Mittwoch, 3. November 2021

Wie kam die iranische Genetik in die Steppe?

David Anthony über die Indogermanen im Vortrag 

Von dem US-amerikanischen Archäologen der indogermanischen Steppen-Kulturen David Anthony (Wiki) sind dieses Jahr - im März, Mai und Oktober - Beiträge auf Youtube oder als Podcast erschienen (1-4). Über sie - ebenso wie über ältere Beiträge auf Youtube (z.B. 5, 6) - kann man einen Überblick gewinnen über sein Denken und ggfs. noch einige neue spannende Erkenntnisse heraus filtern. Außerdem kann man ihn über diese Beiträge natürlich auch persönlich kennen lernen und manches auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte lernen. Wir greifen im folgenden nur weniges heraus (ggfs. künftig noch zu ergänzen). 

Abb. 1: Wie kam Kaukasus-Jäger-Sammler-Genetik in die Steppe? (aus: 8)

Anthony meint, Jäger- und Fischer-Populationen rund um das Kaspische Meer wären die Quelle für die iranische, respektive Kaukasus-Jäger-Sammler-Genetik, die sich etwa zur Hälfte in den Urindogermanen der Chwalynsk-Kultur wieder findet (3). Der Genetiker Nick Patterson, ein Mitarbeiter von David Reich, hätte diese als Ursprungspopulation identifiziert. Der Archäogenetik-Blogger Davidski von "Eurogenes", der seinerseits die Ursprungspopulation eher in Georgien lokalisiert, referiert die Meinung von Anthony folgendermaßen (7):

In einem Youtube-Video wiederholt er seine Theorie, daß der sogenannte iranische Herkunftsanteil der Jamnaja-Kultur aus dem heutigen Iran gekommen wäre, genauer gesagt, daß er mitgebracht wurde von Jäger-Sammlern, die sich vergleichsweise zügig von der südkaspischen Region bis zum Wolga-Delta im heutigen Rußland ausgebreitet haben.
In a clip on Youtube he reiterated his theory that the so called Iranian-related ancestry in the Yamnaya people actually came from what is now Iran, and, more precisely, that it was carried by hunter-gatherers who travelled relatively rapidly from the South Caspian region into the Volga Delta in what is now Russia.

Ein "Laien"-Aufsatz aus dem Jahr 2019 hatte schon neuere, oft auf Russisch veröffentlichte Forschungen zum Spätmesolithikum (um 5.000 v. Ztr. herum) des Raumes rund um das Kaspische Meer und die Wolga-aufwärts referiert (Abb. 1) (8).

Die Ausbreitung der Keramik und die etwaigen Verwandtschaftsverhältnisse der jeweiligen Keramik-Stile miteinander läßt erkennen, daß die Kulturen an der Wolga sowohl von Nordosten wie von Süden her beeinflußt worden sind oder sein könnten. Sie legt nahe und läßt erkennen, daß sich seßhafte iranisch-neolithische, bäuerliche Kulturen rund um das Kaspische Meer ausgebreitet hatten. Immerhin hören wir hier zum ersten mal, daß die Kelteminar-Kultur quasi "vollneolithisch" war. Und sie läßt erkennen, daß Fischer-Völker des Kaspischen Meeres recht weitreichende Handelskontakte die Wolga aufwärts aufrecht erhalten haben konnten.

Es ist also vermutlich sehr mißverständlich, solche Völker schlechthin als "Jäger-Sammler-Völker" zu bezeichnen.

Das erinnert uns das an die recht weitreichenden Handelskontakte der Pommerschen mesolithischen Ostsee-Siedlung Neuwasser die Flüsse Oder und Weichsel aufwärts (9).

Benannt war der Aufsatz mit der Fragestellung: "Wie kam Kaukasus-Jäger-Sammler-Genetik (CHG) in die Steppe" (8)? Wir sehen dort am Unterlauf der Wolga eine Orlovka-Kultur eingezeichnet. In der Zusammenfassung heißt es am Schluß (8):

Zusammenfassung und Schlußfolgerung. Das keramische Neolithikum der osteuropäischen Ebenen nordöstlich des Dnjestr ist gekennzeichnet durch die Ankunft von drei unterschiedlichen Keramik-Traditionen, von der keine in Verbindung mit Ackerbau steht:
  • einer "Kamm"-Keramik ...., die auf den Trans-Ural und Westsibirien zurück geführt werden kann;
  • einer Steppen-Keramik ..., die enge Parallelen findet in der zentralasiatischen Kelteminar-Kultur und die an der Unteren Wolga mit einer solchen Lehm-Architektur verbunden ist, wie sie typisch ist für das neolithische Zentral- und Westasien;
  • einer Rakushechny Yar- und Elshan-Keramik, ..., die auf Keramik aus der Region südlich des Kaspischen Meeres zurück geführt werden kann, und die enge, aber zeitlich spätere Parallelen im Ost-Kaukaus findet.
Original: Summary and Conclusion. The Pottery Neolithic of the East European plain NE of the Dniestr witnesses the more-or-less contemporary arrival of three different pottery traditions, none of which  is associated with agriculture:
  • “Combed” Ceramics, all-over ornamented in narrowly-placed, horizontal patterns, which can be traced back to the Trans-Urals and West Siberia;
  • “Steppe” pottery, characterised by triangular and diagonal incisions, which finds close parallels in the Central Asian Kelteminar culture and is on the Lower Volga associated with mudbrick architecture as typical of Neolithic Central and West Asia;
  • Rakushechny Yar and Elshan ware, sparsely decorated except for knobbed or pitted rims, but partly ochre-painted, which seems to be based on South Caspian pottery technology and finds close, albeit chronologically later parallels in the East Caucasus.

Hier deutet sich an, mit was für einem komplexen Geschehen in diesem Raum zu rechnen ist. Die kaukasisch-iranischen Bevölkerungen, mit denen sich die osteuropäischen Jäger und Sammler der Samara-Kultur vermischten und so die Chwalynsk-Kultur begründeten, kamen also entweder aus einer Region südlich des Kaspischen Meeres (nun, sehr plausibel: einfach per Schiff die Wolga aufwärts) und bzw. oder aus der Region zwischen dem Ostufer des Kaspischen Meeres und dem Aral-See. Es ist gut denkbar, daß sich bei beiden Bevölkerungen genetisch um dieselbe Großgruppe gehandelt hat. Weiter wird ausgeführt (8):

Träger der Raushechniy Yar / Elshan-Keramik begründeten ein Netz von Fernhandels-Verbindungen über die großen Wasserwege, das zuletzt von der Ertebolle-Kultur im Nordwesten bis zum Ost-Kaukasus reichte.
Bearers of Rakushechny Yar / Elshan ware opened up a network of long-distance communication along the major waterways that ultimately reached from the Erteboelle Culture in the NW to the East Caucasus. 

Aber diese hätten nur wenig Kaukasus-Genetik nach Norden gebracht. Ein viel größerer Anteil sei erst später in der Kupferzeit (Chalcolithikum) gekommen. Das solle noch in späteren Beiträgen behandelt werden. Es scheint als ob dieser angekündigte Blogbeitrag seither nie erschienen ist. In den Kommentaren sagte der Autor Frank noch, daß hinsichtlich dessen, was darüber zu sagen wäre, noch einmal Anthony 2007 gelesen werden sollte:

Let me for the time being say that Anthony 2007 “The Horse…”, for all my criticism about him expressed elsewhere, is worthwhile a re-read in this respect.


In einem ganz neuen Vortrag (1) (den wir auch hier in den Blogbeitrag einbinden) weist Anthony ab Minute 49 auf Metall-Austausch-Netzwerke während der Kupferzeit, also im 5. Jahrausend v. Ztr. auf dem Balkan hin (Abb. 1). Das ist also die Welt, auf die die Indogermanen bei ihrer Ausbreitung im 5. Jahrtaseund gestoßen sind. Zu dieser Zeit sind diese Austauschnetzwerke eher regional. Erst in der Bronzezeit im 4. Jahrtausend weisen diesselben Austausch-Netzwerke dann auch überregionale Merkmale auf.

Abb. 1: Metall-Austausch-Netzwerke im 5. Jahrtausend v. Ztr. innerhalb von Regionalkulturen des heutigen Bulgrien: rund um Warna im Nordosten, im Norden, im Nordwesten, sowie in der Oberen Thrakischen Ebene (mit dem Siedlungsort Karanowo) (aus: 10)

Dazu schreiben die Autoren (10):
Wir sehen unterschiedliche Gruppen im Nordosten Bulgariens (mit dem Gräberfeld von Warna), in der Oberen Thrakischen Ebene (mit dem Siedlungstell von Karanovo und den Minen von Aibunar), im Norden Bulgariens ... und im Nordwesten Bulgariens.
Distinct groups are seen in NE Bulgaria (with the Varna cemetry), the Upper Thracian Plain (with the Karanovo tell and the Aibunar mines), north-central Bulgaria (with sites around Veliko Tarnovo, such as Hotnitsa) and NW Bulgaria (with Krivodol, a multi-layered hill-top site).

Behalten wir in Erinnerung: Das ist eine Zeit, in der es weder Rinderwagen gab, noch domestizierte Pferde.

Das indogermanische Wort "Achse" - nach 3.500 v. Ztr.

In Minute 37'20 (1) weist Anthony auf den interessanten Umstand hin, daß es in vielen indoeuropäischen Sprachen - Sanskrit, Latein, Litauisch, in den germanischen Sprachen, Keltisch, Griechisch - ein ähnliches Wort für "Achse" gibt, also für die Achse eines Wagens, ebenso für andere Bauteile eines Wagens. Zur Zeit der Ethnogenese der Indogermanen gab es aber noch nicht einmal Rinderwagen - wie wir heute wissen (11). Als älteste Rinderwagen sind bis heute solche der Maikop-Kultur aus der Zeit um 3.500 v. Ztr. bekannt geworden - wie auch Anthony weiter ausführt (1). Somit wäre zu schlußfolgern, daß all diese Sprachen sich erst voneinander getrennt haben, nachdem sich der Rinderwagen ausgebreitet hat, vielleicht auch erst, nachdem sich der Streitwagen (ab 2.200 v. Ztr.) ausgebreitet hat.

Diesen Zusammenhängen wäre also auch der Umstand zuzuordnen, daß die erste Welle der Ostausbreitung der Steppen-Genetik in Form der Afanassjewo-Kultur (Wiki, engl) bis zum Altai-Gebirge und bis in die Dsungarei, die noch keine anatolisch-neolithische Genetik in sich schloß, auf die Zeit ab 3.300 v. Ztr. datiert wird. Sie könnte also auch schon den Rinderwagen und das damit verbundene Vokabular mit sich geführt haben.

Obwohl Anthony Mitautor jener Studie ist, die aufzeigt, daß domestizierte Pferde erst ab 2.200 v. Ztr. in der Weltgeschichte eine Rolle spielen (erschienen am 20. Oktober 2021) (12), referiert er in seinem Vortrag (am 24. September) (1) noch wie selbstverständlich und ohne allen Vorbehalt, daß Reiten eine Rolle gespielt hätte bei der Ausbreitung der Jamnaja-Kultur ab 3.600 v. Ztr. über die Steppe hinweg (41'00). Diese sollte aber wohl besser mit der Benutzung des Rinderwagens erklärt werden, nicht mit Reiten. Zu dem Umstand, daß die Y-chromosomale Haplogruppe R1a (Wiki), die sich nachmals in vielen indogermanischen Völker findet, in der Jamnaja-Kultur der Ukraine des 4. Jahrtausends v. Ztr. bislang nicht gefunden hat, vermutet Anthony (7), daß sich

... die Haplogruppe R1a deshalb nicht in den Kurgan-Gräbern der Jamnaja-Kultur findet, weil sie nur in Unterschichten vorkam.
In a podcast on Razib's blog, Anthony doubled down on his theory that Y-chromosome haplogroup R1a was closely associated with Yamnaya plebs who were excluded from Kurgan burials, and, as a result, their remains haven't yet been sampled.  At least this theory isn't yet contradicted by ancient DNA, but it's more complicated and less parsimonious than my theory, which posits that R1a, or rather R1a-M417, was simply a very rare lineage in the Yamnaya population, and that it only became a common and widespread marker thanks to the Corded Ware expansion. 

Vielleicht ist sie aber auch in Teilstämmen oder Randstämmen der Jamnaja-Kultur vorhanden gewesen, die noch nicht sequenziert worden sind - so möchten wir unsererseits vermuten. Es deutet sich ja immer mehr an, daß auch Untergruppen der Indogermanen untereinander "Bevölkerungsaustausch" betrieben haben (z.B. in Böhmen), so daß es über die Jahrhunderte auch bei ihnen "immer einmal wieder" zu einem "Austausch" von Y-chromosomalen Linien kommen konnte. Anthony führt aus, daß die Jamnaja-Kultur sich bis ins westliche Ungarn erstreckte (2) (1'05'00).

"Ich habe nicht groß genug gedacht"

Er sagt, daß er, als er 2007 sein Buch geschrieben habe, nie damit gerechnet hätte, daß sich Jamnaja-Genetik nur wenige Jahre später zu 75 % in Skandinavien wieder finden würde, so wie es sich dann acht Jahre später herausstellen sollte durch die Archäogenetik: "I was'nt going big enough," sagt er dazu (2) (31'45): "Ich habe nicht groß genug gedacht." Anthony war sowieso eher ein Außenseiter in der archäologischen Forschung.

Aber vermutlich hat so gut wie niemand in der Wissenschaftsgeschichte der letzten hundert Jahre bezüglich der vielen genetischen Umbrüche in der europäischen Geschichte "groß genug gedacht". Und das ist schon für sich ein bemerkenswerter Umstand. Weder aus den Erkenntnissen von hundert Jahren Völkerkunde, noch aus der bekannten Geschichte weltweit, die durch Schriftquellen überliefert ist, noch auch aus den Genen der jetzt lebenden Menschen hat man - für sich genommen - ableiten können, daß es so viel genetischen Umbruch in der Menschheitsgeschichte tatsächlich gegeben hat.

Anthony führt aus, daß die Jamnaja-Genetik sich auch als viel homogener herausgestellt hat als es von den unterschiedlichen Keramikstilen innerhalb dieser Kultur ablesbar gewesen wäre (2). Er spricht von "extrem homogener Genetik und Begräbnissitten". Er vermutet, daß die Jamnaja aus einer Flaschenhals-Population hervorgegangen sind. Der Podcast spricht im Titel vom "Ursprung" der Indoeuropäer, behandelt aber fast nur die Rinderwagen benutzende Jamnaja-Kultur, die sich erst tausend Jahre nach Entstehung der Indogermanen (in der Chwalynsk-Kultur) ausbreitete. Er behandelt die Geschichte der Indogermanen des 4. Jahrtausend v. Ztr., nicht jedoch die des 5. Jahrtausend v. Ztr..

Man kann vielleicht sagen, daß die Dynamik der Geschichte der Indogermanen sich alle tausend Jahre steigerte: Ab 4.500 v. Ztr. überbrückten sie weite Entfernungen zu Fuß oder per Schiff, ab 3.500 v. Ztr. mit dem Rinderwagen und ab 2.200 v. Ztr. mit dem Streitwagen. Zu ergänzen wäre: Ab 500 v. Ztr. (z.B. Alexander der Große) als Reiter, ab 1500 n. Ztr. mit der Karavelle (Wiki) (nach Amerika, Australien und Südafrika).

Demoule - Über Probleme der Indogermanistik

Der "große Wurf", der sich durch die Archäogenetik auftut, das "große neue Bild", das durch sie entsteht, und das in vielen Teilen Gedanken von Gustaf Kossinna und Marija Gimbutas bestätigt ruft - natürlich - immer und immer wieder unterschiedliche Arten von "Gegenstimmen" auf den Plan. Eine solche Art von Gegenstimme war am 4. November 2021 um 18 Uhr im Völkerkunde-Museum in Berlin-Dahlem in Form eines deutschsprachigen Vortrages des Archäologie-Professors an der Sorbonne in Paris, Jean-Paul Demoule (geb. 1947) (Wiki) zu hören. Der Vortrag trug den Titel "Aber wo sind jetzt die Indogermanen?" (13)

Seit 1986 beschäftigt sich Demoule in Aufsätzen mit der Indoeuropäer-Frage (Wiki). Er ist dabei bislang aber fast nur in Frankreich wahrgenommen worden und wird in angesehenen Forschungsüberblicken zur Indogermanen-Forschung gar nicht erwähnt (Wiki).

Von Demoule gibt es auch einen Vortrag in - schlecht verständlichem - Englisch, den er 2017 in Reikavik gehalten hat (14). Nach einer Buchveröffentlichung zu diesem Thema im Jahr 2014 (15) wurde Demoule in Frankreich als ein Wissenschaftler wahrgenommen, der die Unterstellung, daß es ein indogermanisches Urvolk gegeben hätte, als einen bloßen Mythos herausstellen wollte, als "Ideologie" (16), noch dazu als eine solche, die rassistischem Gedankengut Vorschub leisten mußte. In seinem neuen Vortrag (13) mußte er deshalb gleich zu Anfang betonen, daß indogermanistische Forschungen nicht schon deshalb zu kritisieren seien, weil sie rassistischem Denken (insbesondere in Frankreich) Vorschub leisten. Aber man behält doch das Gefühl zurück, daß das die größte Sorge des Demoule ist, und daß von dieser Sorge seine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Urvolk der Indogermanen sehr stark geleitet ist.

Demoule hat schon nach 2014 in Frankreich viele Gegenstimmen auf den Plan gerufen. Dabei wurde er gerne auch einmal als ein "Betrüger" bezeichnet. Eine angesehene sprachwissenschaftliche Gesellschaft in Frankreich veröffentlichte 2018 eine sehr kritische Stellungnahme zu ihm und seinen Thesen (Wiki).

In seinen Vorträgen von 2017 und vom November 2021 äußert er sich insgesamt zwar zurückhaltender. Aber man behält immer noch das Gefühl zurück, daß die Auswahl und Zusammenstellung seiner Argumente zur Indogermanen-Frage mehr von außerwissenschaftlichen Motiven, tagesaktuellen Sorgen geleitet sind denn aus rein innerwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse. Sein Vortrag wurde im November 2021 auch Live im Internet übertragen (LiveDAI). Inzwischen ist er auch auf dem Videokanal des "Deutschen Archäologischen Instituts" (DAI) zu sehen (13) (siehe auch Ankündigung auf Facebook [Fb]). Damit können wir ihn ggfs. noch einmal gründlicher analysieren. 

(Wir haben ihn nur zur Hälfte angehört, da uns die Vortragsweise zu langsam war und uns - wie gesagt - die Motive zur Auswahl seiner Argumente zu durchsichtig und wenig tiefgründig schienen.) 

Immerhin konnte man in den Vorträgen von 2017 und jetzt von 2021 auch lernen, daß Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) (Wiki) der vermutlich erste Forscher war, der als Urheimat der Indogermanen den Nordschwarzmeerraum angesprochen hat. (Er vermutete noch die Skythen als urvolk wie einer Folie von Demoule zu entnehmen ist.) Wir lesen darüber in "Neue Deutsche Biographie" von 1985 (17):

Weiterreichende historische Interessen und methodische Innovationen verband Leibnitz mit Arbeiten zur Frühgeschichte der Erde (...), die er zusammen mit Schriften über den Ursprung der Germanen (1697) und der Franken (1715) seinen „Annales“ voranstellen wollte, sowie in der „Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex indicio linguarum“ (1710), in denen er vergleichende Sprachgeschichte und Etymologie als historische Hilfswissenschaften einsetzte. Überhaupt widmete L. den Sprachen als "Spiegel des Verstandes" (...) großes Interesse. Seine Studien zur Sprachenvergleichung gipfelten in Hypothesen über Ursprung und Verwandtschaft der Sprachen, die heutigen Auffassungen über die indogerman. Sprachfamilien nahekommen. Besonderes Gewicht legte er auf die Wortbildung und die Namenforschung, sah er doch in den Eigennamen, besonders in den geographischen, die ältesten Zeugnisse einer ursprünglichen Namengebung. (...) Obgleich sein Interesse auf die Pflege der deutschen Hochsprache gerichtet war und darauf, ihren Wortschatz ohne puristische Ambitionen zu reinigen und durch Wiedereinsetzung versunkener Wörter zu erweitern, legte er großen Wert auf die Erforschung der Mundarten. (...) L.s „Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache“, mit denen er um die Jahrhundertwende den alten Plan zur Einrichtung einer „teutschgesinnten Gesellschaft“ wiederaufgriff.

David Reich

Auch von dem Archäogenetiker David Reich gibt es neue Vorträge, die in ihren hinteren Teilen die eine oder andere Neuerkenntnis enthalten (18, 19). Diese sind aber sehr speziell, so daß wir an dieser Stelle nicht auf sie eingehen wollen. In einem dieser Vorträge (18) bringt Reich gleich zu Anfang eine einprägsame Grafik aus einer Studie aus dem Jahr 2012, an der noch der Genetiker Luigi Cavalli-Sforza mitgearbeitet hatte (20).

Abb. 2: Gründereffekte bei de Ausbreitung des anatomisch modernen Menschen über die Erde (Grafik von 2012) (aus 20)

Diese Grafik (Abb. 2) stellt dar, daß die moderne Menschheit in einer Reihe von "founder events", "Gründerereignissen" entstanden ist, sprich daß Evolution auch noch seit der Zeit stattgefunden hat, in der sich der Mensch über die Erde ausgebreitet hat. Dabei konnte es jeweils lokal noch zu starken genetischen Veränderungen kommen, unter anderem durch sogenannte Flaschenhals-Populationen. In dieser Grafik geht darum, ein Grundprinzip deutlich zu machen. Wir wissen natürlich spätestens seit 2015, daß die Entstehung der modernen Völker um ein vielfaches komplexer war als es auf dieser Karte zur Darstellung kommt (nämlich durch die vielen "genetic replacement" schon gleich nach der ersten Ausbreitung des anatomisch modernen Menschen während der Eiszeit und auch danach in unterschiedlichen Weltteilen in unterschiedlichem Ausmaß. In Europa womöglich am häufigsten. 

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  1. Anthony, David: How ancient DNA revived ancient migrations in archaeology, Online-Vortrag vom 24.09.2021 für das UBC Centre for Migration Studies Mobilities Group and CNERS, https://youtu.be/MXYh99pYu7w.
  2. Razib Khan's Unsupervised Learning - David Anthony - The origin of Indo-Europeans, Podcast, 21. Mai 2021, https://www.listennotes.com/de/podcasts/razib-khans/david-anthony-the-origin-of-Cs4pzYGPiqK/
  3. Anthony, David: Yamnaya: Source of their CHG Ancestry, 31.3.2021, https://youtu.be/-MOrEA84qvo.
  4. Anthony, David: Maykop & Steppe Maykop Genetics & Origins, 31.3.2021, https://youtu.be/1O1zDrW7SvE
  5. Anthony, David: 2018, https://www.facebook.com/watch/live/?ref=watch_permalink&v=2191693454395656
  6. Anthony, David: Early Indo-European migrations, economies, and phylogenies, 05.09.2013, https://youtu.be/d864bwyCAoA.
  7. Davidski: The PIE homeland controversy: June 2021 status report, https://eurogenes.blogspot.com/2021/06/the-pie-homeland-controversy-june-2021.html
  8. Frank N.:  How did CHG get into Steppe_EMBA? Part 2: The Pottery Neolithic. https://adnaera.com/2019/01/11/how-did-chg-get-into-steppe_emba-part-2-the-pottery-neolithic/
  9. Bading, Ingo: Ostsee-Handels-Schifffahrt lange vor dem Ackerbau - Ein ausgestorbenes Fischervolk in Pommern 5.000 bis 3.000 v. Ztr., Juli 2017, http://studgendeutsch.blogspot.com/2017/07/ostsee-handels-schifffahrt-lange-vor.html
  10. Inga Merkyte and Søren Albek: Boundaries and Space in Copper Age Bulgaria: Lessons from Africa,. In: Tells: Social and Environmental Space. Proceedings of the International Workshop "Socio-Environmental Dynamics over the Last 12,000 Years: The Creation of Landscapes II (14th  –18th March 2011)" in Kiel. Hrsg. von Robert Hofmann, Fevzi-Kemal Moetz und Johannes Müller. Habelt, Bonn 2012, S. 167ff (pdf)
  11. Bading, Ingo: Der Rinderwagen in der Weltgeschichte Prozessionen an Königsgräbern lassen um 3.100 v. Ztr. staatliche Strukturen in Norddänemark erkennen, 2010, https://studgendeutsch.blogspot.com/2010/10/3100-v-ztr-der-rinderwagen-in-der.html
  12. Bading, Ingo: Unsere Pferde stammen vom Don und von der Wolga, 2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/10/unsere-pferde-sie-stammen-von-don-und.html 
  13. Jean-Paul Demoule (Université de Paris I): Aber wo sind jetzt die Indogermanen? Vortrag am 4. November 2021, Berlin-Dahlem, https://www.dainst.blog/archaeology-in-eurasia/16te-thomsen-vorlesung/; angekündigt von Svend Hansen (Academia), https://youtu.be/eD2dKRoCCFg.
  14. Jean-Paul Demoule - The canonical Indo-European model and its assumptions, Reijkjavik, 2017, https://youtu.be/fsUqyL48ETY
  15. Demoule, Jean-Paul: Aber wo sind die Indoeuropäer geblieben? Der Ursprungsmythos des Westens. 2014 (Mais où sont passés les Indo-Européens? - Le mythe d'origine de l'Occident, Paris, Éditions du Seuil, coll. "La librairie du XXIe siècle", 2014, 741 p) (überarbeitete Neuauflage 2017 mit 826 Seiten)
  16. Krause, Suzanne: Die Legende vom verschollenen Indo-Germanen, 2015, https://www.deutschlandfunk.de/sprachwissenschaftler-die-legende-vom-verschollenen-indo.1148.de.html?dram:article_id=310817
  17. Schepers, Heinrich, "Leibniz, Gottfried Wilhelm" in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 121-131 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118571249.html#ndbcontent 
  18. Reich, David: Origins of Humans and Culture, 12.7.2021, https://youtu.be/rXsNKNZtdM0.
  19. Reich, David: 16.6.2021, https://youtu.be/dhlzpvQx74U.
  20. The great human expansion. Brenna M. Henn, L. L. Cavalli-Sforza, Marcus W. Feldman. In: Proceedings of the National Academy of Sciences Oct 2012, 109 (44) 1, https://www.pnas.org/content/109/44/17758.

5 Kommentare:

  1. Hallo Herr Bading, bitte entschuldigen Sie meine freche Frage, aber sind Sie sich sicher, dass Reich, Anthony oder z.B. ihr deutscher Kollege Johannes Krause, den Sie sicherlich kennen, in ihren Forschungen grundsätzlich anders als ein Demoule verfahren? Genauer formuliert: glauben Sie, ihre Arbeit sei grundsätzlich frei von "außerwissenschaftlichen Motiven"? Mich würde Ihre klare Stellungnahme dazu sehr interessieren.

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  2. Ja, das glaube ich.
    Die Ergebnisse der modernen Archäogenetik passen ja zu KEINERLEI vorgegebenem Schema, zu KEINEM.
    JEDES vorhergehende ideologische Konstrukt, das es gab - "Es gibt Rassen", "Es gibt keine Rassen", "nordische Rasse als Urrasse" und unzählige weitere, also schlichtweg JEDES bisherige ideologische Konstrukt muß Federn lassen, wird über den Haufen geworfen.
    Die Wirklichkeit selbst stellt sich wieder einmal als ganz anders dar als man sich das beim unzureichenden Kenntnisstand, den man bislang hatte, hatte zusammen reimen können.
    Die genannten Archäogenetiker sind ja - ideologisch gesehen - eher Befüworter von Multikulti. Und DENNOCH zeigen all ihre Forschungsergebnisse, wohin man blickt, nur einen Umstand auf: Die Weltgeschichte wurde von Völkern gemacht.
    Dieser Umstand, nämlich daß Ethnozentrismus eine so große Rolle spielt in der Humanevolution, ist aber schon längst keine "Ideologie" mehr, sondern schon lange Wissenschaft, insbesondere wird dieser Umstand im Rahmen der Soziobiologie/Evolutionären Anthropologie seit Jahrzehnten intensiv erfoscht.
    Übrigens hält sich Demoule sehr weitgehend an die Fakten. Demoule verfährt also gar nicht anders als alle anderen. Höchstens die Gewichtungen, die Auswahl und die Beleuchtung der Fakten ist bei ihm noch anders.
    Aber so verläuft ja Wissenschaftsgeschichte allgemein: Über lange Strecken gibt es VIELE Meinungen. Am ENDE gibt es nur noch eine, nämlich die Wirklichkeit. Und die kristallisiert sich gegenwärtig auch für die Völkergeschichte heraus.

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  3. Weil ich gerade darauf stoße, hier nur ein Beispiel für die Erforschung des Ethnozentrismus durch die Evolutionäre Psychologie:

    Hannes Rusch, Charlotte Störmer: An Evolutionary Perspective on War Heroism, 2015, https://www.militairespectator.nl/thema/ethiek/artikel/evolutionary-perspective-war-heroism

    Auf dieser Linie wird es im Anschluß an die neuen Erkenntnisse der Archäogenetik über genetic replacements in nächster Zukunft noch viele Forschungen geben.

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  4. Vielen Dank für den Hinweis, Herr Bading. Auch Danke für Ihre Stellungnahme zu meiner obigen Frage. Sie haben eben einen sehr wichtigen Punkt angesprochen, nämlich "die Gewichtungen, die Auswahl und die Beleuchtung der Fakten", die meiner Meinung nach nicht unterschätzt werden dürfen.

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  5. Ganz richtig, bei Demoule, der gar nicht dicht genug an der archäogenetischen Forschung dran ist, mag das in noch sehr grobem Sinne so sein.
    Bei den ANDEREN, die mit viel zu vielen Detailproblemen zu tun haben, die viel zu viele auf den ersten Blick widersprüchliche Details in ein widerspruchsloses Bild einordnen müssen, die sind WAHRLICH mit anderen Dingen beschäftigt als zunächst einmal damit, die Detailfülle irgendeinem außerwissenschaftlichen Schema unterzuordnen.
    Das geht JEDEM so. Mir gegenwärtig beim Verfassen des neuesten Blogartikels auch wieder. Man steht ständig vor Unerwartetem. Und muß neu sortieren. Da hat man gar keine Zeit, außerwissenschaftliche Motive gar zu stark Einfluß nehmen zu lassen. Das geht ja sinnvoll auch erst, wenn man sich ein widerspruchsloses Bild der Gesamtzusammenhänge erarbeitet hat.
    Denn sonst würde man schon an der nächsten Wegecke wieder mit Fakten zusammen stoßen (wie das Leuten wie Demoule - meines Erachtens - nicht selten passiert).
    WENN aber das Bild möglichst widerspruchslos und stimmig geworden ist, DANN mögen solche außerwissenschaftlichen Einflüsse wieder eine etwas größere Rolle spielen und die Gewichtung, Auswahl und Beleuchtung der Fakten - zum Beispiel auch bei mir - mit beeinflussen. Aber auch das geht dann eben nur noch im Rahmen dessen, was im Angesicht der Faktenfülle widerspruchslos gesagt werden kann.
    Sprich, diese außerwissenschaftliche Beeinflussung dürfte von mal zu mal "subtiler" ausfallen.
    Kepler (und sogar Newton) haben sich in ihren Forschungen noch von außenwissenschaftlichen Motiven (Aberglauben, Astrologie) beeinflussen lassen, die heute von der großen Mehrheit der Menschen belächelt werden. Wir erinnern uns bei ihnen nur noch an das, was vor der Wirklichkeit bis heute wirklich Bestand hatte.

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