Sonntag, 24. März 2024

Germanen - Wer wir waren, bevor wir wurden, was wir sind

Die Schnurkeramiker breiteten sich entlang der West- und der Ostküste der Ostsee bis Schweden aus
- Die Germanen aus Sicht der Archäogenetik (3.000 bis 500 v. Ztr.)

Im Rijksmuseum in Amsterdam hängt das Wandgemälde "Willibrords Predigt an die Friesen" (Abb. 1) (Wiki). Es ist um 1885 herum entstanden. Dargestellt sind germanische Menschen inmitten einer Umbruchzeit

Abb. 1: Germanen reagieren auf das Christentum ("Willibrord predigt den Friesen das Christentum", 1885) - Ausschnitt eines Wandgemäldes im Rijksmuseum in Amsterdam von Georg Sturm (1855-1923) (Wiki

Der Missionar Willibrord (658-739) (Wiki) war selbst Germane, Angelsachse. Ebenso wie Georg Sturm, der Maler. Im Gemälde kommt aber nun gar nicht zum Ausdruck, daß die politische und militärische Machterweiterung des Frankenreiches einerseits und die Annahme des Christentums auch in Friesland andererseits zu jeder Zeit miteinander Hand in Hand gegangen sind. Die Annahme des Christentums beruhte in der Regel nicht auf innerer Überzeugung. Im Gemälde spiegelt sich eher die Haltung, die sich 1250 Jahre später gegenüber dem Christentum heraus gebildet hatte: Auf den Gesichtern spiegelt sich, was diese 1250 Folgejahre mit sich bringen sollten: Abgelenktheit, Unaufmerksamkeit, gemischt mit Andacht, Unruhe, Aufbruch, Zweifel, Ärgernis, Mißfallen. Auf den Gesichtern spiegelt sich die Besinnung vor der Tat, es spielgelt sich das Erleben der vielen nachfolgenden Jahrhunderte. 

Dieses Gemälde ist auch sonst quasi "zeitlos", Neudeutsch: "unhistorisch": Schmuck, Kleidung und Haartracht der Männer stammen aus ganz unterschiedlichen Epochen, aus der Bronzezeit, aus der Eisenzeit. Vielleicht entsteht aber gerade durch eine Zusammenschau all der genannten langen Zeiträume eine Ahnung von dem, was "Germanen" insgesamt sind. Versuchen wir eine kurze Zusammenschau:

Vornehmlich Germanen waren schon die Träger der Aunjetitzer Kultur, die Volkssternwarten, Goldhüte und die Himmelscheibe von Nebra hervor brachte. Keltische geographische Benennungen haben sich nach Ausweis des Sprachforschers Udolph nie dorthin verirrt, wenn es nach Ausweis der Archäogenetik auch Vermischungen mit der (vor-"keltischen"?!) Glockenbecher-Kultur gegeben hat.

Eine glanzvolle "Nordische Bronzezeit" (Wiki, engl) sollte parallel dazu viele Jahrhunderte lang in Skandinavien bestehen. In dieser sollte es auffallende Verbindungen gerade mit den Königen der mykenischen Palastkultur in Griechenland geben, vornehmlich wohl durch germanische Söldner (Stgen2022). Jahrhunderte lange Griechenlandfahrten sollten aber zum Beispiel gar keine Auswirkungen haben auf den Schiffbau in Skandinavien, der dort bis zu Beginn der Wikingerzeit weder Ruder noch Segel kannte. Das Langsteven-Kriegspaddelboot der Skandinavier wurden vielmehr auf vielen Felszeichnungen verherrlicht. Es scheint auch religiös eine große Rolle gespielt zu haben. Prachtvolle Flottenparaden muß es damals auf der Meerenge zwischen Dänemark und Schweden gegeben haben, dort, wo es die meisten Felsbilder von ihnen gibt (Stgen2022).

In dieser Zeit relativer germanischer Abgeschiedenheit sollten die südlich benachbarten Kelten in viel dynamischerer Weise Weltgeschichte gestalten. Ihrer mehrmaligen Ankunft auf den britischen Inseln, in Spanien und in Italien sind wir schon andernorts nachgegangen (Stgen2021). Die Kelten unternahmen wiederholte Ausgriffe auch auf den Balkan und anzunehmender Weise nach Schlesien und bis nach Mecklenburg hinein (als "Lausitzer Kultur"). Sie sollten insbesondere auch - anzunehmender Weise - das tragende Element bilden des Seevölkersturmes von 1200 v. Ztr., nachdem die vereinigten Germanen die auch nach Norden ausgreifenden Kelten in der Schlacht an der Tollense in Mecklenburg um 1250 v. Ztr. (Wiki) zurück gewiesen hatten (Stgen2019).

Erst in der Eisenzeit begann das, was völkische Geschichtsschreibung vor hundert Jahren für Weltgeschichte an sich gehalten hatte, nämlich daß "Welle um Welle" germanische Völker aus dem skandinavischen Raum heraus nach Süden aufgebrochen seien. Erst jetzt begann der eigentliche Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, so schält sich mit der Archäogenetik inzwischen deutlich heraus. Insbesondere jetzt durch eine neue Studie aus dem Archäogenetik-Labor von Eske Willerslev in Dänemark, deren Inhalte im folgenden zu referieren sind (1).

Die Germanen stammen von den Schnurkeramikern ab - Die Kelten stammen von den Glockenbecher-Leuten ab

Da es um 2.350 v. Ztr. einen Ausgriff der Glockenbecher-Kultur nicht nur nach England, sondern auch bis nach Norwegen hinauf gab (Stgen2022), war sich die Forschung bis heute nicht klar darüber, ob die heutige germanische Sprache mit den zuvor schon in Skandinavien siedelnden Schnurkeramikern dorthin gekommen war oder erst mit dieser zweiten indogermanischen Zuwanderung. Aber das ist wohl eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie: Glockenbecher-Gene finden sich in Skandinavien nicht vor der Wikingerzeit. Der Ausgriff nach Norwegen um 2.350 v. Ztr. hat populationsgenetisch keine Nachwirkungen hinterlassen (1). 

Vielmehr scheint sich mit dieser Studie zu bewahrheiten, was eigentlich schon lange offen vor den Augen der Forscher und geschichtlich Interessierten lag, was man sich aber so einfach bislang nicht hatte denken wollen: Die Germanen stammen von den Schnurkeramikern ab, die Kelten stammen von den Glockenbecher-Leuten ab. Punkt. Fertig. Und diese neue Studie macht auf diese lange Kontinuität der Herkunfts-, Sprach- und Kulturgrenze zwischen den Kelten im Süden (und Westen) und den Germanen im Norden (und Osten) Europas aufmerksam. Diese Grenze hatte sich schon im Spätneolithikum heraus gebildet (Abb. 2). Wie viel vorherige Unklarheit sich allein durch diese eine Erkenntnis klärt.

Wieder einmal gehen Kultur und Gene viel enger miteinander zusammen in der Ausbreitung als so lange, lange Jahrzehnte von der Forschung angenommen worden war. Schon wieder einmal hopst der alte, bärbeißige Germanen-Bewunderer Gustaf Kossinna vor Vergnügen im Dreieck dort droben im Himmel (s. Stgen2017).

Abb. 2: Kelten und Germanen - Glockenbecherleute und Schnurkeramiker (aus 1) - (Individuen mit weniger als 10% Steppenherkunft oder weniger als 66% von einer der Herkunftsgruppen werden durch ein 'x' gekennzeichnet)

Diese Grenze wurde nämlich schon mit der Ausbreitung der Schnurkeramiker einerseits und der Ausbreitung der Glockenbecherleute andererseits begründet. Das genetische Profil der Menschen der jeweiligen Kultur - sichtbar in der "Hauptkomponenten-Analyse" - weist zwar viele Überschneidungen mit dem der anderen Kultur auf, ist sich also recht ähnlich. Es waren ja beides indogermanische Kulturen, die von der Jamnaja-Kultur abstammten. Aber bei genauerem Hinschauen weisen beide außerdem auch noch markant andere Verteilungsmuster (Häufigkeitsmuster) auf. Weshalb beide Großvölker, Großkulturen sich inzwischen auch genetisch recht gut unterscheiden lassen (Abb. 2).

Diese Jahrtausende lange Grenze hat sich erst in der Völkerwanderung ab 375 v. Ztr. (!) stärker verwischt. Im Groben dauert sie aber sogar bis heute fort. Wenn sich auch die germanischen Sprachen seither auf Kosten der keltischen Sprachen durchgesetzt haben. Wir lesen darüber in der Studie (1):

Unabhängig von den Clustern läßt sich ab der späten Bronzezeit die Steppen-Abstammung fast aller Europäer gut modellieren anhand entweder der nördlichen Schnurkeramiker- oder der Glockenbecher-Herkunft (hier: Abb. 2). Fast alle Proben, die modelliert wurden vorwiegend mit Schnurkeramiker-, Glockenbecher- und Jamanaja-Verwandte-Vorfahren, fallen in die Regionen, die durch die jeweilige Kultur aus der archäologischen Literatur schon vorgegeben ist (Abb. 2).
Die Grenze zwischen diesen Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Vorfahren blieb während der gesamten Eisenzeit bis zum Untergang des Römischen Reiches relativ stabil (Abb. 2). Ab der Völkerwanderungszeit beobachten wir eine Verschiebung dieser Grenzen nach Süden.
By the late Bronze Age onwards, irrespective of clusters, the Steppe ancestry in almost all Europeans can be well modelled by Northern Corded Ware or the Bell Beaker sources (Figure 4). Almost all samples modelled primarily as Corded Ware, Bell Beaker and Yamanaya-related ancestry fall within the regions prescribed to each culture in the archaeological literature (Figure 4).
The border between these Corded Ware and Bell Beaker Steppe ancestries remains relatively stable throughout the Iron Age, until the fall of the Roman Empire (Figure 4). Beginning in the Migration Period, we see a southward shift of these borders.

In diesen Worten spiegelt sich wieder, daß die Germanen in Skandinavien Jahrtausende lang keine Ausgriffe nach Süden oder Westen oder Osten unternommen haben, sondern daß sie einfach nur für sich gelebt haben und ihre Heimat behauptet haben. Es hat also seit der ersten Ausbreitung der Indogermanen bezüglich ihrer Grenze zu den Kelten keine besonders grundlegenden Völkerbewegungen und -veränderungen mehr gegeben - bis zur Völkerwanderung ab 375 n. Ztr.!

Was für eine erstaunliche Tatsache!

Die Aunjetizer Kultur war sprachlich nicht keltisch

Einschränkend und differenzierend muß aber bei genauerem Blick auf die obere Karte in Abb. 2 - und in Ergänzung zum Fließtext der Studie - gesagt werden: Innerhalb einer Region umgrenzt von den Eckpunkten Harz, Südpolen, Ungarn und der Bodenseeregion hat es von Anfang an Verzahnungen zwischen beiden Herkunftsgruppen gegeben, die den Archäologen auch schon seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen bereiten. Man darf sagen: Die dort lebenden "Kelten" dürften schon von Anfang an viele "germanische" (schnurkeramische) Herkunftsanteile in sich getragen haben - und umgekehrt. Wir wissen ja auch schon von frühbronzezeitlichen Heiratsnetzwerken zwischen dem "keltisch-germanischen" Raum im heutigen Bayern und dem "keltisch-germanischen" Raum im heutigen Böhmen und dem "keltisch-germanischen" Raum rund um Halle an der Saale. 

Da über lange Jahrhunderte die keltische Kultur die dynamischere in Europa gewesen ist, könnte man vermuten, schlußfolgern, daß die Schnurkeramiker im eben umschriebenen Raum "keltisiert" worden waren, und daß auf diese Weise etwa die Aunjetitzer Kultur und evtl. auch die Lausitzer Kultur kulturell "keltisch" aufgestellt waren, daß in ihnen aber zumindest genetisch auch germanische Schnurkeramik-Traditionen fortlebten. Einzelheiten dazu können aber beim gegenwärtigen Wissensstand nicht gegeben werden. Denn erstaunlicherweise ist Deutschland was die Bronzezeit betrifft, archäogenetisch ein weißer Fleck auf der Landkarte.

Das ist ein Umstand, auf den jüngst der Humangenetiker Razib Khan hingewiesen hat (RKhan2024), und der auch in der neuen Studie (1) bedauernd benannt wird. Und das, obwohl in Jena und Leipzig in Deutschland mit Svaante Pääbo und Johannes Krause die Archäogenetik aus der Taufe gehoben worden ist! Razib Khan hat selbst zum Thema eigene Datensätze zusammen gestellt, da fast jedes Land Europas Veröffentlichungen zur eigenen genetischen Geschichte aufzuweisen hat - nur Deutschland aktuell noch nicht.

Einschub 2.4.24: In einer weiteren neuen Studie wird zu diesem Thema mit Bezug auf eine Studie aus dem Jahr 2021 geäußert (5):

Archäogenetische Studien der letzten Jahre zeigten, daß Schnurkeramik- und Glockenbecher-assoziierte Individuen einander nicht ersetzten, sondern sich langsam vermischten/verschmolzen, was zum genetischen Profil der frühbronzezeitlichen Aunjetzizer Kultur in Mitteleuropa führte.
Recent archaeogenetic studies showed that CW and BB-associated individuals did not replace each other, but slowly admixed/amalgamated, resulting in the genetic profile of the EBA Únětice in Central Europe.

So klar hatten wir das aus der hier zitierten Studie von 2021 gar nicht heraus gelesen in unserem Beitrag zur Auswertung derselben (Stgen2021)! Dort haben wir dieses Zitat jetzt auch nachträglich eingefügt. Diese Aussage paßt sehr gut zu den eben getätigten Ausführungen. Das Zitat wird fortgesetzt (5): 

Vergleichende Untersuchungen der Grabbeigaben der Fürstengräber Mitteldeutschlands zeigen ebenfalls, daß die Aunjetizer Kultur Einflüsse beider Vorgängergruppen in sich aufgenommen hat.
Comparative investigations of the grave goods of the princely burial mounds of central Germany also support that the Únětice material culture incorporated influences from both preceding groups.

Am Ende der Studie wird noch einmal präzisiert (5):

Schon in früheren Studien hat gezeigt werden können, daß die kulturelle Entstehung der Aunjetitzer Kultur in Mitteldeutschland in der Auflösung der Schnurkeramik- in die Glockenbecher-Kultur bestand. Unsere neuen Daten (Supplement-Informationen) zeigen, daß Personen, die mit der Aunjetitzer Kultur in Mitteldeutschland und Böhmen in Verbindung stehen, einen hohen Anteil an Schnurkeramik-bezogenen Vorfahren hatten und daher ein charakteristisches Cluster bilden, das sich im PCA-Raum kaum mit frühbronzezeitlichen Individuen aus Süddeutschland überschneidet. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit früheren genetischen Studien und mit den archäologischen Beweisen, daß die Aunjetitzer Kultur Elemente der materiellen Kultur sowohl der Glockenbecher als auch der Schnurkeramik vereint.
It could be shown in the past that the cultural emergence of the Únětice culture in Central Germany was the result of the CW dissolving into the BB culture. Our new data (Supplementary Information) shows that individuals associated with the Únětice culture in Central Germany and Bohemia carried a high amount of CW-related ancestry, and therefore form a distinctive cluster with little overlap in PCA space with EBA individuals from southern Germany. This result is consistent with previous genetic studies and with the archaeological evidence that the Únětice culture combines elements of the material culture of both the BB and the CW.

Das heißt: Genetisch war die Aunjetizter Kultur eher "germanisch"-nordeuropäisch, kulturell aber womöglich eher keltisch. Und wenn es Heiratsnetzwerke zwischen Bayern und dem Elb-Saale-Gebiet gab, erklärt sich dadurch ganz gut die kleine, frühe genetisch "germanische" Einmischung im keltischen Kulturraum, der inzwischen festgestellt ist (s. Stgen2024). (Ende Einschub)

(Einschub 12.7.24) Aus Sicht der Ortsnamenforschung ist über die Sprache der Aunjetitzer Kultur zu lesen (EurAsisch)

Frage: Sie bezweifeln, daß die inzwischen berühmte Himmelsscheibe von Nebra wirklich keltischen Ursprungs ist, wie weithin angenommen wird. Worauf gründen sich Ihre Zweifel?
Jürgen Udolph: Sie gründen auf mehreren Argumenten: Erstens haben in Sachsen-Anhalt nie keltisch sprechende Siedler gelebt. Es gibt nicht einen einzigen Ortsnamen, der aus dem Keltischen erklärt werden könnte. Zweitens gehört das Gebiet um Nebra herum zu altgermanischem Siedlungsgebiet. In diesem lassen sich ohne Probleme Gewässer- und z.T. auch Ortsnamen finden, die aus indogermanischem Mund in germanischen gekommen sind, oder von germanisch werdenden Indogermanen gegeben und übernommen worden sind. Es gab aber zur Zeit der Entstehung der Himmelsscheibe auch noch kein Germanisch - jedenfalls sprachlich gesehen, d.h., die erste Lautverschiebung war noch nicht durchgeführt worden. Die Gewässernamen in diesem Gebiet entstammen einer Zeit, als es noch keine keltischen, germanischen, italischen oder baltischen Sprachen gab.

Damit wäre gesagt, daß die Menschen der Aunjetitzer Kultur eine proto-germanische Sprache gesprochen haben, vermutlich vergleichbar mit der Sprache anderer Nachkommen der Schnurkeramiker. (Ende Einschub)

Ein ganz anderer Gedanke kommt einem allerdings noch bei einem Blick auf die obigen Verteilungskarten (Abb. 2): nämlich daß die Jamnaja-Kultur ganz im Osten ja im Grunde der slawischen Sprachfamilie zugeordnet werden könnte. Denn uns stellt sich ja schon länger die Frage, warum die Slawen zu einem so ganz anderen Zeitpunkt entstanden sein sollen als die Kelten und die Germanen. Aber kann das plausibel sein, wenn von den Jamnaja zugleich - über Südwanderungen - auch die Armenier, die Hethiter und die Griechen abstammen?! Diese bohrende Frage bleibt also weiter offen und wir dürfen weiter gespannt sein auf die nächsten Jahre.

Die Angelsachsen - Mit ihnen kommt erstmals Schnurkeramik-Herkunft nach England

In Übereinstimmung mit den bisherigen Ausführungen wird dann gesagt (1):

Der Beginn der angelsächsischen Periode in Großbritannien ist mit einer demographischen Bewegung von Kontinentaleuropa her in Verbindung gebracht worden; dieser Übergang spiegelt sich hier in der Verschiebung der Individuen vom Glockenbecher- zu Schnurkeramik-Clustern wider. Darüber hinaus sehen wir ein ähnliches, aber etwas früheres Ergebnis für die Niederlande und Deutschland.
Das Vorhandensein von Glockenbecher-Vorfahren in der norwegischen Wikingerzeit bildet zuvor dokumentierte Migrationen aus keltischen Regionen in Großbritannien und Irland ab. Wir können diese Migrationen hier jedoch bereits in der Eisenzeit (708 n. Ztr.) nachweisen.
In Britain, the beginning of the Anglo-Saxon period has previously been linked to a demographic movement from continental Europe; this transition is reflected here in the shift among individuals from the Bell Beaker to Corded Ware clusters. In addition, we see a similar but slightly earlier result for the Netherlands and Germany.
The presence of Bell Beaker related ancestry in the Norwegian Viking Period represents previously documented migrations from Celtic regions within Britain and Ireland, however here we detect these migrations as early as the Iron Age (1242 BP). 

Wie kamen Menschen mit "keltischer" Glockenbecher-Genetik schon um 700 n. Ztr. nach Norwegen? Als Sklaven so wie in späteren Jahrhunderten? Man wird es zunächst annehmen müssen. Aber hier haben wir den - weltgeschichtlich vergleichsweise so späten - Beginn des germanischen Ausgriffs nach Südwesten und Westen. Die Elbe, die Oder und die Weichsel aufwärts haben sich die Germanen freilich schon früher ausgebreitet, dazu mehr weiter unten. 

Ostgermanen und Westgermanen

In der Studie werden viele Ausführungen gemacht zu innerskandinavischen genetischen Verschiebungen.

Abb. 3: Die früheste schnurkeramische Ausbreitung innerhalb Skandinaviens erfolgte im Wesentlichen über Land (Karte von Joachim Koch) (ADNS2021) - Die Schnurkeramiker kannten noch nicht 24-Stunden-Fahrten ohne Sicht auf Land über das offene Meer, letzteres begann offenbar erst mit Glockenbecher-Leuten, die aber dann in Norwegen keine genetischen Spuren hinterließen

Es wird zu wichtigen innerskandinavischen Vorgängen während des Spätneolithikums und der Frühbronzezeit ausgeführt (1):

Innerhalb Skandinaviens sind drei Cluster erkennbar (s. hier: Abb. 2):
  1. ein frühes skandinavisches Cluster, das die ältesten schwedischen (Streitaxt-Kultur) und dänischen Individuen sowie fast alle Norweger umfaßt,
  2. ein späteres „südskandinavisches“ Cluster, das auf Dänemark beschränkt ist und auf die Südspitze Schwedens, und 
  3. ein zweites späteres „ostskandinavisches“ Cluster, das sich über ganz Schweden erstreckt und sich mit dem des südlichen Skandinavien-Clusters überschneidet.
Within Scandinavia, three clusters are apparent (Extended Data Figure 4): 1) an early Scandinavian cluster, including the oldest Swedish (Battle Axe Culture) and Danish samples and almost all Norwegians, 2) a later ‘Southern Scandinavian’ cluster restricted to Denmark and the southern tip of Sweden, and 3) a second later ‘Eastern Scandinavian’ cluster, spread across Sweden and overlapping with that of the Southern Scandinavia cluster.

Die Ausführungen zu diesen drei Clustern sind nicht gleich sehr eingängig, da vieles sehr neu ist. Lesen wir deshalb, was zusammenfassend dazu im Diskussionsteil geschrieben wird (1):

Obwohl die frühbronzezeitlichen Populationen Skandinaviens alle ihre Abstammung aus der Steppe von Menschen der Schnurkeramik-Kultur ableiten, tragen die frühesten skandinavischen Individuen geringe Anteile lokaler westlicher Jäger-Sammler-Vorfahren, während die späteren östlichen Skandinavier mit litauisch/lettischer Jäger-Sammler-Herkunft modelliert werden können (...), was auf eine spätneolithische Ausbreitung über die Ostsee nach Skandinavien hinein hinweist. Eine solche Ausbreitung ist unseres Wissens nach bislang in der archäologischen Forschung nicht angenommen worden. Der Zeitpunkt fällt jedoch mit der Einführung einer neuen, spätneolithischen Schafrasse in Skandinavien zusammen. Es fällt auch zusammen mit der Ausbreitung eines neuen Bestattungsritus von Galeriegräbern in Südschweden, den dänischen Inseln und Norwegen, einem neuen Haustyp, den ersten dauerhaften Bronze-Netzwerken sowie mit dem Ende eines Ost-West-Gefälles in Skandinavien zwischen 2100 und 1700 v. Ztr..
Although all Early Bronze Age populations of Scandinavia derive their Steppe ancestry from people of Corded Ware culture, the earliest Scandinavian individuals carry small proportions of local Western Hunter-Gatherer ancestry, whereas the later Eastern Scandinavians are modelled with Lithuanian/Latvian Hunter-Gatherer ancestry (...), indicative of a Late Neolithic cross-Baltic migration into Scandinavia. No such migration has to our knowledge been identified in the archaeological record. However, the timing coincides with the introduction of a new, Late Neolithic sheep breed to Scandinavia. It also coincides with the spread of a new burial rite of gallery graves in south Sweden, the Danish islands and Norway, a new house type, the first durative bronze networks, as well as with the end of an eastwest divide in Scandinavia between 4050 and 3650 BP.

Damit ist gesagt: Die Zuwanderung von Glockenbecher-Leuten nach Norwegen hinterließ so gut wie keine genetischen Spuren. Viel wichtiger war aus genetischer Sicht die Ausbreitung "östlicher Skandinavier" nach Westen während dieser Zeit (s. Abb. 3). Diese neue Erkenntnis muß man wohl noch länger auf sich wirken und "sacken" lassen.

Die Erste germanische Lautverschiebung (500 v. Ztr.)

Aber bevor wir dazu kommen, werden wir gleich mit einem neuen spannenden Thema konfrontiert. In der Studie wird nämlich auch die Erste germanische Lautverschiebung (Wiki) angesprochen und die in der Forschung schon seit längerem bestehende Vermutung, daß diese durch demographische Völkerbewegungen ausgelöst worden sein könnten. Die Forscher sehen für die Zeit, auf die diese datiert wird (um 500 v. Ztr.) aber keine wesentlichen demographischen Veränderungen innerhalb Skandinavienes und damit des germanischen Bereichs.

Damit werden wir auf den Umstand gestoßen, daß sich die Germanen bis dahin sprachlich noch gar nicht so weit von den ihnen benachbarten Kelten und anderen indogermanischen Völkern fortentwickelt hatten wie seither durch eben diese Lautverschiebung. Ob die Ursachen für dieselbe nur allein auf der geographischen Abgeschiedenheit der Germanen beruhte? Ganz ohne äußere Einflüsse? 

Diese Frage setzt einige Klärungsbemühungen unsererseits in Gang. Wir fragen uns, ob der Anstoß dazu etwa von Osten, aus dem ostgermanischen Raum gekommen sein kann, aus jenem Raum, in dem es am frühesten Dynamik gegeben hat, und wo die Germanen - grob gesprochen - auf die Skythen gestoßen sind. Es gibt ältere Theorien, nach denen die Skythen die Ursache für das Ende der (keltischen?) Lausitzer Kultur gewesen sind. Nach diesen Theorien könnten die Skythen Träger der Billendorfer Kultur (7. und 6. Jhdt. v. Ztr.) (Wiki) gewesen sein, die benannt ist nach dem Dorf Billendorf bei Naumburg am Bober, einem linken Nebenfluß der Oder, 37 Kilometer südwestlich von Grünberg in Schlesien (Mapcarta). Die Billendorfer Kultur war im Weichsel- und Oderraum verbreitet und breitete sich bis an die Mittlere Elbe aus. Ihr wird insbesondere der skythisch anmutende "Goldschatz von Vettersfelde" (Wiki) zugesprochen. Vettersfelde liegt 37 Kilometer nordwestlich von Billendorf auf der rechten Seite der Lausitzer Neiße, 43 Kilometer nördlich von Bad Muskau (und dem Landschaftspark des Fürsten Pückler [Wiki]), sowie 45 Kilometer nordöstlich von Cottbus. Der dortige Landgraben Werdawa mündet in die Neiße, zehn Kilometer vor seiner Mündung liegt Vettersfelde (s. (MapcartaKomoot), wo man Siedlungsbefunde feststellen konnte. (Der Goldschatz soll nach neueren Annahmen im skythischen Auftrag von griechischen Goldschmieden geschaffen worden sein. Solche griechischen Goldschmiede haben ja später auch noch die Goten in Anspruch genommen.)

Der Odin-Glaube - Wann und von wo kam er nach Skandinavien? 

Die Billendorfer Kultur war nun der südöstliche Nachbar der nördlicher siedelnden Germanenstämme. Durch diese Kultur - so möchten wir hier als Spekulation in den Raum stellen - könnten die Germanen in Berührung gekommen sein mit dem östlichen Odin-Glauben, dessen Herkunft bislang nie abschließend hatte geklärt werden können. Bislang hatten wir vermutet, er könnte mit den Sarmaten (Wiki) in den germanischen Raum gekommen sein. Da die Germanen auch sonst viel von den Sarmaten übernommen haben (Tierstil, Spangenhelm zum Beispiel). Aber mit der Billendorfer Kultur wäre der Kontaktraum zwischen Skythen und Germanen viel breiter gewesen. Und von den damaligen Skythen könnte viel Strahlkraft ausgegangen sein. Die zweite hochdeutsche Lautverschiebung kam mit dem Christentum, warum also sollte die erste germanische Lautverschiebung nicht ähnlich mit der Einführung neuer religiöser Vorstellungen einher gegangen sein?

Die Billendorfer Kultur überschneidet sich geographisch mit der Pommerllischen Gesichtsurnen-Kultur (Wiki). Es wird ausgeführt, daß die Träger dieser letzteren Kultur die Bastarnen gewesen seien. Diese wiesen viel Ähnlichkeit mit den Germanen auf, wiesen aber auch Verbindungen zu den Sarmaten auf. Die Billendorfer Kultur wird in einer Darstellung zur Geschichte der Stadt Dahlen östlich von Leipzig als Nachfolgekultur der dortigen Lausitzer Kultur benannt (von Hartmut Finger). Dort fand sich (GB2017) ...

... eine der ganz wenigen Fundstellen im Gebiet der Lausitzer Kultur, in der außer Siedlungsgruben auch komplette Hausgrundrisse nachgewiesen wurden. Warum diese Siedlung letztlich wieder aufgegeben wurde, konnte nicht geklärt werden. (...) Nachgewiesen ist, daß die bronzezeitliche Bevölkerung aus der Dahlener Heide (...) am Ende der Bronzezeit abgewandert ist. (...) An den noch verbliebenen, bzw. den neuen Siedlungsplätzen der bronzezeitlichen Kultur zeigte sich ab etwa 750 v. Ztr., daß deren Bewohner eine neue Technologie übernommen hatten. Es handelt sich hierbei um die Herstellung und Verarbeitung von Eisen. Es ist die Kultur der "Frühen Eisenzeit", die sogenannte "Billendorfer Kultur". (...) Die Billendorfer Kultur steht in direkter Nachfolge der Lausitzer Kultur.    

Könnte es nicht so sein, daß insbesondere Schmiede neue religiöse Vorstellungen aus einem Kulturraum in einen anderen mitgebracht haben? Da sie ein besonderes Ansehen hatten? Ab dem 6. und 5. Jahrhundert v. Ztr. tritt in der Gegend von Leipzig, so heißt es weiter, die germanische Jasdorf-Kultur auf. Über die Ausbreitung von Eisen lesen wir (PrähArch2021):

Eisen wurde bereits in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus im Vorderen Orient von den Hethitern verwendet. Von dort aus wanderte das Wissen über die Verarbeitung dieses Rohstoffes über Anatolien nach Südosteuropa und gelangte schließlich von dort nach Mitteleuropa.
Die Ausbreitung erfolgte in ihrer ersten Phase zwischen dem 13. und 8. Jahrhundert vor Christus von Griechenland über Mitteleuropa bis in den Norden Dänemarks. Vom 8. bis zum 5. Jahrhundert vor Christus wurden auch die westlichen Teile Europas (England, Frankreich und Spanien), des nördlichen (Schweden, Norwegen) und östlichen (Rußland) mit der Technologie der Eisenverarbeitung (Eisenverhüttung) vertraut. Archäologisch ließ sich bei der Verbreitung der Eisenverarbeitung häufig beobachten, daß zunächst Eisenobjekte importiert, anschließend nachgemacht und dann erfolgreich selbst hergestellt wurden. Es ist demnach festzustellen, daß spätestens um 600 v. Chr. die Eisenverhüttung in ganz Europa verbreitet ist. (...)
Zwei ganz andere Objekte verstreuen sich zur Eisenzeit in Europa. Die Drehscheibe zur Herstellung von Keramik wandert erstmals zu dieser Zeit aus dem mykenisch-griechischen Raum nach Mitteleuropa und läßt sich allerorts auffinden.

Daß sich die germanische Lautverschiebung sehr grob zeitlich überschneidet mit der Einführung dieser neuen Techniken, zugleich mit der Frühphase der Herausbildung der klassischen griechischen Kultur - vermittelt entweder über die Skythen oder die Kelten, könnte dem Geschichtsphilosophen allerlei zu denken geben. Wir werden all diesen Zusammenhängen sicherlich in künftigen Blogbeiträgen noch weiter nachgehen (siehe dazu auch den Nachtrag ganz unten). Zum Verständnis sei noch einmal erwähnt: Die Erste germanische Lautverschiebung brachte - grob gesprochen - die Verschiebung mit (laut Wiki):

  • von Lateinisch "pēs" (siehe "Piedestal" [Wiki]) nach Deutsch "Fuß" 
  • von Lateinisch "piscis" nach Deutsch "Fisch"
  • von Lateinisch "tertius" nach Althochdeutsch "thritto" ("dritte")
  • von Lateinisch "cor" nach Deutsch "Herz"
  • von Lateinisch "canis" nach Deutsch "Hund"
  • von Lateinisch "capiō" nach Deutsch "haben"
  • von Lateinisch "decem" nach Deutsch "zehn"
  • von Lateinisch "frater" nach Deutsch "Bruder"
  • von Lateinisch "hostis" nach Deutsch "Gast".

Wobei "Lateinisch" hier nur als bestes Beispiel für die Art des Sprechens auch in Skandinavien vor der Lautverschiebung angeführt ist. Wie dunkel und "nah"-"entfernt" verwandt auf einmal so viele "Fremdsprachen" innerhalb von Europa für einen erscheinen, wenn man diese Zusammenhänge auf sich wirken läßt. In der Bronzezeit waren unseren germanischen Vorfahren die anderen indogermanischen Sprachen in Europa noch nicht ganz so "fremd" wie uns heute. Denn sie haben eine ihnen noch ähnlichere Sprache gesprochen. Durch diese Erste germanische Lautverschiebung erst hat sich womöglich das eigentlich Besondere des "Germanischen" heraus gebildet.

Mit ihm einher gegangen mag sein eine dumpfe Ahnung, daß nun die weltgeschichtliche Stunde der Germanen geschlagen hatte. Wie unbeholfen auch immer sie dann ins helle Licht der Weltgeschichte eingetreten sein mögen ... 

Vollzog sich die erste Lautverschiebung unbewußt als eine Art "Gegenbewegung", Parallelbewegung, als eine Art "Reaktion" zur Herausbildung der Kultur des klassischen Griechenland?

Und: Gehen wir falsch in der Annahme, daß die germanischen Sprachen durch die erste Lautverschiebung im Charakter "weicher" wurden, "herzlicher" wurden, eine Entwicklung, die in anderen Sprachen - etwa dem Altgriechischen - auf andere Weise auch erreicht worden sein mag? Geschichtsphilosophisch jedenfalls haben wir es hier zu tun mit der sogenannten "Achsenzeit". Und uns wird bewußt, daß dieser Achsenzeit auch der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte zugeordnet werden kann - zwar noch ohne Schriftsprache, zwar mehr als "Barbaren" denn als kultivierte Leute (aus Sicht der Mittelmeerkulturen) - aber dafür auch um so frischer und "unverbrauchter".

Götterdämmerung

Immerhin waren sie zum Beispiel in den kommenden Jahrhunderten fähig, dem indogermanischen Welteneschen-Mythos, dem indogermanischen Mythos von der "Urschlange" eine neue, konkretere Wendung dadurch zu geben, daß sie die "Mitgartschlange" an den Wurzeln der Weltenesche nagen ließen, was zu Erschütterungen des ganzen Baumes führen sollte. Baldur, der Sonnengott, sollte ihnen getötet werden. Ihnen schwante immer mehr eine ungeheuerliche "Götterdämmerung" - aber am Ende derselben auch eine neue "Heilszeit". All das mag sich ohne Schriftkultur im germanischen Bereich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte geistig weiter entwickelt haben - insbesondere in Reaktion auf die Ausbreitung des zutiefst unduldsamen Christentums, das alle Religionen weltweit zu satanischen erklärte. 

Vorbereitet worden mag dieses Bewußtsein auch durch das Miterleben des erschütternden Untergangs der Kelten-Götter, ja, der ganzen keltischen Kultur im Gefolge der Unterwerfung durch Cäsar und Rom (Stgen2021). 

Und es war und ist wahrlich nötig, daß die Germanen frisch und unverbraucht in die Weltgeschichte eingetreten sind, daß sie zuvor 3000 Jahre lang abgeschieden und ausgeglichen in ihrer Heimat gelebt hatten. Welcher Völkergruppe wären denn heftigere Aufgaben zugewachsen durch die Weltgeschichte - als dieser? Im furchtbaren seelischen Aufflammen ist diese Völkergruppe heute begriffen. Soweit sie überhaupt noch Restfunken Lebendigkeit in sich hat bewahren können. Diese Völkergruppe weiß heute: Es geht um das Letzte. Und sie weiß auch: "Wer auf sein Elend tritt, steht höher." So sagte es einer ihrer letzten großen Seher, der ebenfalls eine neue Heilszeit voraus sagte (Friedrich Hölderlin). Genug der Geschichtsphilosophie. - - -

Nachdem Süd- und Ostgermanen gut unterschieden werden können durch die genannte Studie, kann geschaut werden: Welche Völker hatten vorwiegend südskandinavische Herkunft (Angelsachsen, Langobarden) und welche Völker hatten vorwiegend ostskandinavische Herkunft (die ursprünglichen Goten im Weichselraum).

Die Goten - Schon in der Ukraine ging ihre ursprüngliche Genetik verloren

Es finden sich in der Studie auch Ausführungen über die Herkunft der westgermanischen Friesen. Diese wollen wir an dieser Stelle zunächst übergehen. (Die dortige Glockenbecher-Genetik scheint - wie in England - vornehmlich durch Schnurkeramik-Genetik ersetzt worden zu sein.) Über die Goten lesen wir (1):

Die frühesten Individuen der Wielbark-Kultur in Polen (ca. 100 n. Ztr.) sind hauptsächlich ostskandinavischer Abstammung, was auf eine Ausbreitung aus einer Region und Bevölkerung hindeutet, die sich von der der west- und nordgermanischen Bevölkerung unterscheidet, ein Szenario, das möglicherweise mit gotischer mündlicher Überlieferung vereinbar ist. Weiter südlich scheinen die späteren Ostgoten und Westgoten (400-900 n. Ztr.), die kulturell Nachkommen der früheren Goten waren, (genetisch) den einheimischen Südeuropäern ähnlich zu sein. Die beiden Ausreißer aus Spanien haben etwa 50 % nordeuropäische Vorfahren, liegen aber im Gegensatz zu den früheren Wielbark-Individuen entlang der nordöstlich-südöstlichen Ostseeküste. Der genetische Unterschied der Ostgoten- und Westgoten-Populationen von den ostskandinavischen Wielbark-Goten läßt auf eine Übernahme der Kultur und der ostgermanischen Sprache durch südlichere Gruppen schließen.
The earliest individuals from Wielbark, Poland (~1900 BP) are primarily of Eastern Scandinavian ancestry, supporting a population migration from a region and population distinct from that of the West and North Germanic populations, a scenario potentially consistent with Gothic oral history. Further south, the later Ostrogoth and Visigoth individuals (1600 - 1100 BP) who were cultural descendents of the earlier Goths, appear similar to local Southern Europeans. The two outliers from Spain have around 50% northern European ancestry, but unlike the earlier Wielbark individuals, they fall along the Northeast Southeast Baltic cline. The genetic distinction of the Ostrogoth and Visigoth populations from the Eastern Scandinavian Wielbark Goths suggests an adoption of the culture and East Germanic language by the more southern groups.

Es stellt sich also mit dieser Studie heraus, daß die "Goten" schon in der Ukraine - und um so mehr dann später in Dalmatien, Italien und Spanien - gar nicht mehr vorwiegend skandinavischer Herkunft gewesen sind. An anderer Stelle heißt es dazu (1):

Die späteren Personen, die mit den ursprünglich ostgermanischsprachigen Gruppen, den ukrainischen Ostgoten und den Westgoten von Iberien, in Verbindung gebracht wurden, scheinen (genetisch) meistens Einheimische zu sein.

Sie scheinen also genetisch aus der Region vor Ort (aus der Ukraine) zu stammen, nicht aus Skandinavien. Weiter (1): 

Zwei Ausnahmen bilden Goten aus Iberien, deren genetische Herkunft auf die nordöstlich-südöstliche Ostseeküste hindeutet (von denen einer eine nordeuropäische Y-Haplogruppe trägt), was auf einen Ursprung in Nordosteuropa, aber nicht speziell in Ostskandinavien schließen läßt. Diese Abstammung umfaßt Populationen, die mit der Ausbreitung der slawischen Bevölkerung in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik in Zusammenhang stehen und mit der aus Nordosteuropa stammenden baltischen Vorfahren aus der Bronzezeit in Zusammenhang stehen. Mit den aktuell zur Verfügung stehenden Daten ist eine genauere Bestimmung des Ausgangspunktes der slawischen Völkerwanderungen noch nicht möglich.
Most later individuals associated with the originally East Germanic-speaking groups, the Ukrainian Ostrogoths and the Visigoths of Iberia, appear to be locals (Supplementary Note 6.9.6). Two exceptions are from Goths from Iberia, who genetically fall on the Northeast-Southeast Baltic cline (one of which carries a Northern European Y haplogroups), suggesting an origin in North East Europe, but not Eastern Scandinavia specifically. This cline includes populations related to the spread of Slavic populations in Poland, Hungary and the Czech Republic and are to be related to the Baltic Bronze Age ancestry originating in North East Europe. With the current sampling, determining a more precise homeland of the Slavic migrations is not yet possible.

Diese Ausführungen werfen natürlich einen wichtigen Lichtschein auf die Geschichte und das genetische "Verschwinden" der Goten in Dalmatien, Italien und Spanien (s. Stgen2023). Vielleicht waren sie genetisch gar nicht mehr bis in die Balkan-Region gekommen und vielleicht können die späteren Slawen-Züge gegen Byzanz und Griechenland - wie sich hier andeutet - als die Fortsetzung der vormaligen Goten-Züge gegen Byzanz und Griechenland verstanden werden. Da schon Menschen mit "slawischer" Genetik als "Goten" diese Züge unternommen hatten. Die Archäogenetik bringt wahrlich immer einmal wieder neue große Überraschungen mit sich. 

Abschließend noch einmal die Zusammenfassung (der "Abstract") der Studie (1):

Wir finden Hinweise auf eine bisher unbekannte, groß angelegte bronzezeitliche Migration innerhalb Skandinaviens, die ihren Ursprung im Osten hat und sich im Westen und Süden ausbreitet, was einen neuen potenziellen Antriebsfaktor für die Ausbreitung der germanischen Sprachgemeinschaft darstellt. Dieser ostskandinavische genetische Cluster macht sich erstmals 800 Jahre nach der Ankunft der Schnurkeramik-Kultur bemerkbar, der ersten Steppenpopulation, die in Nordeuropa auftauchte, und eröffnet ein neues Szenario, das eher auf eine spätneolithischen anstatt auf eine mittelneolithische Ankunft der germanischen Sprachgruppe in Skandinavien schließen läßt. Darüber hinaus deutet die nicht-lokale Jäger-Sammler-Abstammung dieses ostskandinavischen Clusters eher auf einen baltischen maritimen als auf einen südskandinavischen Landeintritt hin.
We find evidence of a previously unknown, large-scale Bronze Age migration within Scandinavia, originating in the east and becoming widespread to the west and south, thus providing a new potential driving factor for the expansion of the Germanic speech community. This East Scandinavian genetic cluster is first seen 800 years after the arrival of the Corded Ware Culture, the first Steppe-related population to emerge in Northern Europe, opening a new scenario implying a Late rather than an Middle Neolithic arrival of the Germanic language group in Scandinavia. Moreover, the non-local Hunter-Gatherer ancestry of this East Scandinavian cluster is indicative of a cross Baltic maritime rather than a southern Scandinavian land-based entry.

Wir sehen, daß diese Zusammenfassung nur ein einziges Thema aus den vielen Themen der Studie heraus greift. Warum die germanischen Sprachen allerdings erst mit der Schnurkeramiker-Ausbreitung von Finnland her nach Skandinavien gekommen sein sollen, wird uns nicht so recht deutlich. Sollten die west- und die ostskandinavischen Schnurkeramiker-Populationen sich nach 800 bis tausend Jahren Trennung nicht immer noch gegenseitig verstanden haben können? Die Studie selbst spricht von einer kulturellen Homogenisierung innerhalb Skandinaviens in den nachfolgenden Jahrhunderten.

Manches in der Studie enthaltene wertvolle Detail mag uns bisher noch entgangen sein. Es wurde erkennbar, daß in der Studie Anstöße zu weiterer Forschung nach vielerlei Richtungen hin enthalten sind. Die Archäogenetik verändert weiterhin - und oftmals immer noch sehr grundlegend - altüberkommene Geschichtsbilder oder schafft Klarheit, wo es bisher nur "Raten und Meinen" gab.

Nachtrag: Woher kam Odin? Warum kam er?

Indem wir den Themen "skytho-sarmatischer Tierstil" und "sibirische Tierstil" nachgehen, stoßen wir auf einen aktuellen Aufsatz (2), in dem sich zudem der Hinweis findet auf eine interessante Studie aus dem Jahr 2017, die auf der Grundlage unter anderem einer berühmten Studie des Religionspsychologen Mircea Eliade (1907-1986) (Wiki) aus dem Jahr 1951 (3) dargelegt, daß das achtbeinige Pferd Sleipnir des germanischen Gottes Odin viele Parallelen aufweist mit Vorstellungen im sibirischen Schamanismus. Es wird dann gefragt (4):

Wie gelangten diese Motive in die nordische Kultur? Eine Erklärung könnte sein, daß die protogermanischen Völker, Vorfahren der Nordmänner, das Konzept des schamanischen Pferdes durch das Interagieren mit den Skythen in Osteuropa übernommen haben. Es gibt sprachliche Hinweise darauf, daß diese beiden Gruppen in Verbindung miteinander standen. Zwei Wörter, *hanapiz „Hanf“ und *paidō „Umhang“, wurden vor der Ersten germanischen Lautverschiebung ins Protogermanische entlehnt und stammen höchstwahrscheinlich aus einer iranischen Sprache (Ringe, 296-297). Noch wichtiger ist, daß das Wort paþaz „Weg“ aus einer iranischen Sprache ins Urgermanische entlehnt worden sein muß, da der interdentale Frikativ in der Wortmitte nur in diesem Wort in den iranischen Sprachen vorkommt (Mayrhofer, 224-230; Ringe, persönliche Mitteilung). Im Gegensatz zu den ersten beiden wurde es jedoch nach der Ersten germanischen Lautverschiebung entlehnt. Ein weiteres Wort, wurstwą „Arbeit“, existiert nur im Gotischen und kann nicht vom protogermanischen Wort für „Arbeit“ abgeleitet werden, es könnte also auch eine Entlehnung aus einer iranischen Sprache sein.
How did these motifs enter Norse culture? One explanation might be that the Proto-Germanic peoples, ancestors of the Norse, adopted the concept of the shamanic steed through interaction with the Scythians in Eastern Europe. There is linguistic evidence indicating that these two groups were in contact. Two words, *hanapiz ‘hemp’ and *paidō ‘cloak,’ were borrowed into Proto-Germanic before the operation of Grimm’s Law and most likely from an Iranian language (Ringe, 296–297). Even more importantly, the word paþaz ‘path’ must have been borrowed into Proto-Germanic from an Iranian language, as the interdental fricative in the middle of the word is only present in this word in the Iranian languages (Mayrhofer, 224–230; Ringe, personal communication). In contrast to the first two, however, it was borrowed after the operation of Grimm’s Law. An additional word, wurstwą ‘work’ survives only in Gothic and cannot be derived from the Proto-Germanic word for ‘work,’ so it may also be a borrowing from an Iranian language.

Es wird außerdem darauf hingewiesen, daß sich die Darstellung eines achtbeinigen Hirsches auch bei den Thrakern findet. Dem möchten wir den Gedanken anfügen, daß der mythische Begründer der orphischen Bewegung im antiken Griechenland, Orpheus selbst, ja ein Thraker gewesen sein soll (nach der Behauptung vieler). Insbesondere der Weltentstehungsmythos der orphischen Bewegung - Urei und Urschlange - mag manche ähnlich ekstatisch-östlichen Elemente enthalten (Stgen2022), die Verwandtschaften aufzeigen könnten sowohl mit dem nordischen Mythos wie mit sibirischen mythischen Vorstellungen.

Wenn wir Odin mehr aus orphischem Geiste heraus auffassen würden, würden wir womöglich innerlich einen direkteren Bezug zu ihm aufbauen können. Wir könnten dann vielleicht verstehen, daß die Germanen von Odin ähnlich fasziniert gewesen sein konnten wie die Griechen von Orpheus. Odin würde dann - auf der Linie der andernorts behandelten Hesperien-Deutung Hölderlins - mitgeholfen haben, das heilige Pathos, das Feuer des Himmels in den ansonsten gar zu nüchterneren Germanenherzen zu entflammen. Freilich: diese Begeisterung brachte sie zunächst vor allem dazu, erobernd in fremde Länder zu ziehen mitsamt ihrem Völkerwanderungsgott Odin. Die Übernahme allein des Wortes "Arbeit" von Seiten der Skythen reichte nicht, um nun wirklich zugleich auch diszipliniert arbeiten zu lernen. Dafür bedurfte es doch noch anderer Mittel.

Ob sich der Missionar Willibrord dessen bewußt war oder nicht: Seine Religion brachte auch eine neue Arbeitsethik nach Germanien: die benediktinische. Und Luther formte sie später um zur protestantischen Arbeitsethik (Wiki). Und dreihundert Jahre später war Schiller in der Lage zu dichten (Zen):

Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige
Stehst du an des Jahrhunderts Neige,
In edler stolzer Männlichkeit,
Mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle,
Voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille,
Der reifste Sohn der Zeit.

Er, der Mensch, wurde - nach Schiller - zu einem so reifen Menschen durch Kunst. Die Kunst gab dem Menschen die Menschlichkeit und Reife. Es sind deshalb die Künstler, denen Schiller gegen Ende seines Gedichtes zuruft (Zen):

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!

Wichtiger aber noch als die Kunst mag heute sein das Aufeinander-Hören. Denn "Zuhören ist heilig" - so wie auch den Griechen, Kelten und Germanen Zuhören heilig war (Stgen2024).

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  1. Steppe Ancestry in western Eurasia and the spread of the Germanic Languages. By Hugh McColl (...) Kristian Kristiansen, Martin Sikora and Eske Willerslev. bioRxiv. posted 14 March 2024 (Biorxiv)
  2. Çağıl Çayır: War Germanen-Gott Odin ein Türke? Januar 2024 (Nex24/2024)
  3. Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Rascher, Zürich 1957 (Neuausgabe Suhrkamp, Frankfurt am Main (EA Paris 1951)
  4. Kristen Pearson: Chasing the Shaman’s Steed. The Horse in Myth from Central Asia to Scandinavia. Sino-Platonic Papers, hrsg. von Victor H. Mair, Mai 2017 (pdf)
  5. Penske, S., Küßner, M., Rohrlach, A.B. et al. Kinship practices at the early bronze age site of Leubingen in Central Germany. Sci Rep 14, 3871 (2024), 16.2.2024 (Nature), https://doi.org/10.1038/s41598-024-54462-6