Sonntag, 3. Juni 2007

Genetische Veranlagung fördert Sprachwandel?

Der Forschungsartikel zum Zusammenhang zwischen jüngst- und lokalselektierten Gehirnwachstums-Genen und nicht-tonalen Sprachen (Stud. gen., Gene Expr. 1, 2) wirft noch weitaus überraschendere und neuartigere Fragestellungen auf, als auf den ersten Blick erkennbar gewesen war. Inzwischen ist der Artikel veröffentlicht worden (PNAS), leider im Netz noch nicht frei zugänglich.

Aber wenn man einen sauber ausgearbeiteten, argumentierenden und ausformulierten Forschungsartikel lesen möchte, dann lese man diesen. Man ist durch und durch erstaunt, auf wie viele verschiedene Dinge Rücksicht genommen worden ist, wie breit und gründlich der derzeitige Forschungsstand referiert wird und dann von diesem die neue Hypothese abgeleitet wird. All das mutet außerordentlich vorbildlich an. Man lernt gleichzeitig - ganz unabhängig von der neuen Hypothese - viele Details zum derzeitigen Forschungsstand überhaupt, die man in einem solchen Überblick an anderer Stelle noch nicht fand.

Und zwar im wesentlichen Forschungsstand zur Genetik. Und das von zwei Sprachwissenschaftlern. Das ist interdisziplinäre Arbeit, wie man sie sich wohl besser gar nicht wünschen kann.

Die Argumentationsweise des Artikels ist also weitaus differenzierter und damit beeindruckender und überzeugender, als man ursprünglich gedacht oder auch nur erwartet hatte, ja als man vielleicht auch nur erwarten konnte. Ganz erstaunlich. Erwachsene nicht-tonale Muttersprachler (Englisch) wurden mit einer künstlichen Sprach-Lern-Aufgabe konfrontiert, die die Unterscheidung tonaler Unterschiede beinhaltete. Dabei erfolgreich Lernende hatten im Gehirn einen größeren linken (aber nicht rechten!) Heschl-Gyrus. (Was immer das jetzt im einzelnen gehirnanatomisch sein mag.) Nun ist die Hypothese dieser Arbeit, daß das etwas mit den beiden jüngst- und lokalselektierten Gehirnwachstums-Genen zu tun hat, die zuvor schon von dem Genetiker Bruce Lahn erforscht worden waren (also ASPM und Microcephalin), und von denen man bisher noch nicht so recht weiß, für welchen Phänotyp sie eigentlich verantwortlich sind.

Der Artikel zählt auf: Sie sind nach jüngsten Studien weder verantwortlich für Intelligenz-Unterschiede, Gehirngröße, Kopfumfang, allgemeine mentale Fähigkeiten, soziale Intelligenz, noch für das Auftreten von Schizophrenie.

Die beiden Wissenschaftler machen eine Auswertung zu statistischen Korrelationen zwischen dem lokalen Auftreten der beiden neuen Gehirnwachstums-Gene und dem Auftreten nicht-tonaler Sprachen. Die mathematischen Einzelheiten seien übergangen. Hier nur das Ergebnis.

Sie verglichen die schon früher von dem Genetiker Luigi Lucca Cavalli-Sforza erforschte Korrelation zwischen allgemeiner Sprachvielfalt und allgemeiner genetischer Populationsvielfalt mit ihrer neu erforschten spezifischen Korrelation zwischen nichttonalen Sprachen und diesen beiden jüngstselektierten Genen. Und sie kommen zu dem Ergebnis:
"Wir fanden, daß im allgemeinen die Beziehung zwischen diesen beiden Arten von Vielfalt" (also der genetischen und der sprachlichen) "vollständig durch geographische und historische Faktoren erklärt werden kann, während in dem spezifischen Falle von Tonalität und den beiden jüngstselektierten Genen es eine wichtige und signifikante Korrelation zwische ihren Verteilungen gibt auch noch nachdem auf Geographie und Geschichte kontrolliert worden ist."
Das ist ihr wesentliches Ergebnis. Und sie schreiben weiter:
"Deshalb schlagen wir vor, daß diese Beziehung kausal ist; das heißt, die genetische Struktur einer Population kann einen Einfluß auf die gesprochene(n) Sprache(n) dieser Population ausüben."

Oder in anderen Worten:
"Im besonderen haben wir gefunden, daß die negative Korrelation zwischen Tonalität und der Populationsfrequenz der beiden jüngstselektierten Gene nicht durch historische und geographische Faktoren erklärt werden kann, was unsere Behauptung einer kausalen Beziehung zwischen beiden stützt."
Nun ist aber die Frage: Wie soll man sich diese kausale Beziehung im einzelnen vorstellen? Hierfür hatten sie schon in der Einleitung überzeugend auf die erforschten Prozesse des individuellen Spracherwerbs hingewiesen und auf die - sozusagen - "mikrohistorischen" Veränderungen, die sich dabei von Generation zu Generation in einer Population ergeben. Und nun argumentieren sie: Wenn Träger dieser beiden neuen Gene in eine bestehende Population hineinkommen (etwa durch Einwanderung, Vermischung), dann könnte dieser subtile, mikrohistorische Sprachwandel über die Generationen hinweg Schritt für Schritt zu einer Veränderung von tonaler zu nicht-tonaler Sprache führen. Man kann sich das wahrscheinlich gut veranschaulichen an so berühmten Lautverschiebungen wie den beiden von Jacob Grimm entdeckten "germanischen" (ick-/ich-Grenze und appel-/apfel-Grenze), wenn es sich hierbei auch nicht um Tonalität handelt.

Und schließlich sagen sie: Diese mikrohistorischen, Sprach- und Gen-selektiven Prozesse können sowohl zugunsten als auch zum Nachteil der weiteren Ausbreitung tonaler Sprachen führen. Doch alles weist ja darauf hin, daß nicht-tonale Sprachen und die sie (vielleicht) kodierenden Gene phylogenetisch jünger sind. Nun sagen die Forscher, daß die genetische Veranlagung, die dazu führt, daß ein einzelner Mensch - wohl ganz unbewußt - eine Sprache schrittweise von einer tonalen zu einer nicht-tonalen Sprache verändert, möglicherweise auch ein "selektiv neutrales Nebenprodukt" der beiden jüngstselektierten Gehirnwachstums-Gene sein kann, weil man bisher keinerlei Hinweise darauf hat, warum eine nicht-tonale Sprache selektiv vorteilhafter sein soll als eine tonale Sprache oder daß die jeweilige Sprache einem Sprecher irgendeinen (selektiven) individuellen Vor- oder Nachteil verschafft.

Sie schlagen dann noch einige Möglichkeiten der Überprüfung vor. Ihre These ist also - im Gegensatz zu p-ter's Behauptung auf "Gene Expression" sehr wohl falsifizierbar. Einer von mehreren vorgeschlagenen Testfällen für ihre Hypothese wäre, die noch nicht erforschte Korrelation zwischen den Sprachen der australischen Ureinwohner und ihren Gehirnwachstums-Genen zu überprüfen, da die australischen Sprachen - merkwürdigerweise - nicht-tonale Sprachen sind.

Die Forscher betonen ausdrücklich, daß ihr Modell kein - sozusagen - rein "deterministisches" ist, sondern daß nach diesem Modell durch eine bestimmte genetische Veranlagung nur die Wahrscheinlichkeit erhöht oder erniedrigt ist, daß der einzelne Träger derselben den Sprachwandel der Population, zu der er gehört, in die eine oder die andere Richtung vorantreibt. Das ist auch deshalb von Interesse, weil man sich in dieser Weise wohl den größten Teil der Wirkung von Verhaltensgenen auf die menschliche Kultur vorstellen kann, so etwa auch ADHS-Gen(e) oder Intelligenz-Gene. Bei Intelligenz allerdings dürfte der Zusammenhang zwischen Genen und Kultur noch wesentlich klarer und eindeutiger zu formulieren sein, als hier bei diesen neuen, etwaigen "Sprach-Genen".

Auf ihrer Heimatseite dokumentieren die Forscher die wissenschaftliche Diskussion. (Und dort findet sich ganz oben rechts auch ein "pre-print"-pdf.-Version, die vom Original nicht allzu wesentlich abweichen dürfte.)

Das Thema wurde bisher in drei Beiträgen auf "Studium generale" behandelt (1, 2, 3).


ResearchBlogging.org1. Dediu, D., & Ladd, D. (2007). From the Cover: Linguistic tone is related to the population frequency of the adaptive haplogroups of two brain size genes, ASPM and Microcephalin Proceedings of the National Academy of Sciences, 104 (26), 10944-10949 DOI: 10.1073/pnas.0610848104

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