Sonntag, 17. Februar 2008

Auch die konfessionslosen anthroposophisch Orientierten haben eine überdurchschnittliche Geburtenrate

Ich hatte ausgeführt und dargelegt, daß die Absolventen von Waldorf-Schulen eine (gegenüber der Restbevölkerung) leicht überdurchschnittliche Geburtenrate bei (gegenüber der "Normalbevökerung") deutlich unterdurchschnittlicher Kirchlichkeitsrate aufweisen. (Stud. gen. 1, 2) Religionswissenschaftler Michael Blume aber will es noch einmal genau wissen und fragt in Kommentaren - hier und auf seinem Blog -, ob die überdurchschnittliche Geburtenrate nicht doch daran liegen könnte, daß eben der kirchlich noch gebundene Teil unter den befragten Waldorf-Schul-Absolventen eine etwaig bloß durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Geburtenrate der Konfessionslosen unter ihnen durch noch deutlich überdurchschnittlichere Geburtenrate kompensieren würde, so daß das Endergebnis doch - vornehmlich oder allein - auf sie, die kirchlich Gebundenen, zurückzuführen wäre.

Michael Blume fragt also (Relig.wiss.):
Gibt es z.B. demografische Unterschiede zwischen Ex-Waldorfschülern, die heute Mitglieder der Christengemeinschaft, einer anderen Kirche, des Islam oder konfessionslos sind?
Diese These müßte einen sehr deutlichen Unterschied voraussetzen zwischen dem Geburtenverhalten von anthroposophisch orientierten Konfessionslosen und Konfessionsgebundenen. Ich werde gleich zeigen, daß ein solcher nicht gar so besonders ausgeprägt vorzuliegen scheint. Aber Michael, Danke erst einmal für diese doch auch noch einmal sehr spannende und weiterführende Fragestellung.

60 % der Befragten haben Kinder

Wenn man sich die Daten daraufhin genauer anschaut und durchdenkt, werden einem die hier vorliegenden Verhältnisse noch ein bischen klarer. Die 5. Frage auf dem Fragebogen (pdf.) lautete:
"Wie viele Kinder haben Sie?"
Von den 1.124 Befragten haben 692 Befragte Kinder und 352 Befragte keine. (1, S. 6) Also 61 % haben Kinder, 30 % haben - z. T. noch - keine. Dabei ist nämlich beachten, daß 50 % der Befragten unter 40 Jahre alt waren (1, S. 2), also viele von den Jüngeren künftig noch Kinder haben werden. Und weiterhin ist zu beachten, daß in den jüngeren Jahrgängen - wie schon früher erwähnt - sich der Anteil der Religionszugehörigkeiten etwas verschoben hat, es sind mehr Katholiken geworden und (noch) weniger geworden, die der Christengemeinschaft angehören.

Zunächst nun der erste Befund: In ihrer Verbundenheit gegenüber der Anthroposophie unterscheiden sich konfessionslose Ex-Waldorf-Schüler und christliche Ex-Waldorf-Schüler kaum. (1, S. 137) Aber die Daten dazu scheinen nicht sehr genau ausgebreitet zu sein. Einzige deutlichere Ausnahme: Die Mitglieder der Christengemeinschaft, die in der Regel eine hohe Verbundenheit mit der Anthroposophie aufweisen. Es muß also derzeit für mich noch ungeklärt bleiben, ob gerade diese Gruppierung - im Vergleich zu allen anderen Ex-Waldorf-Schülern - noch einmal besonders betont Christen oder nicht doch viel eher besonders betont Anthroposophen sind. Das kann ein deutlicher Unterschied sein. Dazu weiter unten noch mehr. Jedoch zunächst weiter bei den Daten.

60 % der Eltern und 50 % der Kinderlosen sind konfessionell gebunden

Von den 692, die Kinder haben, gehören 60 % einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft an und 40 % keiner. (1, S. 193) (Wir erinnern uns, von den Absolventen insgesamt gehörten 57 % einer an und 43 % keiner.) Von den 352, die keine Kinder haben, gehören umgekehrt 50 % einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft an und 50 % keiner. (1, S. 193)

Noch ein weiterer, in unserem Zusammenhang weniger wichtiger Befund: Von den 692 Befragten mit Kindern stehen 43 % der Anthroposophie positiv bejahend gegenüber, 56 % indifferent und ablehnend. (1, S. 8) Von den 352 Befragten ohne Kinder stehen 34 % der Anthroposophie positiv bejahend gegenüber, 65 % jedoch indifferent und ablehnend. (1, S. 8) Das heißt also, daß auch die Bejahung der Anthroposophie sich positiv auf Kinderzahlen auswirkt, aber insgesamt nicht so eindeutig wie Kirchenmitgliedschaft. Auf letztere soll im weiteren vor allem eingegangen werden.

Alles, was man über anthroposophisch Orientierte liest und von ihnen sonst im Alltagsleben so erfährt, weist in die Richtung, daß auch für die (noch) kirchlich Gebundenen unter den Anthroposophen diese Kirchenzugehörigkeit selbst zumindest keine überdurchschnittliche Rolle spielt verglichen mit sonstigen (nicht anthroposophisch orientierten) kirchlich Gebundenen. (2) Aber diese letzteren weisen ja auch schon eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate auf.

Auch die Geburtenrate der Konfessionslosen unter den Anthroposophen ist untypisch für Konfessionslose an sich

Eine leicht überdurchschnittliche Geburtenrate insgesamt jedoch bei einem so überdurchschnittlich großen Anteil von Konfessionslosen muß mehr oder weniger zwangsläufig heißen, daß auch die Konfessionslosen unter den Waldorf-Schul-Absolventen eine Geburtenrate aufweisen, die deutlich über der sonstiger Konfessionsloser liegt und sich fast an konfessionell Gebundene annähert - - - wenn nicht die konfessionell Gebundenen unter den anthroposophisch Orientierten eine sich an die Geburtenrate von sonstigen Konfessionslosen annähernde Geburtenrate der Konfessionslosen durch überdeutlich starke Geburtenrate kompensieren würden. Genau das ist aber nun doch nur sehr wenig ausgeprägt der Fall wie man den oben angebenen Daten entnehmen kann. Eine so deutliche Scheidung in den Lebensstilen zwischen Konfessionslosen und Konfessionsgebundenen wie man sie dann voraussetzen müßte, findet man auch sonst wohl nirgends im Alltagsleben bei anthroposophisch orientierten Menschen vor.

(Leider kann man den bisher veröffentlichten Daten nicht auch noch entnehmen, ob etwa Konfessionslose mehr zu Einzelkindern und konfessionell Gebundene mehr zu mehreren Kinder neigen. Man muß sich zunächst mit den Daten begnügen, die veröffentlicht sind.)

Wie sind die Zahlen zu bewerten?

Also die Kirchenzugehörigkeit ist zwischen Ex-Waldorf-Schülern mit Kindern und ohne Kinder um 10 % verschoben. Ist das eine leichte oder eine deutliche Tendenz dahingehend, daß konfessionslose Waldorf-Absolventen weniger Kinder haben als konfessionell gebundene? Ich neige dazu, diese Tendenz als nicht sehr ausgeprägt zu beurteilen. Kann man aus dieser Tatsache also etwas Zuverlässiges ableiten? Soweit ich sehe nur die Tatsache, daß für das Geburtenverhalten bei anthroposophisch Orientierten Menschen insgesamt das Geburtenverhalten der konfessionell Gebundenen typischer ist als das der nicht konfessionell Gebundenen.

Man wird wohl so sagen können: Wenn die kirchlich Gebundenen unter den anthroposophisch Orientierten ähnliche Geburtenraten aufweisen wie auch nicht anthroposophisch orientierte kirchlich Gebundene, so haben zumindest die konfessionslosen anthroposophisch Orientierten eine Geburtenrate, die deutlich über sonstigen Konfessionslosen liegt. Das ist wohl die entscheidendere Erkenntnis dieses Beitrages. Sie haben ihren Anteil an der überdurchschnittlichen Geburtenrate der anthroposophisch Orientierten insgesamt zu großen Teilen nicht auf die konfessionell Gebundenen unter ihnen "abgewälzt". Und letzterer Umstand allein ist es wohl so mehr oder weniger, auf den es hier ankommt und um dessentwillen einem die Anthroposophen aus religionsdemographischer Sicht wichtig sein könnten.

Die merkwürdige "Christengemeinschaft"

Noch einige Angaben, die man den Tabellen zu Michael Blumes Fragestellung entnehmen kann: Von den 106 Katholiken haben 50 % Kinder und 50 % nicht. (1, S. 194) Der Anteil der Katholiken ist aber in den jüngeren Jahrgängen höher, wodurch man diese Zahlen als nicht sehr aussagekräftig einschätzen kann. Von den 352 Protestanten haben 68 % Kinder und 32 % keine.

Aber nun: Von den 106 zur Christengemeinschaft Gehörigen haben sogar 84 Kinder und 19 keine. (1, S. 194) Diese letztere Tatsache finde ich doch recht bemerkenswert und aussagekräftig. Sie widerlegt meiner Meinung nach mehr oder weniger deutlich die von mir im früheren Beitrag zitierte Vermutung von Michael Ebertz, daß die Christengemeinschaft "Nachwuchsprobleme" hätte. Vielleicht entscheiden sich von diesen aus irgendwelchen Gründen heute nur weniger als früher für den Besuch von Waldorf-Schulen? - Da stochert man bei den bisherigen Zahlen wohl noch im Nebel herum. (Auch hier wiederum ist zu berücksichtigen, daß die zur Christengemeinschaft Gehörigen mehr den älteren als den jüngeren Jahrgangs-Stufen angehören.)

Mehr kann man zur Zeit aus den veröffentlichten Daten dieser Studie, soweit ich sehe, für die hier interessierenden Fragestellungen nicht ableiten. Viele abgefragte Eigenschaften werden in der tabellarischen Aufschlüsselung nicht mit Kinderzahl abgeglichen, wodurch wichtige Erkenntnismöglichkeiten versperrt bleiben.

Aber das, was man eben hier schon sehen kann, schwächt meine bisherige These nicht sehr deutlich ab, sondern präzisiert sie noch. Vielleicht tragen die Konfessionslosen unter den anthroposophisch Orientierten weniger zur überdurchschnittlichen Geburtenrate derselben bei als die konfessionell Gebundenen. Aber sie tragen doch wohl ziemlich eindeutig zu ihr bei. Und das ist ein Umstand, der sonst wohl noch nicht für Konfessionslose hat nachgewiesen werden können.

Noch einmal allgemeiner zu Michael Blumes Überlegungen

Michael Blume schrieb auch (Relig.wiss.):
Ein muslimisches oder buddhistisches Kind wird durch den Besuch eines evangelischen Kindergartens doch auch nicht automatisch evangelisch.
Auch von dem - bislang wohl noch sehr unwahrscheinlichen - Fall eines muslimischen oder buddhistischen Kindes, das einen Waldorf-Kindergarten besucht, auch von diesem wird man, wie ich denke, schon von vornherein bestimmte Eigenschaften annehmen, die man auch bei Kindern dieser Herkunft allgemein nicht annehmen wird, wenn sie beliebige andere Kindergärten besuchen. Will heißen: Interesse für Waldorf-Schulen oder -Kindergärten ist eben bisher doch ein sehr starker "Selektionsfaktor" auf bestimmte Eigenschaften hin, und zwar auf solche, die auch mit Religiosität und Spiritualität zu tun haben, wie ja die Studie aufgezeigt hat. Nur eben sehr viel weniger mit "traditionellen" Formen derselben.

Weniger "Lehrgebäude" als "Lebensgefühl"

Alle Daten deuten darauf hin, daß diese Menschengruppe der der Anthroposophie und den Waldorf-Schulen Nahestehenden viel weniger durch ein bestimmtes "Lehrgebäude" oder etwas ähnliches definiert ist, sondern eher durch ein Lebensgefühl, eine Welthaltung. Und zwar ist das eine Gemeinsamkeit, die eben doch eindeutig überkonfessionell ist. Ich kennzeichnete es schon ziemlich platt - aber, wie ich finde, immer noch treffend mit den Worten: "Öko, Öko, Öko, Birkenstock, Birkenstock, Birkenstock."

Dieser Umstand wird auch recht hübsch durch die Tatsache illustriert, daß die Hälfte der Befragten mit einer politischen Partei sympathisieren und davon wiederum die Hälfte mit "Bündnis 90/Die Grünen". - Wer hätte das wohl - - - nicht gedacht? ;-) Und ein weiteres Viertel davon sympathisiert mit der SPD. (1, S. 202) Also in diesen Bereichen von "Lebensgefühl" wird eher die gemeinsame Identität und Religiosität dieser Gruppierung gesucht werden müssen, als in einem präziser umrissenen überkommenen christlichen Glaubensbekenntnis oder in präziser umrissenen christlichen, religiösen Haltungen.

"Dualisierung der Religion"

Michael Ebertz hat seine Ergebnisse in einem breiteren religionssoziologischen Rahmen interpretiert, nämlich in dem Denkrahmen von der modernen "Dualisierung der Religion", also dem Auseinanderklaffen von "institutioneller Religion" und "universaler Religion". Er zitiert dafür einen Roland Campiche (3). Vielleicht sollte man eher sagen, von der "Überschichtung" von traditioneller Religiosität durch neue religiöse Vorstellungen. So verweist Ebertz auch auf eine frühere Allensbach-Studie, wonach viele Menschen, die sich als Christen bezeichnen, an eine Wiedergeburt glauben, ohne sich überhaupt oft bewußt zu sein, daß das gar nichts mehr mit Christentum zu tun hat. (2, S. 148f) Und Ebertz interpretiert die Waldorf-Umfrage-Ergebnisse dahingehend, daß die Ex-Waldorf-Schüler nicht besonders stark durch *irgendeine* institutionelle Religion geprägt sind (auch nicht insgesamt gesehen im engeren Sinne durch die Anthroposophie), sondern zunächst einmal vor allem durch die sogenannte ("überschichtete") "universale Religion".

"Insider" bei den Anthroposophen - hier der Hamburger Christengemeinschafts-Pfarrer F. Hörtreiter (4) - formulieren, so zitiert Ebertz, daß es "bei uns viel Anarchie und Individualismus" gäbe. (2, S. 144) Also eigentlich alles eher typische Eigenschaften von Konfessionslosen und Atheisten - aber eben dennoch auch mit der aufgezeigten überdurchschnittlichen Geburtenrate.

Ich glaube, es wird gar nicht so ganz einfach sein, ähnlich fest umrissene Gruppierungen wie die hier behandelten Ex-Waldorf-Schüler oder die Patientengruppen von anthroposophischen Ärzten zu finden, von deren "universaler Religion" man so einfach wie bei dieser Gruppierung nachweisen könnte, daß diese auch bei Konfessionslosen überdurchschnittliche Geburtenrate bewirkt und mit sich bringt.
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1. Randoll, Dirk; Barz, Heiner: Absolventenstudie zur Waldorf-Pädagogik (Deutschland). Tabellenband 1. (frei herunterladbar als pdf. ---> hier.)
2. Ebertz, Michael N.: Was glauben die Ehemaligen? In: Barz, Heiner; Randoll, Dirk (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. 2. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007 (St. gen.-Buchladen), S. 133 - 160 [wesentliche Auszüge - der Fragebogen, alle Rohdaten und die Einleitung - auch auf: www.waldorf-absolventen.de]
3. Campiche, Roland J.: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung. Zürich 2004
4. Hörtreiter, F.: Anthroposophie und christlicher Glaube. Eine Erwiderung auf Bernhard Grom SJ. In: Materialdienst der EZW 68/2005, S. 251 - 255 (im Netz siehe hier)

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