingeordnet.


Ruth war laut Bibel eine Nichtjüdin, die ihrer jüdischen Schwiegermutter auch dann noch half, als die eigenen Töchter ihre eigene Mutter (sprich Ruth's Schwiegermutter) in der Gefahr schmählich im Stich ließen und das Weite suchten. Ruth hingegen half ihr sogar dann noch, als ihre Schwiegermutter sie bat, zu ihrem eigenen Volk zurückzukehren, da ihr Mann (also der Sohn der Schwiegermutter) gestorben war. Ja, Ruth ließ sich dann sogar willig an einen weiteren jüdischen Verwandten ihres ersten Mannes weiterverheiraten.

Auf dieses Tun blickte Jehova, wie es scheint, mit großem Wohlgefallen. Und alle Nachkommen von "Ruth" (immerhin 80 % der heutigen Juden) werden "deshalb" auch heute nach den neuesten humangenetischen Erkenntnissen noch als "Juden" gelten gelassen, selbst wenn sie in weiblicher Abstammungslinie nichtjüdische Gene in sich tragen und nach dem strengen orthodox-jüdischen Gesetz eigentlich als Nichtjuden gelten müßten. - Wie man sich diese nichtjüdischen Frauen vorstellen könnte, die die Gründerpopulation der aschkenasischen Juden am Rhein mitgebildet haben könnten, soll mit der Bebilderung dieses Beitrages angedeutet sein.

Jehova hat halt den Seinen doch allerhand Verstand mitgegeben, so daß sie sich auch noch durch die unglaublichsten wissenschaftlichen Neuerkenntnisse biblisch-religiös "hindurchwinden" können. - Oder war es doch der gesunde "Hausfrauenverstand" der deutschen Frauen vom Rhein gewesen, nicht der von Jehova mitgegebene? Nun, das wollen wir alles künftig noch genauer herausbekommen! ;-)

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*) Der Grund für die Auswahl der Bebilderung findet sich in den beiden letzten Absätzen dieses Beitrages genannt.

"Volk vergiß sie nicht - Volk - vergiß nicht die Toten"

Kassel - Gedenkstätte für die gefallenen Soldaten beider Weltkriege

Dokumentation - Ein Beitrag zur "Kultur-Digitalisierung"

Wenn man in Kassel, dem Sitz des "Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge", der so wertvolle Arbeit leistet, im Stadtzentrum am Rande der Karlsaue herumwandert, kann man inmitten der Gebäude-Ensemble, die die alljährlichen Veranstaltungen der Ausstellung "Documenta" beherbergen und in unmittelbarer Nähe des Gebrüder Grimm-Museums auf eine recht umfangreiche Gedenkstätte für die deutschen Gefallenen beider Weltkriege stoßen.

Diese Erinnerungsstätte wurde im Jahr 1922 von dem damaligen "Kurhessischen Kriegerbund" errichtet. Diesen "Kriegerbund" scheint es heute - zufolge von Netzrecherchen - nicht mehr zu geben, auch keine Nachfolge-Organisation. Das Weltnetz ist überhaupt sehr wenig auskunftfreundlich, was diese Gedenkstätte betrifft. Und dem geringen öffentlichen Interesse entsprechend befindet sich diese Gedenkstätte auch in einem vergleichsweise verwahrlosten Zustand. Viele Inschriften sind gar nicht mehr zu entziffern.

Beispiel für eine nicht mehr zu entziffernde Tafel

Sozialdemokraten nach 1918 und "Heldenverehrung"

Diese Gedenkstätte wurde von dem der Sozialdemokratie nahestehenden Bildhauer Hans Sautter gestaltet, der ein Gegner der Nationalsozialisten war, und der auch die nahegelegene, bekanntere "Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus" nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltet hat. In einem Reisebericht erfährt man über diese Gedenkstätte:
... Die nächste Station war das Ehrenmal für die Gefallenen des 1. und 2. Weltkrieges in der Karlsaue. Nach dem 1. Weltkrieg hat der Kurhessische Kriegerbund in Kassel nach einer Möglichkeit gesucht, den Gefallenen eine Gedenkstätte zu errichten. Die Entscheidung, einen verfallenen, barocken Terrassengarten in ein Ehrenmal umzuwandeln, wurde von (dem Bildhauer) Professor (Hans) Sautter herbeigeführt. In der Anlage aus doppelarmigen Treppen, Stützmauern und Terrassen wurden Gedenktafeln angebracht, auf denen die entsprechenden Regimenter genannt werden. Auf diesen Tafeln steht die Verherrlichung des Kriegstodes im Vordergrund. Seit 1985 gibt es dort auch eine Gedenktafel, die an die Deserteure des 2. Weltkrieges erinnert.
(Gedenkstaette-Breitenau.de)
Hans Sautter war Bildhauer und lehrte an der Kunsthochschule Kassel lehrte.


Im folgenden sollen die Texte einiger Gedenktafeln, soweit sie noch entzifferbar sind, sowie einige Fotografien derselben dokumentiert werden. Aus diesen Gedenktafeln spricht ein Geist, der für den Tod vieler Millionen von Menschen verantwortlich gemacht wird.

Unsern
unsterblichen Helden

Namur Masuren 1914
Polen Galizien Bug
Styr 1915 Kurland Galizien
Siebenbürgen 1916 Karpaten 1917 Cotes Loraines Somme Maas 1918

15 Offiziere ... Unteroff. u. Mannschaften
fielen für Heimat und
Vaterland
in den Reihen des
2. Kurhessischen Feld
Art.-Regiments Nr. 47

Volk vergiß sie nicht
Volk
vergiß nicht die Toten

*

Im Kampfe um Bestand und ... des Vaterlandes
starben in treuer Pflichterfüllung den Heldentod
24 Offiziere 28 Unteroff. 192 Mannschaften vom
Husaren-Regiment
Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg
1914 - 1918

*

Fürs Vaterland starben
35 Offiziere 270 Unteroff. und Dragoner vom
Dragoner-Regiment
...

*


20. Inf.Div. mot.
nach ihrem Untergang im
Kessel von Stalingrad neu aufgestellt
20. Pz.Gren.Div.
Euch Kameraden, Euch
... die ihr nicht
heimkehrtet, Treue und Dank

Dauerndes Gedenken
den Unsern
1914 - 1918, 1939 - 1945
2. Thür. Inf. Regt. Nr. 32

1. Ober-elsässisches
Infanterie-Regiment Nr. 167
1914 - 1918
Den Heldentod starben auf den
Schlachtfeldern in Belgien, Ostpreußen
Polen, Rußland, Galizien, Frankreich
51 Offiziere, 2209 Unteroffiziere
und Mannschaften

Inf. Regiment Nr. 82
und Tochterverbände

Den für Deutschlands
Ruhm und Ehre
gefallenen Helden
zum Gedächtnis

1914 - 1918

Ost- und Westfront
Belgien, Ostpreußen
Polen, Rußland am Styr,
Ostgalizien am Sereth, Verdun
an der Seille, Emenil, Münster,
Hechtal, Laon la Fere, Chemin de Dames,
Oberelsaß, Combres Höhe Cambrai

Ich
hatt einen Kameraden
einen bessern
findst du nicht.

*

Die mit uns stritten
den Tod erlitten
vergessen wir nicht.

*

Für Deutschlands gerechte Sache kämpften und starben ...

Reserve
Feldartillerie
Regiment Nr. 57
176 Tote
Winterschlacht Masuren
Narotschsee / Toboiy
Arras / Zloczwo
Merville / Vesle
Chemin de Dames
Montdidier
Somme

Unserer Heimat das Recht
und der Väter Sitte zu wahren
hielten wir treulich die Wacht
bis uns das Auge erlosch

*

Ihr habt
einen guten
Kampf gekämpft

Feldartillerie
Regiment
248

*

Im Glauben an Deutschlands gerechte Sache, im festen Vertrauen
...

Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen.
Zum Gedenken an die im Weltkriege für das
Vaterland auf allen
Kriegsschauplätzen
gefallenen
Offiziere ...
und Mannschaften
der
Kriegsschule Kassel

*

Den unbesiegten Toten der Eisenbahner-Kriegsteilnehmer
1914 - 1918
in Treue und festem Zukunftsglauben.
Aus eurem Blut wird unsre Freiheit sprießen.

Armee hinter Stacheldraht *)
1914 - 1921

396 Söhne der Stadt Kassel
starben als deutsche Soldaten
in Kriegsgefangenschaft
in allen Erdteilen der Welt
den Heldentod für ihr Vaterland.

Reichsvereinigung ehemaliger
Kriegsgef. e.V. Ortsgruppe Kassel

1939 IR GD
1942 PzGrenDiv GD
1944 Panzerkorps Großdeutschland

Es ward gespannt
ein einig Band
um alles deutsche Land. (?)

*

PzGrenDiv
Brandenburg

PzGrenDiv
Kurmark

Einsatzbataillone

*

Unsere gefallenen und vermißten Kameraden 1939 - 1943
die 255. Inf.Division

Uns war gegeben
Auf keiner Stätte zu ruhen
Es fielen ... (?)
Blindlings von einer Stunde zur andern
wie Wasser
von Klippe zu Klippe geworfen
Jahrlang ins Ungewisse hinab
in das Tal - zur Heerschar der Gefallenen. ²)

1939 - 1945
87. Inf.Division

Unseren Kameraden in Treue und Dankbarkeit

Seinen gefallenen Kameraden
1. Oberrhein. Infanterie Regiment Nr. 9

Furchtlos und treu

Diese Gedenkstätte wird von den wenigsten Besuchern der Kunst-Ausstellung "Documenta" jemals beachtet worden sein, noch wird sie vielen der sonstigen Besucher und (jüngeren) Bewohner Kassels selbst jemals auch nur aufgefallen sein. Obwohl sie in ganz zentraler Lage an der "Schönen Aussicht" Kassels lokalisiert ist, liegt sie - ganz offenbar - im Schatten des öffentlichen Interesses der Stadt.

Unter allen Gedenkstätten, die in der Stadt Kassel an die Schicksale des 20. Jahrhunderts erinnern und an sie mahnen, an die Kriegstoten, an die Verfolgten und an die Ermordeten, an die Bombenopfer, sowohl unter Menschen wie unter Tieren, ist diese Gedenkstätte die älteste.
"... an der Schönen Aussicht für die umgekommenen Soldaten beider Weltkriege; darunter eine Gedenktafel für die, die den Kriegsdienst für die NS-Gewaltherrschaft verweigerten." (Kassel.de)
So lautet die knapp gehaltene Auskunft auf den offiziellen Netzseiten der Stadt Kassel. Diese erwähnen die jüngste 1985 hier angebrachte Gedenktafel (siehe Bild).

In dem vorliegenden Beitrag sind etwa die Hälfte aller Gedenktafeln wenigstens auszugsweise zitiert.

Es ist zu wünschen, dass die Stadt Kassel diese Gedenkstätte als Zeugnis einer vergangenen Epoche den Besuchern in einer Informationstafel erläutert und dann auch denkmalpflegerisch für einen angemessenen Erhaltungszustand derselben sorgt. Vor dem Hintergrund einer solchen Gedenkstätte erhält man zum Beispiel - möglicherweise! - ein etwas geschärftes Bewusstsein für unseren derzeitigen Umgang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Zum Beispiel kann man sich auch die Frage stellen, ob wir heute mit so viel Liebe auf diese Soldaten und ihr Leiden schauen**), wie sie doch aus fast jeder dieser Tafeln spricht. Die Aufmerksamkeit, Liebe und Verbundenheit sind nämlich ein Charakterzug dieser Tafeln für sich, der möglicherweise auch gültig bleibt, wenn die Heldenverehrung abgezogen worden ist.

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*) Buchtitel eines in den 1920er Jahren viel gelesenen Erlebnisberichtes des Schriftstellers und Kriegsteilnehmers Edwin Erich Dwinger.

**) natürlich gemeint: auf die Menschen unter diesen Uniformen - nicht auf den Beruf des Soldaten an sich
²) Sehr frei nach dem Gedicht von Friedrich Hölderlin "Hyperions Schicksalslied"