Donnerstag, 23. September 2021

Seeanemonen - In ihrem Genom schlummern mehr Fähigkeiten als sie zeigen

Schlummern in unseren Genomen unbekannte, nicht ausgeprägte Funktionen?
- Stellen nicht abgelesene Genom-Abschnitte eine Art "Spielwiese der Evolution" dar?

Der Konstanzer Biophysiker und Zellbiologe Gerold Adam (1933-1996) hat schon Anfang der 1990er Jahre die Regulation der Genablesung in lebenden Organismen über Methylierung und Demyethylierung erforscht. Ihm erschien es schon damals bedeutsam, daß ein großer Teil des Genoms eines einzelnen Organismus während seiner Lebensspanne gar nicht abgelesen wird, sondern "unabgelesen" im Organismus "ruht", "schlummert". Er vermutete schon damals gesprächsweise, daß in diesen nicht abgelesenen Genom-Abschnitten eine Art "Spielwiese der Evolution" vorliegen würde, so drückte er sich aus.

Abb. 1: "Vergangen aber nicht vergessen - Genom-Editierung läßt vergessenen Zelltyp wieder auferstehen" - In der Seeanemone Nematostella vectensis - Vortragsankündigung auf Facebook (Fb)

Und er mutmaßte, daß man hier künftig auch frühere Stadien der Evolution "wieder finden" würde können, also Gen-Funktionen, die von dem jeweiligen heutigen Organismen gar nicht mehr benötigt werden, die aber in früheren Stadien der Evolution von seinen Vorfahren gebraucht und benutzt worden waren (1). Er stellte sich das so vor wie etwa beim Axolotl, wo ja in der Larven-Phase auch zum Teil ganz andere Genomabschnitte in anderen Aktivitätsmustern abgelesen werden müssen als in der adulten Phase.

So viel es dem Autor dieser Zeilen aber bekannt ist, war in den 1990er Jahren noch kein guter Beispielorganismus bekannt, an dem aufgezeigt worden wäre, daß in ihm Gen-Funktionen tatsächlich schlummern, die im Leben des jeweiligen Organismus gar nicht abgerufen werden.

Nun berichtet aber der Biologe Reinhard Junker in dem auch sonst sehr lesenswerten Genesis-Newsletter (dessen christliche Orientierung man freilich in Rechnung stellen muß) über folgenden neuen Forschungen (2):

Lebewesen besitzen schlummernde Bauplanmodule, die im Normalfall nicht genutzt werden, aber unter bestimmten Bedingungen abrufbar sind. Wer hätte beispielsweise gedacht, daß manche krautige Pflanzen eine Art „Holzmodul“ besitzen, das sie unter bestimmen Bedingungen ausprägen können und dadurch verholzen? (Losos, JB, Glücksfall Mensch - Ist die Evolution vorhersehbar? 2018, S. 93). (...) Ein Bauelement, das durch einen Umweltreiz oder eine geringfügige genetische Änderungen fix und fertig abgerufen werden kann, war offenbar schon vorher da. (...) Über ein erstaunliches Beispiel eines latent (im Verborgenen) vorhandenen Organs bei Quallen berichtete kürzlich Leslie Babonis von der Cornell University auf der virtuellen Jahrestagung der Society for Integrative and Comparative Biology (Pennisi 2021).
Quallen sind berüchtigt wegen ihrer Nesselzellen, deren Stich Hautreaktionen und heftige Schmerzen verursachen. Babonis hat herausgefunden, daß ein einziger genetischer Schalter stechende Nesselzellen in Zellen umwandeln kann, die an einer Unterlage kleben können. Dies ermöglicht dem Tier, im Verlauf der Entwicklung von der frei beweglichen Larve zum festsitzenden (sessilen) Organismus neue Oberflächen zu besiedeln. Die Nesselzellen der Quallen haben mehrere Erscheinungsformen. Die Stachelzellen (Nematozyten) schießen winzige, giftbeladene Harpunen ab, während einige Nesselzellen in Seeanemonen und Korallen Fäden aus klebrigem Material absondern, mit denen sich die Tiere in Substraten wie Schlamm verankern können.
Babonis untersuchte mit ihrem Team die 5 cm lange, durchsichtige Seeanemone Nematostella vectensis. Die Forscher schalteten das Sox2-Gen aus, das bei vielen anderen Tieren für die neurale Entwicklung wichtig ist. Es zeigt sich, daß als Folge davon Nematozyten in den Tentakelspitzen krumme Harpunen ausbildeten, Nematozyten aber an der Körperwand fehlten; an ihrer Stelle wurden fette Nesselzellen, sogenannte robuste Spirozyten, ausgebildet, die (bei anderen Arten) für ihre Klebrigkeit bekannt sind.
Diese Zellen waren bei dieser Art bislang noch nie beobachtet worden. Offenbar hat das Sox2-Gen die Funktion eines Schalters. Wenn es aktiv ist, bilden sich Stachelzellen, andernfalls bilden sich Spirozyten, aber nur in der Körperwand. Ob Sox2 auch bei anderen Nesseltieren für die Spirozytenbildung wichtig ist, ist bisher nicht bekannt.
Solche Regulationsgene, die wie Schalter wirken, sind an sich keine neue Entdeckung; man kennt sie als homöotische Mutationen. Zum Beispiel können durch solche Mutationen die Antennen eines Insektes in Beine umgewandelt werden. Ein neuer Befund ist jedoch, daß solche Änderungen auch bei als einfach geltenden und stammesgeschichtlich an der Basis stehenden Formen vorkommen. „Man erwartet normalerweise nicht, daß Organismen in der Lage sind, Organe zu produzieren, die sie normalerweise nicht entwickeln“, kommentiert Nicole Webster, Evolutionsbiologin an der Clark University (Pennisi 2021). (...) Das plötzliche Auftreten der Klebzellen (Spirozyten) ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Lebewesen Bauplanmodule gleichsam in petto haben, die bereits fertig ausgebildet sind und auf Abruf bereit stehen. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Bedeutung, ob es sich bei den experimentell umgewandelten Nesselzellen um echte Spirozyten handelt. Die Information zur Ausbildung dieser spezialisierten Zellen war in jedem Fall bereits vorhanden. (...)
Es stellen sich neue Fragen: Wie sind die spezialisierten Typen der Nesselzellen ursprünglich entstanden? Wie konnte die Fähigkeit, Klebzellen zu bilden, in einem latenten Zustand erhalten bleiben?

Junker bezieht sich also auf einen Bericht im "Science-Magazin" (3). Und die von ihm aufgeworfenen Fragen dürften durchaus berechtigte Fragen sein. 

Aber natürlich wirft die Möglichkeit, daß die Natur so arbeitet, auch eine Frage dahingehend auf, inwiefern Erscheinungen konvergenter Evolution im Organismen-Reich jeweils tatsächlich als "konvergent" anzusehen sind oder ob da nicht Arten an unterschiedlichen Zweigen im Artenstammbaum einfach "nur" - unabhängig voneinander - ähnliche, archaisch entstandene und abgespeicherte Funktionen einfach nur "erneut" ab- und aufgerufen haben. In diesem Falle hätte die Evolution ja nichts "Neues" erfinden zu brauchen, sondern nur auf Altbewährtes, Abgespeichertes zurückgreifen brauchen.

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  1. Adam, Gerold: Persönliche Mitteilungen, Anfang der 1990er Jahre
  2. Junker, Reinhard: Seeanemonen: Evolution oder Abruf eines Programms? In: Genesis-Newsletter, 22.1.2021, http://www.genesisnet.info/index.php?News=285
  3. Pennisi E (2021) Anemone shows mechanism of rapid evolution. Science 371, 221, https://www.science.org/doi/10.1126/science.371.6526.221

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