Sonntag, 25. Dezember 2022

"Besuche voll Freude uns, die Kenner der Feiern, zur heiligen, leuchtenden Weihe"

Ist die orphische Lebenshaltung und Weltauffassung der Antike die zukunftsträchtigste, die wir kennen?
  • In der Vorstellung vom Weltei, einer urindogermanischen Vorstellung, ist die Entdeckung des Urknalls des 20. Jahrhunderts vorweg genommen worden
  • Das Feiern dieses unseres Ursprungs im antiken, orphischen Sinne könnte der angemessenste Umgang mit den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen sein
  • Die orphischen Gesänge waren Schullektüre - so wie die "Ilias" 
  • Für die antiken Griechen sind die Gesänge des Orpheus an Schönheit nur von denen des Homer übertroffen worden 
 

1. Einleitung

Verloren geglaubte Gesänge des Orpheus (Wiki) sind wieder entdeckt worden. So wurde es im September 2021 gemeldet (1-4).

Abb. 1: Symposium, Wandmalerei im "Grab des Tauchers", Südwand, gefunden bei Paestum in Süditalien, etwa 475 v. Ztr.

Merkwürdig beziehungslos ist diese Meldung von der Wissenschaft an die Gesellschaft weiter gegeben worden. Merkwürdig anteilnahmslos hat die Gesellschaft diese Meldung entgegen genommen. Der Versuch einer geistesgeschichtlichen Einordnung und Würdigung aus diesem Anlaß wurde nicht unternommen. Nicht ansatzweise.

Wer denn eigentlich war Orpheus? Was bedeutete er für die griechische Antike? Mehr aber noch: Was bedeutet er für uns heute? Was könnte er für uns heute bedeuten?

Erst während wir diesen Beitrag nach und nach - anfangs ein wenig zäh und mühsam - erarbeiten, fragen wir uns, was es mit diesem merkwürdigen "Weltei" der Orphiker eigentlich auf sich hat (Abb. 2). Und erst aus Anlaß der Veröffentlichung dieses Beitrages machen wir uns wirklich klar, daß es sich doch schlicht um nichts geringeres handelt als um den fortschrittlichsten Gedanken, den die Antike überhaupt hervor gebracht hat. Er war so fortschrittlich, daß er erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt voll gewürdigt werden kann, nämlich seit bekannt ist, daß unser Universum einen Anfang hatte, daß es aus einem Urknall heraus, also schlichtweg aus einem "Weltei" heraus entstanden ist!!!

2. Das Weltei - Eine indogermanische Vorstellung

Als ein geschichtliches Zeugnis für die Orphiker wird das Grab eines jungen Mannes im unteren Italien angeführt (Wiki) (Abb. 1 und 2). Nämlich um dessen Wandmalereien willen, in der sich auch die Darstellung eines einzelnen jüngeren Mannes findet, der in der linken Hand ein Ei hält. In der rechten Hand hält er eine siebensaitige Lyra (Abb. 2) (Aurich, S. 13). Das Ei, so sagt uns die Wissenschaft, ist eine Anspielung auf das "Weltei" (Wiki), aus dem - nach der Weltlehre des Orpheus (Wiki) - die Welt entstanden ist. Aufgrund dessen wird geschlußfolgert, daß es sich bei den übrigen zwölf Männern des sonst dargestellten Symposions um Anhänger des Orpheus handelt und um Menschen, die - in orphischer Weltauffassung - die Macht des Gesanges, der Musik geschätzt haben, erkennbar auch daran, daß sowohl auf der Nord- wie auf der Südwand des Grabes Musikinstrumente dargestellt sind, nämlich insgesamt vier Stück. 

Doch eben nicht nur die Macht der Musik war ihnen wichtig. Auch die Lehren des Orpheus waren ihnen wichtig. Sie gedenken ihrer, sie umsinnen sie. Darauf deutet das Ei. Und schon diese Vorstellung vom Weltei als Ursprung der Welt ist ja - aus heutiger Sicht - außerordentlich fortschrittlich. Auch die heutige Erklärung der Entstehung des Universums nimmt ein "Ur-Ei" an, das aus und mit dem Urknall heraus entstanden ist.

Abb. 2: Mann mit Weltei und siebensaitige Lyra - Ausschnitt aus Abb. 1

Zu diesem Ur-Ei lesen wir nämlich (was wir in diesen Blogbeitrag erst nachträglich am 25.12.22 einarbeiteten) (Wiki):

Es symbolisiert in den Weltentstehungslegenden vieler indoeuropäischer Kulturen den absoluten Urzustand des Universums, unter anderem in der indischen, griechischen, persischen und den baltischen.

Im weiteren lesen wir dann, daß sogar die "Urschlange", die ja im germanischen Kulturraum von der Mitgartschlange verkörpert war, dieses Urei umschlungen hält, daß also hier zwei Prinzipien zugleich am Wirken sind: das entstehende und das vernichtende Prinzip (Wiki):

Das Ei wird oft mit einer um es gewundenen Schlange dargestellt. In einem orphischen Hymnos wird er angerufen:
"Urwesen, doppelgestaltiger, ätherdurchfliegender Riese, 
der du dem Ei entschlüpftest, prangend mit goldenen Schwingen,
brüllend so laut wie ein Stier, du Ursprung der Götter und Menschen …
Seliger, Kluger, an Samen Reicher, besuche voll Freude
uns, die Kenner der Feiern, zur heiligen, leuchtenden Weihe."
Ähnlich wie der ägyptische Amun gilt auch der orphische Protogonos/Phanes als eine besonders "geheimnisumwitterte Gottheit". Er zieht den "Kennern der Feier" den "Schleier der dunstigen Finsternis fort von den Augen".

Sofort wird uns klar: Wie angemessen ist eine solche Anrufung, eine solche Bezugnahme auf die Urkräfte des Universums im Zusammenhang mit der Feier des Lebens selbst. Sofort wird uns klar: Wie viel Lebensbejahung in dieser orphischen Weltlehre enthalten ist, was für eine durch und durch von Freude erfüllte Lebensanschauung. Wie kommt es, daß wir - mit der Wissenschaft - seit Jahrzehnten von diesen Urkräften nicht nur Ahnungen haben, sondern sicher um sie wissen. Und uns dennoch nicht - feierlich - auf sie beziehen? So wie die antiken Griechen? Daß wir unser Wissen nicht feiern? In Andacht, Ehrfurcht, Freude?

So viele Fragen tauchen hier auf, die noch nicht ansatzweise gestellt, geschweige denn beantwortet sind.

Die Phrase "brüllend so laut wie ein Stier" ist - für die Zeiten der Antike - eine angemessene Vorwegnahme jener Urgewalt, jener Urkraft nehmen, von der die heutige Wissenschaft zu berichten weiß (siehe etwa Paul Davies "Die Urkraft"). Und ist es nicht ungeheuer bewegend zu erfahren, daß die Entstehung des Universums aus einem Ei sogar schon von den Indogermanen vorweg genommen worden war, und zwar offenbar doch schon von jenen Urindogermanen, die auch - unter anderem - die Göttin der Morgenröte anbeteten (Stgen2021)?

Abb. 3: Orpheus unter den Thrakern, Mitte 5. Jhdt. v. Ztr., Athen - Rotfigurige Vasenmalerei - Ebenfalls mit siebensaitiger Lyra dargestellt

Was für einen tiefen Blick in die Vergangenheit erhalten wir hier? Nicht nur älteste Bestandteile unserer Jahrtausende alten Märchen lassen sich auf die Urindogermanen zurück führen (Wiki). Nein, mehr noch, sogar die angemessenste Weltentstehungs-Lehre, die uns aus vorwissenschaftlicher Zeit überkommen ist, stammt von ihnen.

Damit ist doch nichts weniger gesagt als daß die Urindogermanen der Chwalynsk-Kultur keineswegs nur jene Spezialisten im Kriegshandwerk waren, als die wir sie hier auf dem Blog bislang wahrgenommen hatten, sondern zugleich auch schon die erhabendsten Philosophen!!! Vielleicht deshalb auch diese riesigen Kurgane, in denen sie sich bestatteten, und die zeigen, daß sie "groß" von sich dachten. Vielleicht deshalb. 

Natürlich wird man auch nicht ausschließen können, daß die Urindogermanen diese Vorstellung von anderen Kulturen übernommen haben. Schließlich findet sich die Vorstellung vom Urei auch in der chinesischen, ägyptischen und finnischen Kultur. (Soweit der Nachtrag vom 25.12.22, ergänzt durch weitere Gedanken am 3.2.23.)

3. "Besuche voll Freude uns, die Kenner der Feiern, zur heiligen, leuchtenden Weihe"

Ein anderes Zeugnis von der Orpheus-Verehrung findet sich auf der rotfigurigen Vasenmalerei aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Ztr.: Orpheus singt und andächtig lauschen die Thraker, seine Stammesangehörigen. So ist es dargestellt in einer der ältesten bildlichen Darstellungen zum Orpheus-Mythos (Abb. 3).  

Orpheus ist also die Verkörperung der Feier und darin insbesondere der Urgewalt des heiligen Gesanges, der Urgewalt der Dichtung, der Urgewalt der Musik, der Urgewalt des Kulturellen, das sich in eins setzt mit den urgewaltigen Kräften der Weltenschöpfung.

Vor der Verbreitung der Schriftkultur in einem Volk verschwimmt alle Überlieferung im Legendären, Sagenhaften und Mythischen. Daß der griechische Dichter Homer eine historische Gestalt gewesen ist, das glaubt man aufgrund des großen Wurfs und der großen Einheitlichkeit seiner Dichtung annehmen zu können. Sicher kann man sich dessen freilich nie sein. Behauptetermaßen nun aus einer Zeit noch ein oder zwei Generationen vor Homer sollen jene Schriften des Sängers Orpheus (Wiki) stammen, die ähnlichen Einfluß auf das Denken und Erleben der antiken Griechen hatten wie die Gesänge des Homer.

Und diese gewaltige kulturelle Kraft der Orpheus-Überlieferung ist insbesondere auch daran noch erkennbar, daß diese Dichtungen des Orpheus offenbar noch gründlicher scheinen zerstört worden zu sein - vom kulturfeindlichen und kulturzerstörerischen Christentum - als viele andere literarische Überlieferungen der Antike.

4. Die Liebesgeschichte um Orpheus und Euridike ist Ausdruck einer Verfallszeit

Wer sich mit Orpheus beschäftigt, muß sich außerdem bewußt machen, daß die romantische Liebes-Geschichte rund um Orpheus und Eurydike eine spätere Zutat zu diesem Mythos ist, die von dem römischen Dichter Vergil stammt, daß sie also gegenüber dem zuvor eher unanschaulichen, weniger scharf umrissenen und damit weniger gut "greifbaren", viel rätselhafteren Orpheus-Bild eine eher schlichte und sehr "greifbare" Liebesgeschichte in den Vordergrund stellt, die die Urgewalt des ursprünglichen Mythos viel zu stark in den Hintergrund treten läßt.

Sie stellt keinen ursprünglichen Wesensbestandteil der Überlieferung zu Orpheus dar (Aulich, S. 10). Ursprünglicher Wesensbestandteil war vielmehr die Emphase der Anhänger der orphischen Bewegung in Bezug auf Gesang, auf Musik und auf Dichtung, die sich in eins setzt mit den Kräften, die schon in den Uranfängen des Universums wirksam waren. Diese Emphase ist das "Herzstück" dieser Überlieferung und der orphischen Bewegung (Aulich, S. 12).

Zwar galt auch lange als eine der ältesten Orpheus-Darstellungen der Geschichte - und gilt es mitunter noch heute - das Relief von "Eurydike und Orpheus, von Hermes begleitet" (Aulich, S. 10) (Abb. 4). Nach jüngerer Deutung handelt es sich bei diesem Kunstwerk aber um eine typische neuattische Neuschöpfung (Nulton 2009), die aus den letzten vor- und ersten nachchristlichen Jahrhunderten (Wiki) stammt, bei der es sich also nicht um eine römische Kopie eines klassischen Reliefs handelt, das kurz nach Vollendung des Parthenon in Athen entstanden sei und in sehr ähnlichem Stil wie die Figuren des Parthenon gehalten wäre - wie es zuvor gemutmaßt worden war (Cambridge). Das Parthenon war 438 v. Ztr. in Athen vollendet worden (Wiki). Das Relief hätte dementsprechend - nach älterer Auffassung - von dem Bildhauer Phidias selbst stammen können oder von einem seiner Schüler.

Abb. 4: Späthellenistische Ausdeutung der Orpheus-Überlieferung: Euridike wird von Orpheus aus der Unterwelt geführt

Aber romantische Liebe in einer solchen Stimmung und in einem solchen Sinne wie die Geschichte von Eurydike und Orpheus war kein Thema der klassischen Griechen. Deshalb ist es plausibler, daß dieses Relief eine Neuschöpfung der neoattischen Epoche darstellt, also aus jener Zeit, in der auch Virgil den Orpheus-Mythos als romantische Liebesgeschichte neu faßte. Der Begriff des neo-attischen Kunststils stammt im übrigen von dem deutschen Kunsthistoriker Friedrich Hauser (1859-1917).

Es ist nach der Wissenschaft nicht ausgeschlossen, daß Orpheus eine historische Figur gewesen ist. Einheitlich wird angenommen, daß Orpheus aus Thrakien stammte. Zum Teil wird angenommen, daß Orpheus den Dionysos-Kult seiner Zeit reformiert hat. Orpheus wurde - wie oben schon angedeutet - eine eigene Theogenie, ein eigenes Welterklärungsmodell zugesprochen, das in Kernbestandteilen überraschend modern anmutet. Zusammen genommen mit der Hochwertung des Kulturellen, des Feierlichen, des Gesangs, der Musik und der Dichtung bietet die orphische Bewegung viele Anknüpfungspunkte für eine moderne, zukunftsgerichtete Kulturgestaltung. 

Das wird uns hier schlagartig bewußt.

5. Ein "Orphischer Kreis" heute

[25.12.22] Und dieser Umstand weckt die Erinnerung daran, daß es ja einen von Baal Müller (geb 1967) (Wiki) und Uwe Nolte (geb. 1967) (Wiki) begründeten "Orphischen Kreis" gibt (den wir bislang nie hatten einordnen können). Dieser scheint den in unserem Beitrag entdeckten Zusammenhängen schon seit Jahren nachzugehen (Fb). Da der von Baal Müller geleitete Telesma-Verlag Bücher von mehreren äußerst bösartige Schriftstellern wieder aufgelegt hat - oder über diesselben - wie unter anderem solche von dem "Religionsbastler" des Dritten Reiches, dem Freimaurer Friedrich Hielscher, bzw. Bücher über denselben, der zugleich guter Freund war des Freimaurers, Untergangspropheten, Katholiken und offensichtlichen Satanisten Ernst Jünger, sowie vieles ähnliche auf dieser Linie - deshalb haben wir diesen "Orphischen Kreis" niemals auch nur ansatzweise wahrnehmen können als einen Anknüpfungspunkt, der weiterführend sein könnte. 

Ganz im Gegenteil. Es scheint sich uns hier doch eher um den typischen Versuch von Hijacking zu handeln, von Hijacking von durch und durch begeisternden, heidnischen Gedanken. Ein solches Hijacking von positiv besetzten Gedankeninhalten durch monotheistische und okkulte, geheime Männerorden ist die Geschichte insbesondere der letzten Jahrhunderte ja übersäät. Ein solches Hijacking ist ja schon von Seiten der antiken Juden gegenüber der orphischen Bewegung versucht worden. 

Von dem durch und durch lebenszugewandten, hellen, leuchtenden Geist der Antike findet sich in den Kunstwerken dieser Künstlergruppe des "Orphischen Kreises" dementsprechend auch so gut wie nichts. Alles mutet düster, dunkel, "barbarisch", "nordisch" an, also alles so wie Christen beliebten, die germanische Welt des Nordens wahrzunehmen und darzustellen, nämlich als: teuflisch. Das beliebte Spiel der Satanisten mit tausend Masken: Das Teuflische ist das Gute, das Gute ist das Teuflische, findet sich hier - und stößt ab. 

In Videos zeigt sich ja Baal Müller dementsprechend auch gern mit dem Kreuz der Satanisten auf der Stirn. Von antikem griechischen Geist kann hier also Nullkommanichts die Rede sein. [Ende Ergänzung]

6. Empedokles, Platon, Neuplatoniker, Herder, Hölderlin, Rilke

Schon viele Philosophen der antik-griechischen Kultur weisen Anklänge an "orphisches Denken" auf. So etwa Empedokles, ebenso Platon und ebenso auch viele Neuplatoniker. Entsprechend viele Menschen in der griechischen Kultur gab es insgesamt, die sich auf Orpheus in religiösem Sinne bezogen haben. Es ist deshalb von einer religiösen Strömung die Rede, die die Orphiker (Wiki) genannt werden.

Johann Gottfried Herder war es, der das orphische Denken zurück holte in das kulturelle Bewußtsein des Abendlandes. Hölderlin bezog sich in seinem Dichten auf Orpheus. Nietzsche ebenfalls. Und noch Rainer Maria Rilke dichtete im Nachbeben der Entstehung seiner Dunineser Elegien "Sonette an Orpheus". Die orphische Weltwahrnehmung wirkte also sehr stark weiter, ist aber heute noch weitaus mehr in den Hintergrund des kulturellen Bewußtseins getreten als - etwa - die Dichtungen des Homer. Um so auffallender, daß es ausgerechnet Randgruppen eines ganz bestimmten Spektrums sind, die diese Bewegung gegenwärtig wieder beleben wollen.

7. Originale aus der orphischen Dichtung und Theogenie 2021 entdeckt

Der Wiedererweckung des orphischen Gedankens war in der Frühen Neuzeit der Weg insbesondere durch die Musik geebnet worden. Zahllose Opern sind zu dem Thema "Orpheus und Euridike" geschrieben worden, die berühmteste stammt natürlich von Christoph Willibald Gluck (1714-1787) aus dem Jahr 1762. Johann Gottfried Herder hat 1774 die oft zitierten Worte über Orpheus geschrieben (zit. n. 1, S. 5):

"Hätten wir von diesem göttlichen Urheber der griechischen Weisheit und Religion seine unverfälschten Schriften: so hätten wir in ihnen den Schatz der ältesten Meinungen, den wahrsten Ursprung der heiligen Dichtkunst unter den Griechen."

Und dieser Wunsch des Herrn Herder soll sich nun knapp 250 Jahre später, im Jahr 2021 - ein kleines Stück weit - erfüllen: An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien hat man - ausradiert unter mittelalterlichen, christlichen Texten - originale Ausschnitte aus der Theogenie-Dichtung gefunden, die in der Antike dem Orpheus zugeschrieben worden ist, und die bislang nur durch indirekte Erwähnungen, Hinweise, Verweise und Zitate in erhaltenen antiken Schriften bekannt gewesen war (2-6).

Abb. 5: Die Klage des Orpheus - Paul Duqueylard (1771-1845)

Es handelt es sich um die sogenannten "Orphischen Hymnen" (Wiki). Die orphischen Hymnen bilden eine zentrale Textüberlieferung der antik-religiösen Strömung, die sich Orphiker (Wiki) nannte, und auf die sich in der Spätantike insbesondere auch die Neuplatoniker bezogen. Aber zu dieser Strömung zählte sich zum Beispiel auch schon ein solch berühmter vorsokratischer Philosoph wie Empedokles. Empedokles hinwiederum ist ja unter anderem berühmt geworden durch die Dichtungen von Friedrich Hölderlin, der in Empedokles einen Geistesverwandten sah.

In außerordentlich weite geistesgeschichtliche Bezüge also läßt sich diese Neuentdecktung stellen!*) Über die "Orphischen Hymnen" ist zu erfahren (Wiki):

Schließlich erwähnt Pausanias, daß bei den Mysterienfeiern von Phlya in Attika die Priester aus dem Geschlecht der Lykomidai kurze hymnische Lieder sangen, als deren Verfasser Orpheus galt und die nach Pausanias den Vergleich mit den Homerischen Hymnen nicht zu scheuen brauchten.

An anderer Stelle lesen wir (Wiki):

Im 2. Jahrhundert berichtete der Schriftsteller Pausanias von hymnischen Gesängen, die Orpheus verfaßt habe und die von den Lykomiden, den Angehörigen eines athenischen Priestergeschlechts, bei ihren Kulthandlungen gesungen würden. Pausanias meinte, die Hymnen des Orpheus würden an Schönheit nur von denen Homers übertroffen.

All dies macht klar, daß Homer und Orpheus gemeinsam betrachtet werden müssen, wenn man sich den Gesamtgehalt der antik-griechischen Kultur erschließen will, wenn es also um wesentliche Dichtungen geht, die an der Formung der antik-griechischen Kultur und dem in ihr vorherrschenden philosophischen und religiösen Denken, die an ihrem "Zeitgeist" mitgewirkt haben.

Wir erfahren, daß die religiöse Strömung der Orphiker wahrscheinlich aus Thrakien stammt, womöglich schon aus homerischer Zeit und aus der Zeit homerischer Heroengräber (mit denen wir uns seit einiger Zeit auch hier auf dem Blog beschäftigen).

8. Zerstückelt und neu geschaffen - Der exzentrische Ursprungsmythos

Die Weltentstehungslehre und menschliche Abstammungslehre verläuft nach den Orphikern in vielen Phasen. Über die fünfte Phase, über die Herrschaft des Zeus und die Schaffung des Menschengeschlechtes wird folgende Geschichte zu Zeus erzählt (Wiki):

Mit seiner Mutter zeugt er (Zeus) die Tochter Persephone, mit Persephone den Sohn Dionysos.

Und weiter (Wiki):

Später überläßt Zeus die Herrschaft dem noch kindlichen Dionysos, womit die sechste Phase beginnt.

Und weiter (Wiki):

Gegen Dionysos stachelt Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, die Titanen auf. Die Titanen locken Dionysos in eine Falle, töten und zerstückeln ihn. Dann kochen sie seinen Leichnam und beginnen ihn zu verzehren, wodurch sie etwas von seinem Wesen in sich aufnehmen.

Und weiter (Wiki):

Zeus überrascht die Mörder jedoch und verbrennt sie mit seinem Blitz zu Asche. Aus der Asche, in der Titanisches mit Dionysischem gemischt ist, steigt Rauch auf und es bildet sich Ruß; daraus erschafft Zeus das Menschengeschlecht. 

Die Menschen werden sich also gedacht als geformt aus dem Ruß von verbrannten Titanen, die einen zerstückelten Dionysos aufgegessen haben, der in der Folge eines zweimaligen Inzestes von Zeus gezeugt worden ist. Ganz gelassen kann hier gesagt werden: Eines scheint sicher: Von Trivialitäten waren die Griechen gelangweilt. Wenn es nicht exzentrisch war, waren sie davon nicht "gepackt",  erschüttert und zur Emphase getrieben.

Da wir aber in der modernen Kosmologie ebenfalls "unglaubliche" Vorgänge von Kraftentladungen, aufbauenden und vernichtenden Kräften sehen, scheinen hier gerade deshalb doch sehr viele Anknüpfungspunkte zum modernen Weltbild gegeben zu sein. Das Werden des Weltalls aus "Nichts" heraus oder auch nur das "Leben" eines einzelnen Sterns in diesem Universum, sowie das "Leben" von Galaxien war und ist aben auch nie "trivial" in irgend einen Sinne gewesen. Auch innerhalb des Universums findet ja ständiges "Umschaffen" statt, auch wir Menschen sind "Sternenstaub", bestehen also aus Substanzen, die vielfach "zerstückelt" und wieder "neu geschaffen", "gezeugt" worden waren.

Ist womöglich sogar gerade ein solcher Mythos ein Zeichen dafür, daß die Einführung des indogermanischen Zeitgeistes, der indogermanischen Religion und Sprache in Griechenland "Kontrastwertungen" mit sich gebracht haben, hervor gerufen haben und mit ihnen eine Exzentrik hervor gerufen haben, die dann bis in die Spätantike hinein so außerordentlich stetig, unbeirrbar, siegreich fortgelebt haben, und die nur von so etwas Exzentrischem und Abstrusen wie dem Monothismus dann auch wirklich "tot zu kriegen" waren ("einige" Jahrhunderte lang)?

9. Titanisches mit Dionysischem gemischt 

Über die originalen Textreste nun, deren Entdeckung der Öffentlichkeit 2021 bekannt gegeben worden ist, erfahren wir (2):

"Es ist ein poetischer Text in Hexametern, also dem klassischen Versmaß der epischen Dichtung. Dieser entstammte einem Epos, das ursprünglich wahrscheinlich 24 Bücher umfaßte, und dessen Existenz bisher nur indirekt belegt war", sagt Giulia Rossetto vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW. In mühsamer Arbeit konnte sie Buchstaben für Buchstaben der ausradierten Schrift auf den beiden Pergamentblättern entziffern. Die Erwähnung des Namen Dionysos, des antiken Gottes des Weines, war ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung des Textes, erzählt sie. (...) Inhaltlich kreist der Text um die Kindheit des Gottes Dionysos. Es werden Spielzeug und Geschenke erwähnt, die von Widersachern -  den Titanen - eingesetzt werden, um das Kind abzulenken.

Die hungrigen Titanen, sie vergreifen sich an einem spielenden Kind, das sie aufessen wollen, angestachelt von der Stiefmutter Hera. Die Handschriften, in denen in ausradierter Form diese Textreste gefunden worden sind, sind in einem christlichen Kloster auf dem Sinai im 10. Jahrhundert entstanden. Ob nicht auch dieser Ort einigermaßen auffällig ist? Auch das wäre wieder für sich eine verrückte Geschichte. An dieser Stellen wollen ihr aber zunächst nicht weiter nachgehen. In der Zusammenfassung der Studie heißt es (1):

... Es wird vorgeschlagen, daß die Sinai-Hexameter aus dem Hieroi Logoi in 24 Büchern stammen, der längsten, verlorenen orphischen Dichtung, von der wir wissen.
... It will be suggested that the Sinai hexameters might originate from the Hieroi Logoi in 24 Rhapsodies, i.e. the longest lost Orphic poem we know of.

24 Bücher, das klingt in der Tat nach einer umfangreichen Dichtung. Offenbar hat sie allein schon vom Umfang her den Vergleich mit der "Ilias" des Homer nicht zu scheuen gehabt. Im Zusammenhang damit ist die Rede von (2) ...

... Passagen eines verschollenen Texts der Antike, der bis auf die Zeit Homers zurückgeht.

Da würde sich ja die Frage anschließen, ob die Vorstellungen der Orphiker zur Zeit des Homer auch in die Ilias eingeflossen sind oder ob es sich bei beiden Dichtungen um zwei Geistestraditionen handelt, die sich völlig unabhängig voneinander entwickelt haben und fortgewirkt haben. Die genannte Geschichte des ermordeten Dionysos geht im übrigen sogar noch weiter (Wiki):

Apollon sammelt die Stücke von Dionysos’ Leichnam ein, Athene bringt sein intaktes Herz zu Zeus, der nunmehr den Ermordeten zu neuem Leben erweckt. 

Als philosophische Deutung hören wir dazu (Wiki):

Damit erklärt eine Variante des Mythos die Ambivalenz der menschlichen Natur, die zwei gegensätzliche Tendenzen aufweist: einerseits einen zerstörerischen, titanischen Zug, der zur Rebellion gegen die göttliche Ordnung anstachelt, andererseits aber auch ein dionysisches Element, das zum Göttlichen hinführt.

Der neue Artikel (1) ist auf Academia verschlagwortet unter anderem unter: Orphische Literatur, Orphische Dichtung, Hexameter, Orpheus, Orphismus, Hellenismus, Neoplatonismus.

Immerhin sind insgesamt 87 orphische Hymnen im Zusammenhang überliefert (Wiki). Es gab auch eine orphische Dichtung über Sternenkunde.

Allein an der Tatsache, daß es mehrere jüdische Schriften seit dem 2. Jahrhundert v. Ztr. gibt, die - zum Beispiel - nachzuweisen bemühten, daß Orpheus ein Sohn des Moses gewesen sei, zeigt, daß die religiöse Strömung der Orphiker in dieser Zeit weit verbreitet war. Wir erfahren außerdem (Wiki):

Gegen Ende des 4. Jahrhunderts, als das Römische Reich bereits christianisiert war, gehörte "Orpheus" ebenso wie Homer zu den Autoren, deren Werke Schullektüre waren.

Auch hieran wird erkennbar, welche angesehene literarische Überlieferung die orphischen Dichtungen darstellten. Und wenn sich die Ilias viel besser erhalten hat heute als die Dichtungen des Orpheus, obwohl letzterer in der Spätantike genauso verbreitet waren wie die Ilias, dann wäre auch dies ein Hinweis darauf, daß die Dichtungen des Orpheus gezielter von monotheistischen Fanatikern vernichtet wurden als die Gesänge des Homer.

10.  Weitere Anhaltspunkte zur Bedeutung des Themas

Der Verfasser dieser Zeilen hätte vor Erarbeitung des vorliegenden Beitrages Nullkommanichts dazu sagen können, um was es sich bei Orpheus und bei der orphischen Bewegung in der Antike gehandelt hat - trotz Grundstudium Alte Geschichte. Es ist ja schon viel, wenn man sich heutzutage auf Homer und die Ilias oder die Odysee beziehen kann, ohne daß man dazu umfangreichere Erläuterungen geben muß, Erläuterungen, die einem Zeitgenossen und Leser von Goethes "Werther" nicht hätten gegeben werden müssen. Aber nun auch noch Orpheus!? 

Nachdem Orpheus im letzten Beitrag einmal erneut - aber eher nur im Vorübergehen - Thema war, wird hier nun ein Beitrag, der in einem ersten, noch verständnisloseren Entwurf letzten Herbst erarbeitet worden war, endlich veröffentlicht. Und indem wir ihn zur Veröffentlichung und danach weiter überarbeiten, wird uns nach und nach immer mehr zu diesem Thema klar. Es wird klar, daß es sich um ein sehr reiches und womöglich auch sehr zukünftiges Thema handelt.

In diesem Beitrag versuchten wir also - anfangs eher mühesam (5-8) - ein völlig neues Thema zu erarbeiten. 

Dabei ist ein erster wichtiger Anhaltspunkt: Von den antiken Griechen sind die orphischen Gesänge fast als genauso bedeutend angesehen worden wie die Gesänge des Homer. Und das will - angesichts der immensen Bedeutung der homerischen Gesänge für die gesamte Antike - nicht wenig heißen. Die orphischen Gesänge waren ebenso wie der Homer damals Schullektüre. Auch diesen Umstand wird man sich gar nicht genügend klar machen können, wenn man das innere Wesen der antik-griechischen Kultur als eine Gesamtheit überblicken und verstehen will.

Ein zweiter wichtiger Anhaltspunkt: Noch die antiken Juden der hellenistischen Zeit, die damals auch sonst - reichlich verwegen - in propagandistischer Weise versuchten, einflußreichere religiöse Richtungen ihrer Zeit in ein monotheistisches Fahrwasser "umzuleiten", indem sie sie jeweils auf ihre eigenen verehrten religiösen Gestalten und Vorstellungen zurück führten, diese antiken Juden also versuchten, auch Orpheus als einen Sohn des Moses darzustellen. Es ist also auch dort wahrgenommen worden, wie bedeutend die orphische Bewegung für die damalige heidnische Welt war, in diesem Fall sozusagen eine Konkurenz zur eigenen religiösen Bewegung, für die ja damals wie heute gilt: "Kein Gott außer Gott", für die also auch die orphische Bewegung "vom Teufel" war (falls eben Orpheus kein Sohn von Moses wäre). 

Dritter Anhaltspunkt: Ebenso die christlichen Kirchenväter reagieren zum Teil heftig auf die religiöse Strömung der Orphiker. Auch an diesem Umstand wird sichtbar, daß die Orphiker eine einflußreiche Denkrichtung, bzw. religiöse Richtung in der Antike darstellten. Sonst hätten monotheistische jüdische oder christliche Fanatiker nicht die Notwendigkeit gesehen, an sie anzuknüpfen oder sich mit ihr auseinander setzen zu müssen.

Dennoch stochert man ziemlich im Nebel, wenn man nach gesichertem Wissen fragt zu Orpheus und seinen Gesänge. Die Quellenlage scheint vergleichsweise "ominös" und auch unübersichtlich zu sein. Ebenso "fremd" muten einem die meisten Vorstellungen überhaupt der Orphiker an. 

Das Grab des Tauchers

Insofern sind "Verbildlichungen" wie sie in dem oben schon behandelten "Grab des Tauchers" gesichert sind, erwünscht. Es wurde 1968 eineinhalb Kilometer südlich der antiken Weltkulturerbe-Stadt Paestum (Wiki) entdeckt. Paestum liegt 65 Kilometer südlich von Pompeji bei Neapel an der italienischen Westküste. Es handelt sich um das Grab eines jungen Mannes, natürlich eines begüterten jungen Mannes. Es stammte aus der Zeit um 475 v. Ztr., also aus der Zeit der klassischen griechischen Kultur (Wiki). Es könnte sich also - einfach der Möglichkeit nach - um einen jungen Mann handeln, der mit seinen Freunden an der Schlacht bei Himera 480 v. Ztr. teilgenommen hat (Stgen2020). Um nur einen von vielen möglichen Anhaltspunkten zu geben. 

Abb. 6: Deckengemälde im "Grab des Tauchers"

In dem Grab dieses jungen Mannes haben sich bedeutende Wandmalereien erhalten. Sie sind gänzlich lebenszugewandten Charaters, Wandmalereien, die ein Symposium, ein Gastmahl darstellen (Abb. 1 und 2). Auf der nördlichen Wandfläche finden sich zwei auf Liegen gelagerte Männerpaare dargestellt, außerdem ein einzelner Mann. Ebenso auf der südlichen Wandfläche des Grabes. Auf der Ost- und Westwand sind drei weitere Männer in hinzukommender oder stehender Haltung dargestellt. 

Es nehmen also - nach dieser Bilderwelt - dreizehn Männer an dem dargestellten Symposion teil. Auf der Decke des Grabes ist - in eher etruskischer (oder minoischer?) Weise - ein Jüngling dargestellt, der mit einem Kopfsprung ins Wasser springt. Aus diesem Grund hat die gesamte Anlage den Namen "Das Grab des Tauchers" erhalten.

Bei den dargestellten Männerpaaren handelt es sich immer um einen älteren und einen jungen bartlosen Mann. Bei einem der Paare auf der Nordwand umfaßt der ältere Mann den Kopf des jüngeren, während dieser ihm die Brust streichelt - oder ihn abzuhalten versucht. Die Geschlechtsliebe unter Männern wie sie auch in den Dialogen des Sokrates immer einmal wieder als völlig selbstverständliche Sache zur Sprache kommt und wie sie auch sonst als völlig normal galt in der griechischen Kultur, findet hier eine bildliche Darstellung. 

Und da wir gesehen haben, daß der Schöpfungsmythos des Orpheus voller philosophischer Gedanken ist, könnte auch die Darstellung des mit Kopfsprung ins Wasser springenden Mannes auf dem Deckengemälde philosophische Bedeutung haben. Man springe entschlußkräftig und beherzt ins volle Leben der Gottheit hinein, ins volle Leben der Musik und des Feierns der Gottheit hinein, könnte sie als Aussage haben.


/ Erster Entwurf: 19.10.21,
erste Veröffentlichung: 24.12.22
erneut mit deutlich erweiterter 
inhaltlicher Deutung: 25.12.22;
letzte Bearbeitung: 3. und 12.1.23 /

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*) Die "Ilias" des Homer hat man ja allemal Grund zu lieben. Jeder wird Achtung vor ihr entwickelt haben, der jemals auch nur flüchtig in Goethe's "Leiden des jungen Werther" hinein gesehen hat. In diesem Roman nämlich liest der junge Werther immer wieder in seinen freien, träumerischen Stunden in der "Ilias". Er kommt dadurch in jene Stimmung, von der auch dieser Roman von Goethe getragen gewesen ist. Liebenden wird es wohl in allen Zeiten gut getan haben und gut tun, in der "Ilias" zu lesen, auch wenn die Haupthandlung derselben nur von Krieg und Kriegslärm getragen ist. Aber all die vielen dichterischen Details, die gesamte dichterische Stimmung, die sich besonders in den stehenden Redewendungen wiederfindet wie in den "hellumschienten Achaiern", den "hauptumlockten Trojern", der "rosenfingrigen Eos", dem "erzumschirmten Hektor", der Geist dieser Dichtung, in der kein Beteiligter nicht in letzter Instanz edel, erhaben, groß, schön ist, in der alles, was geschieht, edel, mutig, tapfer, hinaufreißend ist, dieser Geist hebt den Leser so weit aus seiner eigenen Gegenwart heraus, daß die Ilias noch heute Einfluß nehmen kann auf die Ausgestaltung unserer Kultur. Wenn wir das wollen. Und womöglich wäre ähnliches von den orphischen Hymnen zu sagen.

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  1. Fragments from the Orphic Rhapsodies? Hitherto Unknown Hexameters in the Palimpsest Sin. ar. NF 66, Giulia Rossetto, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 219 (2021), 34–60 (Academia)
  2. https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/verschollener-text-der-antike-entdeckt/, 17-09-2021
  3. https://www.oeaw.ac.at/detail/news/bislang-unbekannter-mythologischer-text-der-antike-entdeckt-1
  4. https://www.roger-pearse.com/weblog/2021/09/09/two-pages-of-lost-ancient-text-the-orphic-rhapsodies-found-in-sinai-palimpsest/
  5. https://wissen.newzs.de/geowissen/2021/09/09/bislang-unbekannter-mythologischer-text-der-antike-entdeckt/
  6. Aulich, Johanna Janina S.: Orphische Weltanschauung der Antike und ihr Erbe bei den Dichtern Nietzsche, Hölderlin, Novalis und Rilke. Diss. Simon Frazer University 1990; frei zugängliches pdf auf: https://core.ac.uk › download › pdf
  7. Die Hymnen des Orpheus, griechisch und deutsch. In dem Versmaße des Urtextes zum erstenmale ganz übersetzt von David Karl Philipp Dietsch. Bei I. I. Palm und Ernst Enke, Erlangen 1822,  https://books.google.de/books?id=DNi7U7bJDkIC
  8. Plaßmann, J. O.: Orpheus. Altgriechische Mysteriengesänge. Aus dem Urtext übertragen und erläutert. Diederichs, Jena 1928, S. IV; 2. Auflage: Diederichs, München 1992 (Scribd)
  9. Peter E. Nulton, The Three-Figured Reliefs: Copies or Neoattic Creations? In D.  B. Counts and A. S. Tuck (eds), Koine: Mediterranean Studies in Honor of R. Ross Holloway, pp. 30-34.  Oxbow Books, 2009 (Res,gate)

Montag, 12. Dezember 2022

Sie hatte "das Hauptverdienst am größten Teil der griechischen Kultur"

Die mediterrane Herkunftsgruppe 

- Nach der Einschätzung von Madison Grant im Jahr 1925  

Kurzfassung: Die Bedeutung der mediterranen Herkunftsgruppe für die Geschichte der europäischen Völker ist von dem US-amerikanischen Autor Madison Grant (1865-1937) (Wiki) (1) im Jahr 1925 in wesentlichen Zügen schon richtig heraus gearbeitet worden. Dies ist von Seiten paralleler deutscher Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht geschehen. Ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte.

Über das geschichtliche Werden und Vergehen der Völker, über das Aufblühen und Vergehen der Hochkulturen machen sich die Menschen seit mehr als 300 Jahren Gedanken. Wohl wenige Völker haben dabei so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie das antik-griechische. 

Hölderlin über das Werden Griechenlands

Um 1800 hat man für das Erklären des Werdens der Völker vorwiegend kulturelle oder klimatische Faktoren in Betracht gezogen. Da gibt es etwa die berühmte Passage in Friedrich Hölderlin's "Hyperion" aus dem Jahr 1796:

Wir sprachen unter einander von der Trefflichkeit des alten Athenervolks, woher sie komme, worin sie bestehe.
Einer sagte, das Klima hat es gemacht; der andere: die Kunst und Philosophie; der dritte: Religion und Staatsform.
Athenische Kunst und Religion, und Philosophie und Staatsform, sagt ich, sind Blüten und Früchte des Baums, nicht Boden und Wurzel. Ihr nehmt die Wirkungen für die Ursache.
Wer aber mir sagt, das Klima habe dies alles gebildet, der denke, daß auch wir darin noch leben.
Ungestörter in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfluß freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglück berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit. Man hört beinahe nichts von ihnen, bis in die Zeiten des Pisistratus und Hipparch. Nur wenig Anteil nahmen sie am trojanischen Kriege, der, wie im Treibhaus, die meisten griechischen Völker zu früh erhitzt' und belebte. - Kein außerordentlich Schicksal erzeugt den Menschen. Groß und kolossalisch sind die Söhne einer solchen Mutter, aber schöne Wesen, oder, was dasselbe ist, Menschen werden sie nie, oder spät erst, wenn die Kontraste sich zu hart bekämpfen, um nicht endlich Frieden zu machen.
In üppiger Kraft eilt Lacedämon den Atheniensern voraus, und hätte sich eben deswegen auch früher zerstreut und aufgelöst, wäre Lykurg nicht gekommen, und hätte mit seiner Zucht die übermütige Natur zusammengehalten. Von nun an war denn auch an dem Spartaner alles erbildet, alle Vortrefflichkeit errungen und erkauft durch Fleiß und selbstbewußtes Streben, und soviel man in gewissem Sinne von der Einfalt der Spartaner sprechen kann, so war doch, wie natürlich, eigentliche Kindereinfalt ganz nicht unter ihnen. Die Lacedämonier durchbrachen zu frühe die Ordnung des Instinkts, sie schlugen zu früh aus der Art, und so mußte denn auch die Zucht zu früh mit ihnen beginnen; denn jede Zucht und Kunst beginnt zu früh, wo die Natur des Menschen noch nicht reif geworden ist. Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rückkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur.
Die Spartaner blieben ewig ein Fragment; denn wer nicht einmal ein vollkommenes Kind war, der wird schwerlich ein vollkommener Mann. -
Freilich hat auch Himmel und Erde für die Athener, wie für alle Griechen, das ihre getan, hat ihnen nicht Armut und nicht Überfluß gereicht. Die Strahlen des Himmels sind nicht, wie ein Feuerregen, auf sie gefallen. Die Erde verzärtelte, berauschte sie nicht mit Liebkosungen und übergütigen Gaben, wie sonst wohl hie und da die törige Mutter tut.
Hiezu kam die wundergroße Tat des Theseus, die freiwillige Beschränkung seiner eignen königlichen Gewalt.
O! solch ein Samenkorn in die Herzen des Volkes geworfen, muß einen Ozean von goldnen Ähren erzeugen, und sichtbar wirkt und wuchert es spät noch unter den Athenern.
Also noch einmal! daß die Athener so frei von gewaltsamem Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortrefflich gemacht, und dies nur konnt es!
Laßt von der Wiege an den Menschen ungestört! treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! tut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, tut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm gibt, denn so nur wird er Mensch. Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön.

Hölderlin hält also den Gottesdienst der Athener für ihren "eigenen", nicht für einen "fremden". Wir wissen aber inzwischen, daß ihr indogermanischer Götterdienst samt Sprache und Kultur zu großen Teilen in Hellas ursprünglich "fremd" war. Wir haben also heute schon allein an diesem Punkt ein ganz anderes Wissen und eine ganz andere Sichtweise auf die Ursprünge von Hellas. Aber immer bewundernswürdig werden dennoch solche aus Begeisterung heraus ausgesprochenen, ausgerufenen Gedanken sein.

Abb. 1: Der Jüngling von Antikythera, 340 v. Ztr. (Wiki)

Wir wissen heute: Die Athener und Griechen sind aus einer "Dialektik" heraus entstanden, die gerade den so gerne dialektisch denkenden Freunden Hölderlin und Hegel besonders eindrucksvoll hätte vorkommen müssen, wenn sie denn die Möglichkeit gehabt hätten, davon zu wissen.

Versuchen wir also, uns dieser Dialektik anzunähern. Seit dem Aufkommen der Evolutionstheorie durch Charles Darwin wird zusätzlich zu Klima und Kultur auch äußerlich unterscheidbaren Herkunftsgruppen, Vorfahrengruppen der Menschheit, früher "Rassen" genannt, Bedeutung im Zusammenhang mit dem Werden und Vergehen von Völkern zugemessen, sowie für ihr angeborenes Begabungsspektrum. 

Dabei ist schon sehr bald erkannt worden - was sich inzwischen durch die Archäogenetik bestätigt hat: daß in der europäischen Geschichte seit dem Neolithikum zwei unterschiedliche Herkunftsgruppen eine Rolle spielten, eine als mediterran umschriebene (oft auch "westisch" genannte) Herkunftsgruppe und eine als nordeuropäisch, indogermanisch oder "nordisch" benannte Herkunftsgruppe. Während es wohl unter einer größeren Zahl von Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu diesen Themen sehr stark übereinstimmende Einschätzungen zum Wesen und zur Bedeutung der weltgeschichtlichen Rolle der indogermanischen Herkunftsgruppe gibt, unterscheiden sie sich schon auffallend deutlich in der Einschätzung zum Wesen und zur Bedeutung der weltgeschichtlichen Rolle der mediterranen Herkunftsgruppe.

Madison Grant und Hans F. K. Günther über das Werden Griechenlands

Dieser Umstand soll nur - vielleicht allzu willkürlich - an zwei viel gelesenen und auch einflußreichen Autoren der ersten Hälft des 20. Jahrhunderts aufgezeigt werden, an dem US-amerikanischen Autor Madison Grant (1865-1937) (Wiki) (1) und an dem deutschen Autor Hans F. K. Günther (1891-1968) (Wiki) (2). Während Grant die weltgeschichtliche Bedeutung und Rolle der neolithisch-mediterranen Herkunftsgruppe in groben Zügen schon genauso gekennzeichnet hatte wie es auch aus heutiger Sicht zu tun wäre angesichts der Erkenntnisse der Archäogenetik, finden wir solche klaren Einschätzungen bei Hans F. K. Günther keineswegs. Ebensowenig bei Gustaf Kossinna.

Wenn Grant und Günther aber dann zusätzlich auch noch glauben, europäische Herkunftsgruppen unterscheiden zu können, deren eine sie "alpin" oder "ostisch", deren andere sie "dinarisch" nennen, dann weiß man vom Forschungsstand der Archäogenetik her gesehen nicht so recht, wie diese "Typengruppen" heute erkannten Herkunftsgruppen zuzuordnen sein sollten. Vielmehr möchte man noch am ehesten vermuten, daß hier eher kulturell durch Jahrhunderte lange Lebensweise und Sprache geformte Menschentypen beschrieben worden sind, ggfs. auch später "selektierte" Typenformen. Gewiß aber keine als ursprünglicher zu umreißende europäische Herkunftsgruppen. Denn wenn Grant "Alpine" im Alpenraum beschreibt (1, S. 90, 160f), beschreibt er - vom heutigen Kenntnisstand her gesehen - das anteilmäßig größere Vorherrschen derselben Herkunftsgruppe, deren Bedeutung er auch sonst so klar heraus gearbeitet hatte, nämlich schlicht der mediterranen. Dasselbe gilt auch für die "dinarische" Herkunftsgruppe des Hans F. K. Günther.

Die kulturellen Leistungen der mediterranen Herkunftsgruppe (1925)

Die für die Datierung archäologischer Kulturen so umwälzende C14-Methode war in den 1930er und 1940er Jahren noch nicht entdeckt worden. Man war sich deshalb der langen Zeiträume des Neolithikums - sowohl in Europa wie in Vorderasien - nicht bewußt. Die spätneolithischen Kulturen der Schnurkeramiker und der Glockenbecher-Kultur sah man deshalb bis dahin mehr oder weniger "direkt" folgen auf die früh- und mittelneolithischen Kulturen der Bandkeramiker und der Megalithkeramiker. Dabei hatte man auch gar keine Vorstellung von Unterschieden zwischen Früh- und Mittelneolithikum in Mitteleuropa. So konnte man sich auch der großen zivilisatorischen und kulturellen Bedeutung der früh- und mittelneolithischen Kulturen in Europa nicht wirklich mit Nachdruck bewußt werden. Und es konnte ihre Bedeutung zugunsten der Bedeutung der Herkunftsgruppe der Indogermanen stark zurück gesetzt behandelt werden. 

Interessanterweise war aber insbesondere der Autor Madison Grant durchaus in der Lage, eine gar zu herabwertende Sichtweise auf die mediterrane Herkunftsgruppe zu vermeiden (1). Denn er war der Meinung, daß das englische Volk sehr stark von der "Mittelmeerrasse" mitgeformt war. Darin wurde auch von den damaligen Autoren - auch von Günther - ein Unterschied zum deutschen Volk gesehen, das im Gegensatz dazu viel mehr von der "alpinen" Herkunftsgruppe mitgeprägt gewesen sei. Daß es sich bei beiden um diesselbe große Herkunftsgrupe handelte, wissen wir sicher erst seit etwa 2017.

Gerade aber weil diese mediterrane Herkunftsgruppe zur Ethnogenese der Engländer beigetragen hatte - nach der Einschätzung von Grant - hatte er diese auch keineswegs abwertend beurteilt (1, S. 97-107). Er hat sie zumindest nicht so stark abwertend beurteilt wie das anderwärts in Teilen der damaligen wissenschaftlichen Literatur der Fall gewesen ist, nicht zuletzt auch in der deutschsprachigen, nicht zuletzt auch bei "Altmeister" Gustaf Kossinna selbst, der diesbezüglich ziemlich poltrig und bramarbasierend daher kam, um so mehr, als in der emotional aufgewühlten Zeit des Ersten Weltkrieges des Bündnispartner Italien so schmählich "Verrat" an Deutschland begangen hatte. Grant hingegen kann 1925 deutlich emotionsloser von den fernen USA aus schreiben (1, S. 98):

Alles, was die Engländer, Schotten und Amerikaner an brünetten Merkmalen besitzen, ist auf den Einfluß der mittelländischen Rasse auf den britischen Inseln zurückzuführen.

Auch wenn die Archäogenetik derzeit die Herkunftsgruppe der Indogermanen keineswegs als einheitlich blond erkannt hat, sondern durchaus auch als überwiegend "brünett", so hat sie doch zugleich auch bestätigt, daß die anatolisch-neolithische Herkunftsgruppe, die zum Zustandekommen aller heutigen europäischer Völker beigetragen hat, zu nicht geringen Teilen brünette bis dunkle Haarfarbe aufgewiesen hat. Grant schreibt - ebenfalls im Einklang noch mit dem heutigen Forschungsstand - weiter über die mediterrane Herkunftsgruppe (1, S. 98):

Tatsächlich stellt diese Rasse wohl überall (...) die ältere Bevölkerungsschicht dar.

Sehr treffend schrieb er schon im Jahr 1925 (1, S. 69):

Heute bildet die Mittelmeerrasse in Europa einen wesentlichen Bestandteil der Bevölkerung der britischen Inseln, den Hauptstock der Bevölkerung der iberischen Halbinsel, nahezu ein Drittel der Bevölkerung von Frankreich, Ligurien, Italien südlich der Apenninen und aller Küsten und Inseln des Mittelmeeres; auf einigen derselben wie auf Sardinien kommt sie in großer Reinheit vor. Sie bildet die Unterlage der Bevölkerung von Griechenland und der Ostküsten der Balkanhalbinsel.

In den Grundzügen sieht das auch die Archäogenetik von heute so, insbesondere auch, was die Ausnahmesituation auf Sardinien betrifft. Aber Grant schreibt dann insbesondere weiter über die mediterrane Herkunftsgruppe (1, S. 100):

Diese Rasse ist es, die der Welt die großen Kulturen von Ägypten, Kreta, Phönizien einschließlich Karthago, von Etrurien, des mykenischen Griechenlands, von Assyrien und großenteils von Babylonien gebracht hat. Sie übergab uns, gemischt und gekräftigt durch nordische Bestandteile, die in den oberen und herrschenden Klassen wahrscheinlich vorherrschten und den Massen ihre Führung aufzwangen, die glänzendste aller Kulturen, die des alten Hellas, und die dauerhafteste aller politischen Formen, den römischen Staat.

In diesen Worten möcht man doch manche Hochachtung und Hochwertung mitschwingen hören. Und an anderer Stelle (1, S. 166):

Was das heutige Europa nördlich der Alpen betrifft (....), die Grundlagen unserer Rasse sind der mittelländischen Kultur zu danken. Die alte Mittelmeerwelt gehörte zum größten Teil dieser Rasse an; die lange erhalten gebliebene Kuktur Ägyptens, die in fast ununterbrochener Folge Jahrtausende lang bestand; das glänzende minoische Reich auf Kreta, das zwischen 3000 und 1200 v. Chr. in Blüte stand und der Ahne der mykenischen Kultur von Griechenland, Zypern, Italien und Sardinien war; das geheimnisvolle Reich der Etrusker, der Vorläufer und Lehrer Roms; die hellenischen Staaten und Siedlungen am Mittelmeer und am Schwarzen Meer; die See- und Handelnsmacht Phöniziens und seiner mächtigen Tochterstadt, das seebeherrschende Karthago; das alles war Schöpfung dieser Rasse. (...) Die frühe Entwicklung der Kunst der Seefahrt muß dieser Rasse zugeschrieben werden, und von ihnen lernte der Norde Jahrhunderte später seine Schiffbautechnik. (...) Sie hat das Hauptverdienst an der klassischen Kultur Europas in Wissenschaft, Kunst, Dichtkunst, Literatur und Philosophie, sowie am größten Teil der griechischen Kultur und einem großen Teil an der des römischen Reiches. Im oströmischen Reiche waren die Mittelländer in Gestalt der byzantinischen Griechen der ausschlaggebende Bestandteil. (...) Byzanz hielt als Hauptstadt dieses Reiches fast 1000 Jahre lang das mohammedanische Asien in Schach.

Uns ist dieses Zitat von Grant deshalb so auffällig, weil wir eine solche Hochwertung des mediterranen Menschen - beispielsweise - bei Gustaf Kossinna keineswegs finden.*) Kossinna erklärte die Mediterranen - sehr gegen sie bramarbasierend - für unfähig zur Schaffnung von Hochkulturen. Und in solchem "Furor" war natürlich sehr viel von jenem Unheil mit eingeschlossen, das dann in den 1930er Jahren - unter tatkräftiger Unterstützung durch ariosophische Okkultlogen - in Deutschland und insbesondere auch in der SS an Rasseverachtung zur Entfaltung kam (wenigstens dann nicht - allerdings auch wieder absurderweise - gegen das von Mussolini beherrschte Italien). Grant hingegen schreibt weiter sehr respektvoll über die mediterrane Herkunftsgruppe (1, S. 101):

Ihre Besiedelung der Nordküste Afrikas und der Westküste Europas kann überall mit Hilfe der wunderschön geglätteten Steinwaffen und Werkzeuge verfolgt werden. Auch die Megalithdenkmäler, die man in Verbindung mit dieser Rasse findet, können ihre Vorrückungslinie in Westeuropa bezeichnen (...). Diese gewaltigen Steinbauwerke waren hauptsächlich Grabdenkmäler und erinnern stark an die ägyptischen Grabmäler.

Grant schreibt dann sogar weiter - und steht damit in Grundzügen wieder im Einklang mit der heutigen Forschung (1, S. 100):

Die nordischen Eigenschaften Roms stehen in scharfem Gegensatz zu den weniger europäischen Zügen der klassischen Griechen, deren beweglicher und zersetzender Geist, Mangel an Zusammenhalt und staatsbildenden Fähigkeiten und stete Bereitschaft zum Verrat, ganz deutlich auf südliche und östliche Verwandtschaftsbeziehungen hinweisen.

Freilich hat Grant diese - womöglich sehr treffende Erkenntnis - wiederum mit abwertenden Eigenschaften verbunden, die nun wahrlich nicht nötig wären angesichts dessen, daß er gerade zuvor erst noch das alte Hellas als "die glänzendste aller Kulturen" gekennzeichnet hatte. Aber es stimmt: 20 % Steppengenetik bei den republikanischen Römern stehen acht % Steppengenetik bei den klassischen Griechen gegenüber. Später schreibt Grant (1, S. 164):

Die pelasgische Schicht scheint sich am besten in Attika und den ionischen Staaten erhalten zu haben. (...) Die herrliche Kultur von Hellas war das Ergebnis der Vermischung der beiden Bestandteile, des achäischen und hellenischen der nordischen und des pelasgischen der mittelländischen Rasse.

Keine Indogermanen vor dem europäischen Spätneolithikum

Eine fehlerhafte Folge der als viel zu kurz angenommenen Chronologie des Neolithikums war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, daß viele Forscher die Urheimat der Indogermanen in Deutschland vermuteten: Der Archäologe Gustaf Kossinna etwa, ebenso sein Schüler Hans Reinerth. Um nur wenige zu nennen. Und in ihrer Tradition auch Autoren wie Hans F. K. Günther (2). 

Man war sich allerdings uneinig über der Frage, ob auch schon die damals noch wenig erforschte Bandkeramische Kultur im Donauraum und die Megalithkeramische Kultur im Nord- und Ostseeraum Indogermanen waren. Kossinna und Reinerth sprachen sich dafür aus. Sie machten sich mit dieser These aber schon in den 1930er Jahren wissenschaftlich angreifbar, weil dazu eben doch schon damals sehr gute Gegenargumente vorgebracht werden konnten. Diese sind dann auch genüßlich vorgebracht worden. Und sie sind - abgesehen von der rein sachlichen, wissenschaftlichen Fragestellung - auch im Zusammenhang mit den damaligen, sehr polemisch ausgefochtenen wissenschaftspolitischen Frontstellungen ausgenutzt worden. (Aber die wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen in der deutschen Archäologie der 1930er Jahre sollen an dieser Stelle nicht weiter interessieren.) In der Forschung seit den 1960er Jahren hat sich dann sehr bald die Sichtweise durchgesetzt, daß es vor dem Spätneolithikum keine indogermanischen Einflüsse in Mitteleuropa gab.

Der Autor Hans F. K. Günther sprach sich 1956 in einer durchaus noch heute nachvollziehbaren Argumentation ebenfalls schon dagegen aus, daß auch schon Bandkeramiker und Megalithkeramiker Indogermanen gewesen seien. Und damit formulierte er Sichtweisen, die sich mit der Archäogenetik seit 2017 bestätigt haben. Er wich damit aber wohl von der Hauptlinie der damaligen "deutsch-völkischen" Position ab, der er sich ansonsten zugehörig fühlte. Er argumentierte aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Seine Argumente haben bis heute ihre Gültigkeit behalten und bestehen auch vor dem heutigen Wissensstand (2, S. 36):

Es läßt sich nicht annehmen, daß ein Sprachstamm (gemeint: die Urinodgermanen) über ein so weites und nach seinen Gesittungsformen doch unverkennbar in sich getrenntes Gebiet sich bis gegen das Ende der Jungsteinzeit nahezu ungetrennt bewahrt hätte. Auch wären bei solcher Verteilung manche der engeren Beziehungen einzelner indogermanischer Sprachen zueinander nicht erklärbar.

Diesen Gedanken erläutert er dann noch ausführlicher und auch aus heutiger Sicht vollständig nachvollziehbar. Die Archäogenetik seit 2017 hat ihn in diesem Punkt also vollständig bestätigt: Die Bandkeramiker und die Megalithkeramiker trugen keine indogermanische Steppengenetik in sich, sondern nur anatolisch-neolithische Genetik mit geringeren (im Mittelneolithikum anwachsenden) Anteilen einheimischer westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik. Die indogermanische Steppengenetik kam erst mit der Zuwanderung der Schnurkeramik- und Glockenbecher-Kulturen dazu.

Daß Hans F. K. Günther die Urheimat der Indogermanen dennoch im mittleren Deutschland suchte, wird man für den Zeitpunkt seiner Veröffentlichungen - nämlich vor denen von Marija Gimbutas - noch nicht als besonders "rückständig" charakterisieren können. Wenngleich es zu dieser Frage freilich schon seit dem 19. Jahrhundert sehr viele andere Meinungen gab.

Auf jeden Fall spricht Günther die Schnurkeramiker aufgrund ihrer ausgeprägten "Langschädel" dann sehr klar und eindeutig als Indogermanen an. Das ist heute auch durch die Archäogenetik bestätigt. Interessanterweise sprach er die Glockenbecher-Kultur keineswegs aufgrund der vorgefundenen Schädelformen als eindeutig indogermanisch an. (Er rechnete sie grob der hypothetischen "dinarischen" Herkunftsgruppe zu.) Auch dieser Umstand ist sehr interessant, zumal die Glockenbecher-Kultur von der Archäogenetik inzwischen als ebenso eindeutig "steppengenetisch" angesprochen wird wie die Schnurkeramik.

Indogermanische Einwanderung in Griechenland ab 2.200 v. Ztr.

Jedenfalls hat Günther entsprechend der fehlenden C14-Datierungen auch noch überhaupt keinen Begriff von der neolithischen Geschichtsepoche Griechenlands. Für ihn reicht die frühneolithische Sesklo-Kultur (6.300 bis 5.300 v. Ztr.) in Griechenland bis ins Spätneolithikum (2, S. 47). Sie endete aber schon mehrere tausend Jahre früher, nämlich um 5.300 v. Ztr.. Sie hatte also nie etwas mit Indogermanen zu tun. Günther sieht die Aichbühler Kultur (4.200 bis 4.000 v. Ztr.) im südlichen Württemberg von Schnurkeramikern beeinflußt (2, S. 48), während wir heute wissen, daß diese ebenfalls schon mehr als tausend Jahre vor dem ersten Auftreten von Schnurkeramikern endete. 

Günther referiert (2, S. 69):

Die Sprachwissenschaft hat drei Schichten griechischer Mundarten voneinander unterschieden: die ionische Schicht als die älteste, die ihr folgende achaiisch-aiolische Schicht und die dorische Schicht als die jüngste. Eine solche Folge entspricht den Ergebnissen der Vorgeschichtsforschung.
Wir lassen es an dieser Stelle dahin gestellt, ob das exakt so auch noch von der heutigen Forschung gesehen wird. Denn wir finden dazu bei grober Durchsicht auf Wikipedia nichts. Dann aber stoßen wir - unabhängig von einer solchen angenommenen "Abfolge" von Zuwanderungen - unvermittelt auf Ausführungen, die - zumindest in ihren Grundzügen - bis heute ihre Gültigkeit bewahrt zu haben scheinen, insbesondere was die Datierungen betrifft (2, S. 48f):

Von der unteren Donau aus müssen Schnurkeramiker (ok, heute spricht man von Jamnaja) von 2.200 v. Ztr. ab in zunehmender Zahl nach Griechenland vorgedrungen sein, nicht-hellenische Herrenschichten über bandkeramischen Stämmen und schließlich nicht-hellenische Indogermanenstämme selbst. (...) Noch sind durch diese indogermanische Völkerwanderung nicht die Hellenen angekündigt; die Hellenisierung Griechenlands beginnt erst um 2.000 v. Ztr.. Zwischen 2.200 und 2.000 v. Ztr. sind aber immer neue Wellen vorhellenischer Indogermanen gegen Griechenland, die griechischen Inseln und Kleinasien vorgedrungen. In Griechenland haben diese Zuwanderungen die Gesittungen der sogenannten Frühhelladischen Zeit beeinflußt und die Durchdringung des Landes erst durch die hellenischen Ionier und etwa 500 Jahre später durch die hellenischen Achaier vorbereitet, eine Durchdringung, mit der die Mittelhelladische Zeit, zuerst das Mittelhelladikum I (2.000 bis 1.900 v. Ztr.) begonnen hat.

Weiter lesen wir (2, S. 50):

Einzelne Vorstöße indogermanischer Stämme sind der hellenischen Wanderung voraus gegangen, so die der Thraker und Phryger, der Troer, der Myser, Bithynier und Armenier und so auch die der Philister und der Hethiter.

Und weiter (2, S. 51):

Wilhelm Sieglin hat Zeugnisse über die Blondheit der phyrgischen Herrenschicht angeführt und Belege dafür, daß die Phryger sich ihre Gottheiten als Blonde vorgestellt haben: von fünf phrygischen Gottheiten wir nur eine als dunkel bezeichnet. (...) Bei Siegelin finden sich die Zeugnisse für die Blondheit der thrakischen Herrenschicht verzeichnet: "Von acht Thrakern des Altertums, deren Haarfarbe uns zufällig geschildert wird, sind sieben blond." (...) Die Thraker müssen als nahe Verwandte der Hellenen angesehen werden.

Solche Zeugnisse für die Hochwertung der Blondheit auch in der griechischen Kultur führt Günther über viele Seiten hinweg an. Wir wissen heute mit der Archäogenetik, daß Blondheit in Griechenland mehr ein kulturelles Ideal dargestellt hat denn als Erbmerkmal auch wirklich in der Bevölkerung vorgeherrscht hätte.

War der Orpheus-Mythos eine "Fremdlehre" innerhalb der antik-griechischen Kultur?

Die deutsche, völkische Wissenschaft der 1930er und 1940er Jahre ist tief durchtränkt von der Abwertung nicht-"nordischer" nicht-germanischer Völker und der Hochwertung nordischer und germanischer Völker. So ständig und durchgehend auch bei Hans F. K. Günther. Mit Bezug auf den Religionshistoriker Otto Gruppe (1851-1921) (Wiki) schreibt Günther etwa (2, S. 91):

Man hat die hellenischen Glaubensvorstellungen und gottesdienstlichen Gebräuche in ihrer geschichtlichen Abwandlung gewöhnlich als "Entwicklung" angesehen: die "Entwicklung" von einem rohen Dämonenglauben zum geläuterten Glauben an die edlen Gestalten der Olympischen Götter und endlich den "Zerfall" dieses Glaubens in vorhellenische und morgenländische Vorstellungen und Bräuche. So hat noch Otto Gruppe die Wandlungen dieser Formen gedeutet, und so ist oft übersehen worden, daß nicht von "Entwicklung" oder "Zerfall" eines Glaubens zu sprechen ist, sondern von den Vorgängen und Folgen einer Rasseüberschichtung und vom Schwinden einer übergeschichteten Rasse, der nordischen Rasse des bronzezeitlichen Indogermanentums. Schwand diese Rasse dahin, so mußte das verbleibende, nun hellenisch sprechende Volk sein ererbtes Glaubensempfinden wieder in vorhellenisch anmutender Weise ausdrücken. Die Geistesgeschichte der Hellenen läßt sich in solcher Weise aus dem Ringen der Rassenseelen im Hellenentum erklären.

Daß die mediterrane, vorindogermanische Bevölkerung sich für indogermanische Geistesart begeistert haben könnte und sie sogar besonders ausgeprägt und entschieden, sozusagen bewußt kulturell durchgestaltet gelebt haben könnte (durchgestaltet insbesondere durch die Hochwertung der Ilias), und daß das der tragende Zug der antik-griechischen Kultur überhaupt gewesen sein könnte, ein Zug, der dann in der Spätantike sogar gegenläufig zum Anwachsen der indogermanischen Herkunftskomponente in Griechenland (durch slawische Zuwanderung) geschwunden ist, auf einen solchen verwegenen Gedanken scheinen bis 2022 nur die wenigsten Forscher gekommen zu sein. Er scheint jedenfalls für einen Günther geradezu "unerreichbar" gewesen zu sein.

Womöglich ist das Hellenentum ja - sozusagen - aus einem "Ringen der Rassenseelen" entstanden, und zwar dann aus einer sehr bewußt durchgestalteten Begeisterung für eine Religion und Lebensweise, die in dieser Form gar nicht die eigene war. Aber dieses "Ringen", diese "Kontrastwertung" wäre sicherlich noch völlig anders zu charakterisieren als das bei dem größten Teil der Autoren der Wissenschaftsgeschichte zu diesem Thema geschehen sein wird.

Religionsgeschichtliche Deutungen zu den antiken Griechen

Worauf im übrigen Günther im letzten Zitat angespielt hatte, wird 70 Seiten später genauer ausgeführt. Es ist da die Rede vom (2, S. 159) ...

.... absinkenden Kleinbauerntum, das nach und nach im Adel den gemeinsamen Gegner der Theten  und Kleinbauern erblickte. So entstand ein Riß, der das Hellenentum trennte, und in diesen Riß drang von unten her der nichtindogermanische Geist der vorhellenischen Schicht ein. Das läßt sich besonders an Wandlungen im Glaubensleben erkennen, denn eben von dem absinkenden Bauerntum, das der Rassenkreuzung verfiel, wurden zu dieser Zeit die Lehren und Bräuche der Orphischen Bewegung und der Dionysosverehrung aufgegriffen, Gottesdienste der rauschartigen Ergriffenheit, der Einweihungen und Verzückungen, die im wesentlichen aus Einwirkungen der vorderasiatischen Rassenseele verstanden werden müssen.

Diesen Gedanken führt er noch weiter aus. Heute geht die Forschung - soweit wir das überblicken - davon aus, daß diese Orphische Bewegung und die Dionysosverehrung sehr weit zurück reichende Wurzeln haben, also so ähnlich alt sind wie die indogermanische, antik-griechische Kultur überhaupt, daß diese also nicht ein "Spätstadium" ihrer Entwicklung darstellen, sondern einen festen Bestandteil über ihre ganze Geschichte hinweg bilden. 

So geht die Forschung ja auch davon aus, daß die Mysterien von Eleusis auf eine Zeit bis 1500 v. Ztr. zurück gehen (Wiki) .

Uns scheinen diese Ausführungen der antik-griechischen Kultur als einer Gesamtheit nicht gerecht zu werden. Soweit uns erkennbar, wird hier die Geschichte der antik-griechischen Kultur viel zu sehr in ein "Schema" gepreßt, das der Vielfalt der Ausprägungen dieser Kultur nicht gerecht werden kann.

Wenn man vorindogermanische und indogermanische Seelenhaltung unterscheiden will, so wird man bei genauerem Hinsehen und unter Berücksichtigung der heute bekannten Konstanz der acht Prozent Steppengenetik von mykenischer Zeit bis in die Spätzeit und der Gleichverteilung derselben auf alle soziale Schichten sagen müssen, daß die antik-griechische Kultur als Ganzes eine große Spannbreite kultureller Ausprägungen hervorgebracht hat, von denen man nicht einzelne Anteile gar zu willkürlich dieser oder jener Herkunftsgruppe wird zuordnen können. Alles ist unter dem gemeinsamen Dach der Begeisterung für das Große, Edle, Wahre und Schöne vereinigt über viele Jahrhunderte hinweg, unter der Begeisterung für die aristotelische Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch, so daß ggfs. unterschiedliche Seelenhaltungen eine Symbiose eingegangen sind, die schlichtweg einzigartig in der Weltgeschichte dasteht. Günther selbst bringt das zum Ausdruck wenn er über die orphischen Gesänge, die noch ein oder zwei Generationen früher entstanden sind als die "Ilias", schreibt (2, S. 160):

Aufzeichnungen orphischen Geistesgutes stammen erst aus späterer Zeit, die meisten erst aus der Zeit nach 300 v. Ztr.. Manche von den orphischen Hymnen lassen sich nach J. O. Plaßmann als Gegenstücke zu den Psalmen der Hebräer, andere als Gegensätze (sic!) zur altgermanischen Dichtung ansehen.

Nein, die Verwendung des Wortes "Gegensätze" mutet hier falsch an und verwirrt. Und tatsächlich spricht das Zitat selbst, auf das Günther sich hier bezieht, auch keineswegs von "Gegensätzen". Es lautet vielmehr (3, S. 8):

Gerade in der Darstellung des kosmischen Empfindens, des Ahnungsvollen und der Naturbeseelung mit dionysischem Pathos ist der poetische Grundton gar nicht zu verkennen, der übrigens häufig genug merkbar an die Poesie der Psalmen und altgermanische Dichtungen anklingt.

Es wäre also zu lesen: "... andere als Gegenstücke zur altgermanischen Dichtung anzusehen". Die Gesänge erinnern also an Psalmen ebenso wie an altgermanische Dichtung. Sie tragen also beide Seelenhaltungen zugleich in einer gelungenen Symbiose in sich, sozusagen vorderorientalische Seelenhaltung und germanische Seelenhaltung. So zumindest in der Auffassung des Übersetzers Plaßmann aus dem Jahr 1928.

Da die Christen die Orphiker ja bekämpft haben, wird man auch nicht gar zu simpel sagen können, daß die orphische Bewegung dem Christentum vorgearbeitet hätte oder wie es Günther ausdrückt (2, S. 160):

Mit allem dem ist erwiesen, daß in der orphischen Bewegung unter den Kleinbauern des 7. Jahrunderts schon nicht-indogermanischer Geist sich ankündet, der später das Glaubensleben der Hellenen oder derer, die sich als Hellenen erschienen, immer mehr durchfremdet hat.

Wenn etwas fremd für die antik-griechische Kultur war, dann gewiß das Christentum. Aber ebenso gewiß nicht der Orpheus-Mythos, der die gesamte uns bekannte antik-griechische Kultur von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende als eine Konstante durchzieht, als eine Konstante, die so wie alles übrige in ihr enthaltene Heidentum von Christen bekämpft werden mußte, um gegenüber seiner Wirkungsmächtigkeit siegreich zu bleiben. 

Am ehesten wäre noch der Mithras-Kult als Vorläufer-Religion des Christentums zu nennen, der bezeichnenderweise ja auch den Stier beinhaltet, der über weite Bereiche des Mittelmeers hinweg vermutlich schon vor Ankunft der Indogermanen eine große Rolle in der Kultur gespielt hat, dessen kulturelle Bedeutung aber in der indogermanisierten antik-griechischen nicht eine vorherrschende wird genannt werden dürfen.

Eine Durchfremdung hat es also vor dem Siegeszug des Christentums gar nicht gegeben, vielmehr muß umgekehrt gesagt werden, daß die ganze indogermanische Kultur für die vorindogermanischen Völkerschaften Griechenlands eine "Fremdkultur" war, die sie sich aber in offenbar außerordentlich heller Begeisterung angeeignet haben und zu ihrer eigenen gemacht haben, die sie so intensiv und glaubwürdig gelebt haben, daß wir heute die antiken Griechen als die wichtigsten weltgeschichtlichen Vertreter indogermanischer Kultur überhaupt ansehen!

Ein gutes Verständnis zum Entstehen und zum inneren Wesen der antik-griechischen Kultur so wie wir sie erst seit 2022 gezwungen sind zu sehen und zu deuten, hat es also bei viel gelesenen anthropologischen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Und wenn es ein gutes Verständnis gegeben hat, dann eher bei dem US-Amerikaner Grant als bei dem Deutschen Günther.**)

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*) Es ist übrigens sehr auffallend, daß insbesondere die Sichtweise von sogenannten "nordischen Herrenschichten" sich selten durch die Archäogenetik bislang in der Völkergeschichte bestätigt hat, insbesondere auch was das antike Griechenland betrifft. Schon in der frühesten Zeit der Einflußnahme der indogermanischen Steppengenetik in Griechenland ist ihr - sehr geringer Anteil - gleichmäßig auf alle Bevölkerungsschichten verteilt. Auch in diesem Punkt sind wohl fast alle "Rasseforscher" der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Archäogenetik ziemlich eindeutig widerlegt worden.  
**) Grundlegendere Anmerkung: Aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte sind die Gegenwärtigen immer "Zwerge auf den Schultern von Riesen". Sie sehen weiter als alle Generationen vor ihnen. Das heißt, uns fällt es viel leichter als den jeweils behandelten vergangenen Generationen, die weiterführenden Erkenntnisse derselben von den völlig falschen Annahmen derselben zu unterscheiden. Auch können wir klarer übersehen, wo vergangene Wissenschaftler-Generationen in ihren Schlußfolgerungen vom Sein zum Sollen angemessener geurteilt haben und wo unangemessener, und wo unangemessene Schlußfolgerungen auch einfach nur auf falscher oder ungenügender Kenntnis der Seinsebene beruht hatten. In dem vorliegenden Beitrag sind wir allerdings durchgehend nur mit der Seinsebene befaßt, nicht mit angemessenen oder unangemessenen Schlußfolgerungen in Richtung auf die Sollensebene. Um zu letzterer aber das Mindeste zu sagen, so mag angemerkt werden, daß der gegenwärtige wachsende und so folgenreiche Fachkräftemangel in den Gesellschaften der Nordhalbkugel mehr und mehr Menschen darauf aufmerksam macht und machen wird, daß diese Gesellschaften gegenwärtig unangemessene Schlußfolgerungen von den Seinsebene in Richtung Sollensebene ziehen - auf Kosten des Weiterbestandes der Kulturen auf der Nordhalbkugel. Oder um es klarer zu sagen: Man sollte aufhören, so zu tun, als sei der sogenannte "demographische Wandel" ein unabwendbares Naturgesetz. Er ist menschengemacht. Er entspringt den Entscheidungen jedes einzelnen lebenden Menschen.

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  1. Madison, Grant: Der Untergang der großen Rasse. Die Rassen als Grundlage der Geschichte Europas. Julius Friedrich Lehmann, München 1925
  2. Günther, Hans F. K.: Lebensgeschichte des hellenischen Volkes. Verlag Hohe Warte, Pähl 1956
  3. Plaßmann, J. O.: Orpheus. Altgriechische Mysteriengesänge. Aus dem Urtext übertragen und erläutert. Diederichs, Jena 1928, S. IV; 2. Auflage: Diederichs, München 1992 (Scribd)