Mittwoch, 20. Mai 2020

Wie wir durch Sitzen unser Leben verlängern

Hockt euch auf den Boden!
"Wie wir durch Sitzen unser Leben verlängern können - Unsere Körper sind evoluiert dafür, Pausen zu machen. Jedoch kann das Sitzen auf Stühlen und Sofas langfristige Schäden hervorrufen. Wir zeigen, wie Sie ihre Gesundheit verbessern können, indem sie die Art ihres Sitzens ändern."
("How changing the way you sit could add years to your life - Our bodies evolved to take rest breaks, but sitting on chairs and couches can cause long-term damage. Here’s how to change the way you sit and boost your health.")

So titel der "New Scientist", um die Öffentlichkeit mit den neuesten Forschungsergebnissen vertraut zu machen (5). Wir sollen nicht mehr auf Stühlen sitzen, sondern auf dem Boden.

Abb. 1: Der Schiffsführer Pa-Anch-Ra, Statue, Ägypten, etwa 650–633 v. Ztr. (Wiki)

"Sitzen, Schwätzen und die Evolutionsbiologie der menschlichen Inaktivität" - so lautet der Titel jener Forschungsstudie, auf die diese Gedanken zurück gehen. In ihr heißt es einleitend (1):

Ethnografische Daten legen nahe, daß menschliche Jäger und Sammler viel Zeit mit Ausruhen und Inaktivität verbringen. Jäger und Sammler bleiben dabei vergleichsweise unberührt von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. (...) Die Menschen sitzen bei ihnen typischerweise nicht auf Stühlen, wenn sie inaktiv sind, sondern hocken, knien oder sitzen mit Unterbrechungen in anderer Form. Und das erfordert in geringfügigem Maße Muskelaktivität. Und das reduziert möglicherweise die negativen physiologischen Folgen der Inaktivität. Deshalb ist es möglich, daß die Zeitdauer, die inaktiv verbracht wird, weniger wichtig ist als die Intensität der Inaktivität (z.B. was die Muskelaktivität betrifft).
Some ethnographic data suggests human foragers engage in large amounts of rest and inactivity (24⇓–26), and foraging populations remain relatively free from CVD (5, 6, 22, 27). While inactivity may be more common than assumed in these populations, people living in small-scale foraging societies may practice styles of inactivity distinct from those seen in urban populations. For example, individuals do not typically sit in chairs when inactive, but instead, squat, kneel or otherwise sit with interruptions that require low-intensity muscle activity, potentially reducing the negative physiological impact of inactivity (28⇓–30). Thus, it is possible that time spent inactive is not as important as the intensity (i.e., muscular effort) of inactivity.

In der dann vorgestellten Bewegungs-Studie an dem Jäger- und Sammler-Volk der Hadza in Ostafrika wird als Ergebnis präsentiert, daß diese beim Sitzen 20 bis 30 % mehr Muskelaktivität aufweisen als wir, obwohl sie ebenso lang den ganzen Tag über sitzen. Und dies beruht nur auf einem einzigen Grund: Sie sitzen, hocken oder kauern auf dem Boden und nicht auf höheren "Sitzgelegenheiten" wie Stühlen, Bänken oder Liegen (1-4). Dies wird in der Studie als Ursache benannt dafür, daß die Angehörigen dieses Volkes gesünder sind als wir modernen Zivilisationsmenschen, obwohl sie sich über den Tag hinweg keineswegs sonderlich mehr bewegen als wir.

Abb. 2: Titel "New Scientist", 15.7.20

Sie jagen oder sammeln am Tag etwa nur eine gute Stunde lang. In dieser Zeit sind sie durchaus sehr gut in Bewegung. Ansonsten aber sitzen sie herum. Sie schwatzen miteinander, singen, erzählen, Neudeutsch: sie "gammeln", bzw. "chillen". Sie sind also etwa dieselbe Zeit am Tag körperlich "inaktiv" wie der moderne  Büromensch auch. (Denn aufgrund der nachhaltigen Arbeitsrationalisierungen der vielen letzten Jahrzehnte kehrt in der Dienstleistungsgesellschaft der Mensch zunehmend mehr zu der museintensiven Lebensweise unserer Jäger-Sammler-Vorfahren "zurück".)

Die Studie spricht deshalb - schon in ihrem Titel - von einer "Evolutionsbiologie der menschlichen Inaktivität". Der gedankliche Hintergrund ist, daß Inaktivität und Ruhepausen im Tierreich von der Evolution im allgemeinen durchaus als vorteilhaft "bewertet" werden, zumindest aber nicht als nachteilig. Tiere können bekanntlich sehr gut faulenzen. (Und diesem Umstand ist ja sogar von so manchem Philosophen so manche Bedeutung zugesprochen worden.)

Noch während des Lesens von Wissenschaftsberichten über diese Studie (2-4) ist man - schlechten Gewissens - versucht, den fast schon vergessenen Gymnastikball als Sitzgelegenheit herbei zu holen oder den Schaukelhocker (den mancher rücken-geplagte Mensch sich schon angeschafft haben mag). Bis einem bewußt wird, daß diese Studie ja eigentlich von etwas ganz anderem spricht.

Sie spricht schlicht von einem "Auf-dem-Boden-Hocken".

Abb. 3: "Der sitzende Schreiber" - Ägyptische Kalksteinstatue, um 2.500 v. Ztr. (Wiki)

Also von einem solchen "Auf-dem-Boden-Hocken" wie es für die Menschen des Neolithikums, der Bronzezeit und in vielen Regionen (zum Beispiel in Asien) auch noch in späteren Epochen ganz selbstverständlich war, bzw. ist. 

Soll das also auch für uns moderne Menschen heißen: Lagerfeuer-Romantik ist angesagt? Nun ausnahmsweise am Schreibtisch? Hocken ist angesagt, um aktiv zu bleiben? Vielleicht auch den sogenannten "Palaeochair" benutzen? Sitzen üben wie die Asiaten?

Was für ein Unsinn eigentlich, so schießt es einem durch den Kopf, daß die Asiaten in den letzten hundert Jahren überhaupt westliche Stühle eingeführt haben. Wer so sitzt, wie unsere Vorfahren, hat seine Bein- und sonstige Muskulatur um 20 bis 30 % mehr aktiviert als wenn er auf Stühlen sitzt.

Und ein wenig Eigenrecherche führt zu dem Ergebnis: Das Alte Ägypten ist eine der ältesten Schriftkulturen der Erde. In seiner Kunst scheinen Menschen fast ebenso oft auf dem Boden sitzend dargestellt worden zu sein wie auf Stühlen oder Bänken sitzend. So werden etwa Angehörige so angesehener Berufsstände wie dem der Schreiber oder auch der Schiffsführer spätestens ab 2.500 v. Ztr. in Gedenksteinen und Stelen auf dem Boden sitzend in Erinnerung gehalten (Abb. 1, 3, 4, 7). Sie strahlen auch wenn sie auf dem Boden sitzen, oft ruhige Würde und Stolz aus.

Abb. 4: Hockender Schreiber, Sakkara, 2.500 v. Ztr. (Kunst)

Solche Kunstwerke darf man gerne lange auf sich wirken lassen.

Auch in den vorhergehenden früh- und mittelneolithischen Hochkulturen des Mittelmeer- und Donauraumes wurden die Menschen oft auf dem Boden sitzend dargestellt (Abb. 5). Warum sollte man solche Kunstwerke auf sich wirken lassen? 

Nun, womöglich ist es an der Zeit, sich als moderner Zivilisationsmensch diese Frühstadien der kontemplativen, sitzenden, lesenden, schreibenden und arbeitenden Lebensweise erneut zum Vorbild zu nehmen.

Abb. 5: Zwei Terrakotta-Figuren aus einem Grab bei Cernavodǎ an der Donau, 200 Kilometer nördlich von Warna am Schwarzen Meer. Sie entstammen der rumänisch-bulgarischen Hamangia-Kultur aus der Zeit zwischen 5.500 und 4.700 v. Ztr. (Wiki)

Weg also mit den Stühlen. Aus Asien ist das ja schon lang bekannt. Die Stichworte lauten hier: "Asian Squat" (Wiki), Asiatische oder "Tiefe" Hocke. Auch vom japanischen "Fersensitz" ist die Rede ("Seiza") (Wiki).

Allerdings sollten gerade auch diese Hocke und dieser Fersensitz nicht übertrieben werden: Asiaten, die in dieser Ruhehaltung länger als eine Stunde ihres Tages zubringen, haben in höherem Alter deutlich mehr Knieprobleme. ("There is increased incidence of knee osteoarthritis among squatters who squat for hours a day for many years.")

Es gibt viele Asiaten, die das deutlich länger als eine Stunde am Tag machen, wobei sich Frauen in Asien häufiger in diese Haltung begeben als Männer. Und solche Menschen haben deutlich mehr Knieprobleme - nach einer Studie aus dem Jahr 2007.

Abb. 6: "Hockender Flötenspieler" von Arnold Kramer von 1910/1911 (Wiki)

Aber immerhin gibt es ja noch zahlreiche andere Sitzformen auf dem Boden als diese Hocke. 

Der Autor dieser Zeilen hat also gleich seinen Schreibttisch auf Bodenhöhe erniedrigt und Tage der Computerarbeit auf dem Boden verbracht. (Die Zeit des Homeoffice während des Lockdowns im April war dafür gut geeignet.) Nach dem ersten ganzen Tag, den er auf dem Boden verbracht hat, hat er Muskelkater in Körperregionen gehabt, in denen er sonst noch nie einen gehabt hat.

In der Tat also, Muskeln werden dabei aktiviert!

Abb. 7: Die Hockende Figur von Bes, Ägypten um 600 v. Ztr.

Runter auf den Boden mit Euch, also, mit uns Zivilisationsmenschen. 

Man ducke sich, man kauere sich hin! 

Wer das praktisch übt, wird zunächst das Gefühl haben, daß selbst das Denken in Kauerposition ein anderes ist. Man hat das Gefühl, im Sitzen auf einem Stuhl klarer und stringenter denken zu können als in Kauerposition. Aber die in diesem Beitrag gebrachten altägyptischen Skulpturen sollten einen eigentlich eines anderen belehren. 

Sie zeigen: Auch auf dem Boden ist würdevolles und vergeistigtes Sein möglich.

Abb. 8: "Kauernde Venus", Kupferstich von Albrecht Altdorfer, um 1525/30 (Kunst)

Ergänzung 2.7.2020: Bei der nachträglichen Suche nach ansprechenden Bebilderung dieses Beitrages wird uns bewußt, daß in der Kunst auf dem Boden "Hockende(r)", "Sitzende(r)", "Kauernde(r)" vergleichsweise häufig dargestellt sind (Abb. 1, 3 bis 10). 

Womöglich wäre einmal eine Auswertung sinnvoll dazu, in welcher Häufigkeit der Mensch in welcher Sitzposition von Seiten der Künstler - je nach Kultur und Zeitepoche - dargestellt ist. Womöglich würde eine solche Auswertung noch mancherlei Schlußfolgerungen und neue Hypothesenbildungen ermöglichen.

Als eine erste Arbeitshypothese drängt sich der Gedanke auf, daß der Mensch als Kauernder und Hockender von den Künstlern häufiger dargestellt ist als er - in der modernen Zivilisation - tatsächlich während des Tages eine solche Sitzhaltung einnimmt. Womöglich ließe diese Auswertung zum Beispiel Schlußfolgerungen zu in Hinsicht auf angeborene menschliche Schönheitspräferenzen zu, die aus der Jäger-Sammler-Zeit bis heute fortwirken könnten. 

Es mag das aber auch daran liegen, daß der menschliche Körper, auf dem Boden sitzend, für einen Künstler viel spannender darzustellen ist, womöglich einfach deshalb, weil auch mehr Muskeln angespannt sind.

Abb. 9: Hockende Frau, Kreidelithographie von Käthe Kollwitz, 1921

Es sind aber noch viele andere Arbeitshypothesen und Schlußfolgerungen in Zusammenhang mit solchen quantitativen Auswertungen denkbar. 

Deutlich wird auch gleich auf den ersten Blick, daß der Stuhl in der Menschheitsgeschichte anfangs eher die Funktion eines "Thrones" gehabt hat. Indem man auf einem Stuhl sitzt, überragt man jene, die auf dem Boden hocken oder sitzen. 

Auch findet man aufschlußreiche Kunstwerke unter Suchworten wie "sitting" und "neolithic" (s. Abb. 5).

Abb. 10: Hockender Somali von Georg Kolbe, Bronze, 1915/1926 (Kolbe)

Zu den Künstlern, die den Menschen gerne in hockender oder kauernder Position dargestellt haben, gehören etwa Michelangelo, Auguste Rodin, Georg Kolbe, Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, Egon Schiele, Fritz Klimsch, Aristide Maillol. Das sind nur die Künstler, auf die wir als erste aufmerksam werden. Es wird noch viele andere geben.

Kulturen, die den Menschen gerne auf dem Boden sitzend darstellten, waren zum Beispiel die Alten Ägypter, die Olmeken, sowie die früh- und mittelneolithischen Kulturen des Mittelmeerraumes.

In der Kunst der antiken Griechen findet man hingegen nur sehr selten auf dem Boden sitzende Menschen dargestellt. Hier dominieren auf Stühlen oder Liegen sitzende Menschen (6). Die Geschichte des Sitzens kann also künftig um das eine oder andere Kapitel erweitert werden (6).

Vorsicht! Knieschäden vermeiden!

Nachtrag 7.11.2021: Der Autor dieser Zeilen hat sich die "Lehren" dieses Blogartikels sofort vom Zeitpunkt der Veröffentlichung an zu Herzen genommen. Er hat ein Jahr lang die Zeit vor dem Bildschirm in der Regel verbracht, indem er auf dem Boden saß. Die Muskulatur wird dabei herrlich aktiviert. Das spürte er jeden Tag. 

Aaaaaber: Vorsicht! Was oben von Knieschäden schon berichtet worden ist, bestätigte sich etwa nach einem Jahr Auf-dem-Boden-Sitzen nur allzu eindrucksvoll. Seit etwa vier Monaten hat der Autor dieser Zeilen langwierige Schmerzen im rechten Knie, besonders wenn es stark angewinkelt wird - so wie er das ein Jahr lang offenbar viel zu häufig beim Sitzen getan hat. Deshalb hat er das Sitzen auf dem Boden sofort wieder aufgegeben. Die Schmerzen im Knie lassen allerdings nur sehr, sehr langsam nach, trotz Schonung. 

Weiterer Nachtrag 19.11.2021: Inzwischen sind die Schmerzen im Knie schon deutlich weniger geworden. Deshalb faßt der Autor wieder Mut zum Sitzen auf dem Boden. Aber ab jetzt mit der Lehre im Hinterkopf: Auf dem Boden sitzen ist gut. Doch sollte man es dabei künftig einigermaßen konsequent vermeiden, die Knie anzuwinkeln, bzw. sich so auf die Knie zu setzen, daß dadurch das Kniegelenk belastet wird.

Weiterer Nachtrag 26.9.2922: Aufgabe wäre weiterhin, eher in Bodennähe zu sitzen, dabei aber auf jeden Fall die Knie zu schonen. So richtige Routine hat der Verfasser dieser Zeilen seit der Erfahrung vor einem Jahr dafür nicht mehr gewonnen. Knie-schonend auf dem Boden zu sitzen, scheint noch schwerer zu sein, als sich überhaupt dazu durchzuringen, sich dauerhafter auf dem Boden nieder zu lassen.

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  1. Sitting, squatting, and the evolutionary biology of human inactivity David A. Raichlen, Herman Pontzer, Theodore W. Zderic, Jacob A. Harris, Audax Z. P. Mabulla, Marc T. Hamilton, Brian M. Wood Proceedings of the National Academy of Sciences Mar 2020, 117 (13) 7115-7121; first published March 9, 2020, DOI: 10.1073/pnas.1911868117, https://www.pnas.org/content/117/13/7115.abstract?etoc
  2. https://www.spektrum.de/news/lieber-hocken-statt-sitzen/1711786
  3. https://www.welt.de/kmpkt/article206589271/Trotzdem-fit-Jaeger-und-Sammler-sitzen-so-viel-herum-wie-wir-aber-anders.html
  4. https://www.fitbook.de/health/statt-sitzen-warum-wir-alle-haeufiger-hocken-sollten
  5. Herman Pontzer, David Raichlen: How changing the way you sit could add years to your life. New Scientist, 15 July 2020, https://www.newscientist.com/article/mg24732913-000-how-changing-the-way-you-sit-could-add-years-to-your-life/ 
  6. Eickhoff, Hajo: Himmelsthron und Schaukelstuhl Die Geschichte des Sitzens. Carl Hanser, 1993

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