Mittwoch, 26. Februar 2020

Völkerbewegungen im Mittelmeer-Raum ab 2.400 v. Ztr.

Indogermanen und iranisch-neolithische Bauern treffen auf anatolisch-neolithische Kulturen
- Die "Castelluccio-Kultur" auf Sizilien (2.500-1.400 v. Ztr.) nimmt eine Scharnierfunktion ein

Nach Dänemark kam die (anatolisch-neolithische) Kugelamphorenkultur über Zwischenstufen fast zeitgleich mit der indogermanischen schnurkeramischen Kultur zwischen 3.000 und 2.900 v. Ztr. (18, 19). Fast drängt sich dabei der Eindruck auf, als hätten die Schnurkeramiker Königreiche oder Fürstentümer der Kugelamphorenkultur unterworfen, Krieger dieser Kultur als geschlossene Heeresverbände in ihr Heer aufgenommen und eingegliedert und als hätten sie mit diesen gemeinsam Dänemark erobert. So würde es vielleicht am passendsten zu erklären sein, warum Schnurkeramiker und Kugelamphorenkultur zwar fast zeitgleich in Dänemark auftreten und auch einen einschneidenden Kulturumbruch mit sich bringen, warum aber dennoch anfangs beide Kulturen scheinbar getrennt voneinander und unvermischt auftreten. Womöglich wurden dabei unterschiedlichen Heeresteilen unterschiedliche Siedlungsräume zugewiesen (18). Jedenfalls haben wir hier die Erscheinung, daß eine große, in Ostmitteleuropa weitverbreitete Kultur, nämlich die Kugelamphorenkultur, in weiträumige Bewegung gerät kurz bevor dies auch für die indogermanische Schnurkeramik-Kultur gilt und kurz bevor diese große Kugelamphorenkultur untergeht und von den Schnurkeramikern ersetzt wird.

Eine irgendwie ähnliche Zeitabfolge könnte bezüglich der Ausbreitung der Indogermanen auch im Mittelmeerraum zu beobachten sein, insbesonderen im östlichen Mittelmeerraum: Die Unruhe der indogermanischen Glockenbecherkultur von Spanien und Italien aus könnte auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen haben, daß sich dreihundert Jahre später die iranisch-neolithische Genetik im östlichen Mittelmeerraum (weiter) nach Westen ausgebreitet hat, obwohl die Steppengenetik selbst in diesem östlichen Mittelmeerraum wiederum erst mehrere Jahrhunderte später deutlicher in Erscheinung tritt.

Abb. 1: Die "Schlafende Frau "von Malta, etwa 3.600 bis 3.000 v. Ztr. (Wiki)

So jedenfalls in groben Umrissen und in vorläufiger Deutung jenes Geschehen, auf das durch zwei archäogenetische Studien zur Völkergeschichte des Mittelmeerraumes während der Bronzezeit erneut hingewiesen wird (1, 2, 14, 15). Im April letzten Jahres haben wir in einem ersten Teil des vorliegenden Beitrages (13) und in zugehörigen, erläuternden Videos (4, 5) jene archäogenetischen Preprint-Studien (1, 2) behandelt, deren endgültige Versionen in den letzten Tagen erschienen sind (14, 15, 16). Ihr Erscheinen regt dazu an, sich erneut mit der Thematik zu beschäftigen, nicht zuletzt deshalb, weil die beiden Studien zwischenzeitlich weitere Erkenntnisse mit sich bringen, bzw. frühere Erkenntnisse revidieren.

In der ersten Studie, die den westlichen Mittelmeerraum behandelt, sind jetzt nämlich nicht mehr nur 52, sondern 61 Skelette ausgewertet worden (14). In der zweiten Studie, die nur Sardinien behandelt (15), sind jetzt nicht mehr nur 43, sondern 70 Skelette - stammend von 21 Ausgrabungsstätten - ausgewertet worden. Hier gibt es offensichtlich archäologische Forschungsgruppen, die eng mit den archäogenetischen Laboren in Boston und anderwärts zusammenarbeiten. Diese Datenerweiterung und die damit zusammenhängende weitere intensive Beschäftigung der Forscher mit den Daten gab Anlaß, einige Aussagen der Preprint-Paper zu revidieren, bzw. sie zu entschiedeneren Aussagen umzuformulieren.

Allerdings geht die Studie immer noch nicht auf die von uns gestellte und behandelte Frage (13) ein, aufgrund welcher historischer Umstände es überhaupt zur Ausbreitung von iranisch-neolithischer Genetik nach Anatolien hinein gekommen sein könnte.  Aber schauen wir uns das im Einzelnen an.

Kreta

In der Einleitung der Studie wird zunächst recht prägnant die Geschichte Kretas und damit der minoischen Kultur rekapituliert nach dem Forschungsstand der letzten Jahre (14):

In keinem der bisher publizierten Individuen der minoischen Kultur der Mittleren und Späten Bronzezeit (2.400 bis 1.700 v. Ztr.) auf Kreta im östlichen Mittelmeerraum gab es irgendeine nennenswerte Steppengenetik, allerdings trugen die Menschen hier 15 % iranisch-neolithische Genetik in sich. In Kreta und im nahen griechischen Festland wird Steppengenetik erst zur Zeit der mykenischen Kultur greifbar (um 1.600 bis 1.200 v. Ztr.).
Original: On the island of Crete in the eastern  Mediterranean, there was little if any steppe ancestry in any of the published individuals from the Middle to Late Bronze Age Minoan culture (dating to 2400–1700 bc), although these individuals derived about 15% of their ancestry from groups related to early Iranian herders (Iranian-related ancestry). However, steppe ancestry arrived in Crete and nearby Greece by the time of the Mycenaean culture (around 1600–1200 bc; Fig. 1).

Das ist und bleibt weiterhin eine erstaunliche Aussage. Wenn das Ergebnis der Studien nämlich Bestand haben sollte, ergibt sich nämlich ein ziemlich verrücktes Szenario für die Geschichte des Mittelmeerraumes in der Bronzezeit. Ein Szenario, wie es frühere Forscher gewiß nicht erwartet haben: Die indogermanische Steppengenetik der Glockenbecherkultur breitete sich in Italien aus - und von Spanien aus im westlichen Mittelmeerraum ab 2.200 v. Ztr..

Abb. 2: Keramik der Castellucio-Kultur auf Sizilien (2.200 bis 1.700 v. Ztr.) (Herkunft: izi.travel)

Der östliche Mittelmeerraum einschließlich von Kreta blieb in jenen Zeiten davon aber noch unbehelligt. Und das, obwohl - oder weil? - die minoische Kultur auf Kreta ihre Paläste und Städte ja noch nicht einmal befestigt hatte und ein höchst prächtiges, aber friedliches Kulturbild von ihm auf uns heute überkommen ist. Tatsächlich sind die begeisternden Menschendarstellungen auf den berühmten minoischen Wandbildern auch alle sehr dunkelhaarig.

Sizilien

Im Neolithikum lebten auf Sizilien - wie sonst im Mittelmeerraum - Gesellschaften anatolisch-neolithischer Herkunft. Eher nebenbei sei bemerkt, was uns hier zum ersten mal auffällt: Diese trugen einen recht großen Herkunftsanteil westeuropäischer Jäger und Sammler in sich. Der westeuropäische Jäger-Sammler-Anteil als vorliegend schon im Mittelmeerraum in diesem Umfang war dem Autor dieser Zeilen bisher gar nicht bewußt. Vermutlich kam dieser schon bei der Ethnogenese der anatolisch-neolithischen Genetik dazu, also um 6.500 v. Ztr. und vor ihrer Ausbreitung über den gesamten Mittelmeer-Raum und bis nach Skandinavien. Wie auch immer. Die Menschen auf Sizilien legten eindrucksvolle Kollektivgräber an***) wie sie auch von anderen Mittelmeerinseln dieser Zeitstellung überliefert sind. Überhaupt ist ja auch die ikonografische Überlieferung der größeren Mittelmeerinseln aus dem Neolithikum sehr eindrucksvoll und bietet viel Gelegenheit zum Nachdenken (17) (Abb. 1).

Ab 2.200 v. Ztr. nun finden wir auf Sizilien Menschen mit Steppen-Genetik (14). Diese Steppengenetik kam nun - höchstwahrscheinlich - aus Spanien. Und anders als in Spanien brachte diese Steppen-Genetik auf Sizilien keineswegs einen vollständigen Bevölkerungsaustausch mit sich. Ursprüngliche Y-chromosomale Haplotypen blieben auf Sizilien - im Gegensatz zu Spanien - nämlich weiterhin existent. Die zwei frühesten Individuen mit Steppengenetik auf Sizilien besaßen 22 und 39 Prozent Steppen-Genetik. Dieser Anteil sank dann in nachfolgenden Jahrhunderten auf Sizilien auf 10 bis 15 Prozent.*) Ab 1800 v. Ztr. finden sich aber dann auf Sizilien Menschen mit einem Anteil von 15 % jener iranisch-neolithischen Genetik**), von der bezüglich der minoischen Kultur schon die Rede war. Im Diskussionsteil der Studie heißt es darüber (14):

Unsere Analyse zeigt, daß iranische genetische Herkunft, die in der Ägäis weit verbreitet war und während der Mittleren Bronzezeit in Verbindung stand mit der minoischen und der mykenischen Kultur, sich spätestens in der Zeit der Mykener zu einem beträchtlichen Anteil nach Westen bis Sizilien ausgebreitet hat. Eine Möglichkeit ist, daß sich diese Herkunft nach Westen ausgebreitet hat mit der mykenischen kulturellen Expansion.
Original: Our analysis shows that Iranian-related ancestry, which was widespread among the Aegean by the Middle Bronze Age in association with the Minoan and Mycenaean  cultures, had also spread west into Sicily in a substantial proportion at least by the time of the Mycenaeans. One possibility is that this ancestry spread west along with the Mycenaean cultural expansion.

Um 2.200 v. Ztr. kam also nach Sizilien zuerst einmal Steppengenetik von Spanien aus. Und ab 1.800 v. Ztr. breitete sich dann iranisch-neolithische Genetik nach Sizilien aus mit der mykenischen Kultur, die ja - nachgewiesener Maßen - eine indogermanischen Sprache sprach. Bislang fand sich aber - offenbar - keine Steppen-Genetik, die sich mit der mykenischen Kultur nach Sizilien ausgebreitet hat. Insgesamt bleibt all das einstweilen ein sehr verrücktes Geschehen. Es ist zunächst nicht leicht widerspruchslos mit sich selbst und allem schon bisher Bekannten in Einklang zu bringen. Aber es läßt einen über die einleitenden Gedanken dieses Beitrages wiederholt nachdenken. Doch dann bekommt der Gedankengang noch einmal eine ganz neue Wendung, wenn es weiter heit (14):

Doch Funde aus der Zeit vor dem Höhepunkt der mykenischen Kultur sowohl auf Malta, als auch in Griechenland und in Anatolien, die in Verbindung gebracht werden mit der sizilianischen Castellucio-Kultur, eröffnen die Möglichkeit eines früheren Genflusses, eine Hypothese, die untersucht werden kann, sobald Daten aus vorminoischer Zeit aus der Ägäis gewonnen worden sind.
Original: However, the presence of artifacts associated with the Sicilian Castellucian culture in Malta, Greece and Anatolia before the peak of the Mycenaean culture opens the possibility of earlier gene flows, a hypothesis that could be investigated once pre-Minoan data from the Aegean become available.

Hier wird man auf Zusammenhänge und Kulturen hingewiesen, die einem bislang völlig unbekannt waren. In der Geschichte Siziliens (Wiki) spielt also tatsächlich eine "Castelluccio-Kultur" eine Rolle (geeignetes Suchwort für Google-Bildersuche: "cultura di castelluccio"). Anfangs jünger datiert wird sie heute auf die Zeit 2500 bis 1400 v. Ztr. datiert. Von einem ihrer Ausgrabungsorte wird berichtet (Wiki):

Häufig stieß man auf geschnitzte Knochen, die als Idole angesehen werden und den Funden von Malta und Troja II und III ähneln.

Auf solche archäologischen Erkenntnisse scheinen sich die Vermutungen der archäogenetischen Studie (14) zu stützen. In dem zugehörigen Preprint (1) war von dieser Kultur noch nicht die Rede. Der Hinweis auf sie ist also nachträglich eingearbeitet worden.***) Allerdings sind die von uns gesuchten und geforderten archäologischen Hinweise darauf, wie denn eigentlich die iranisch-neolithische Genetik sich überhaupt nach Anatolien hatte ausbreiten können (13), in der endgültigen Version immer noch nicht eingearbeitet worden. Aber immerhin ist auch der Hinweis auf diese Castelluccio-Kultur wertvoll.

Es wird damit aber erahnbar, wie die kunsthistorisch noch sehr "schlichte" und "urtümlich" wirkende indogermanische Glockenbecherkultur mit ihren zumeist gesichtslosen Menhiren (17) auf recht ähnliche Kulturen mit gesichtslosen Menhiren und Kollektivgräbern nicht nur im übrigen Europa, sondern auch im Mittelmeer-Raum (s. Abb. 1) - hier Sizilien - gestoßen sind, wie sie aber parallel auch schon Bekanntschaft machten mit einer Hochkultur vom Range der minoischen auf Kreta. Es kann hier sicherlich von einem "Clash of Cultures", von einem Zusammentreffen von Kulturen gesprochen werden.

Es wird aber auch sofort erahnbar, daß die "Schlichtheit" der Kunstäußerungen all dieser Kulturen sehr leicht ganz falsche Rückschlüsse nahelegen könnten erstens auf die vorliegende gesellschaftlich-wirtschaftliche Komplexität jener Gesellschaften, mit denen wir es hier zu tun haben (sowohl was einheimische wie zuwandernde betrifft), ebenso wie auf die weitreichenden Bevölkerungsbewegungen, von denen sie sowohl zum einen nur tangiert sein konnten, ohne daß ein deutlicher kultureller Umbruch damit verbunden sein mußte (siehe Zuwanderung der Glockenbecher-Leute nach Sizilien), die aber auch weitreichende - und vermutlich vergleichsweise dichte - politische, Kultur- und Wirtschaftskontakte im östlichen Mittelmeerraum mit sich bringen konnten wie sich das hier mit dem Hereinkommen iranisch-neolithischer Genetik von Griechenland, Kreta und Anatolien aus nach Sizilien andeutet. Hinsichtlich von Sizilien gibt es für die nachfolgende geschichtliche Epoche dann eine sehr deutliche Aussage (14):

Nach der Bronzezeit gab es einen umfangreichen Bevölkerungsaustausch.
There was large-scale population replacement after the Bronze Age.

Das heißt: Im Gegensatz zu Sardinien leben heute auf Sizilien nicht mehr Menschen mit einem so hohen genetischen Anteil, den sie von den ursprünglich einheimischen Bevölkerung aus dem Neolithikum überliefert bekommen haben wie wir das gleich von den Sarden auf Sardinien sehen werden. Das heißt: Mit den Phöniziern begannen im ganzen Mittelmeerraum erneut umfangreiche Bevölkerungsverschiebungen, die in römischer und arabischer Zeit je nach Region ihre unterschiedliche Fortsetzung fanden.

Sardinien

Für Sardinien werden die Ergebnisse der Studie in der Zusammenfassung nun entschiedener als zuvor formuliert (14):

Bis zum ersten Jahrtausend v. Ztr. stammt fast die gesamte Herkunft von den ersten Bauern, die die Insel besiedelten. (...) Im ersten Jahrtausend v. Ztr. begann eine umfangreiche Einwanderung nach Sardinien und gegenwärtig stammt nur noch 56 bis 62 % der Herkunft der Sarden von den ersten Bauern. Dieser Wert ist niedriger als frühere Schätzungen und weist darauf hin, daß Sardinien - wie jede andere Region Europas - ein Ort umfangreicher Bevölkerungsverschiebung und - vermischung war.  
Original: In Sardinia, nearly all ancestry derived from the island’s early farmers until the first millennium bc (...). Major immigration into Sardinia began in the first millennium bc and, at present, no more than 56–62% of Sardinian ancestry is from its first farmers. This value is lower than previous estimates, highlighting that Sardinia, similar to every other region in Europe, has been a stage for major movement and mixtures of people.

Die Studie findet also für die heutigen Sarden nicht mehr 70 % anatolisch-neolithische Herkunft - wie noch im Preprint vor einem Jahr - sondern nur noch 56 bis 62 %. Diese Schätzung beruht darauf, daß schon früher ausgewertete Vergleichs-Genome moderner Sarden - vor dem Hintergrund genauerer Erkenntnisse aus der Archäogenetik - einer erneuten genauen Untersuchung unterworfen worden sind. Das Ergebnis lautet nun (14):

Wir schätzen, daß sich moderne Sarden zwischen 56 und 62 %  (...) ihrer Herkunft von der ursprünglichsten bäuerlichen Besiedlung erhalten haben, zusammen mit einem beträchtlichen nordafrikanisch-marokkanischen Herkunftsanteil, der zwischen 17 und 21 % liegt. 
We estimate that modern Sardinians retained between 56.3 ±  8.1% (when using Sardinia_Neolithic) and 62.2 ± 6.6% (with Sardinia_BA) of their ancestry from local populations, along with a substantial proportion of North African Morocco_LN-related ancestry that ranges between 22.7 ±   9.9%  (when  using  Sardinia_Neolithic) and 17.1 ± 8.0% (when using Sardinia_BA). This North-African-related  mixture is a plausible source for the sub-Saharan African admixture that has been detected in modern  people from the island in multiple previous studies. Even this range of estimates of ~56–62% is an upper bound, as we are forcing in pre-Iron-Age Sardinians as the only source of European farmer ancestry on the island in all of these models.

Es wird also erkennbar, wie sehr die Forschung hier noch im Fluß ist. Für Sardinien wird noch hingewiesen auf (14) ...

... einen Ausnahme-Fund aus dem dritten Jahrtausend v. Ztr., der vorwiegend nordafrikanische Herkunft aufzeigte, und der - gemeinsam ungefähr mit einem Zeitgenossen in Spanien - den weitreichenden Genfluß von Afrika nach Europa während der Kupferzeit dokumentiert.
... an outlier from the third millennium bc, who had primarily North African ancestry and who - along with an approximately contemporary Iberian - documents widespread Africa-to-Europe gene flow in the Chalcolithic.

Schon die Ausbreitung des Ackerbaus selbst um 6.500 v. Ztr. von Anatolien aus rund um das gesamte Mittelmeer herum war durch Seefahrt erfolgt. Ebenso die Ausbreitung der Cardial-Keramik (Wiki) von Levanteraum aus. Der Fund nordafrikanisch-levantinischer Genetik nicht nur in Spanien, sondern auch in Sardinien um 2.200 v. Ztr. herum macht einmal mehr darauf aufmerksam, daß ein wirtschaftlicher, kultureller und genetischer Austausch im Mittelmeerraum zwischen entfernten Küsten zu dieser Zeit schon stattfand.

Vor dem Hintergrund der in diesem und in unserem vorigen Beitrag zum Thema (13) referierten neuen archäogenetischen Erkenntnisse wird man auf die Geschichte der großen Kulturen des Mittelmeerraumes nun zum Teil einen völlig neuen Blick richten. Es muß jetzt viel ganz neu "sortiert" werden.

______________
*) Im Original heißt es darüber (14):
In  the Middle Neolithic, Sicilians harboured ancestry typical of early European farmers, which we fitted as a mixture of Anatolia_Neolithic and WHG (Figs. 2 and 4, Supplementary Table 14). (...)
In the Early Bronze Age, we found evidence of steppe ancestry by around 2200 bc. In distal qpAdm, the two outliers with the strongest evidence have 22.1 ± 3.6% steppe ancestry (Sicily_EBA8561) and 39.0 ± 3.5%  steppe  ancestry   (Sicily_EBA11443); the latter individual is consistent with forming a clade with Mallorca_EBA (P=0.245), suggesting that they may harbour ancestry from a similar source (most plausibly Iberian; see below; Fig. 4a, Supplementary Table 14). For the main Early Bronze Age cluster of four individuals and two other outliers, we also fit  steppe ancestry, albeit at  the lower proportions of 14.1 ± 3.4% in Sicily_EBA3123, 13.5 ± 3.4%  in Sicily_EBA3124  and  9.9  ± 2.2% in the main cluster of Sicily_EBA  (Fig. 4, Supplementary Table 14, Supplementary Information). For Sicily_EBA and Sicily_EBA3123, we could not rule out an alternative model of Iranian-related ancestry rather than steppe as a third ancestry source, although we favour steppe models because of the results from the proximal modelling and the definitive presence of this ancestry  in  the  two  extreme  outlier  individuals. The  presence of steppe ancestry in Early Bronze Age Sicily is also evident in Y-chromosome analysis, which revealed that three out of the five  Early  Bronze Age males carried haplogroup R1b1a1a2a1a2  (R1b-M269), which is associated with the first western Europeans who carried significant proportions of steppe ancestry (Supplementary  Data  1). Two of these individuals carried the Y-chromosome haplogroup subtype R1b1a1a2a1a2a1 (Z195), which is now largely restricted to Iberia and has been hypothesized to have originated there during 2500–2000 bc70. A parsimonious scenario is that west-to-east gene flow from Iberia introduced these haplogroups into Sicily as well as to the Balearic Islands, where Y-chromosome haplogroup R1b-M269 is also found in Menorca_LBA.
**) Im Original (14):
We detected Iranian-related ancestry in Sicily by the Middle Bronze Age 1800–1500 bc, consistent with the directional shift of these individuals towards Minoans  and Mycenaeans in the PCA  (Fig. 2b); in distal modelling, Sicily_MBA requires 15.7  ± 2.6% of Iran_Ganj_Dareh_Neolithic-related ancestry (P=0.060; Fig. 4, Supplementary Table 14). Sources closer in time always require Minoan_Lassithi or Anatolia_EBA as a source (Supplementary Table 21). Modern southern Italians harbour Iranian-related ancestry, and our results show that this ancestry must have reached Sicily before the period of Greek political control when Sicily and southern Italy were part of Magna Graecia. We  modelled  Sicily_LBA as  81.5 ± 1.6%  Anatolia_Neolithic, 5.9 ±  1.6% WHG and 12.7 ± 2.1% Yamnaya_Samara (Fig. 4b, Supplementary Table 14). Although this distal modelling provides no hint of Iranian-related ancestry, modelling with sources closer in time supports Sicily_LBA having such ancestry through groups such as Anatolia_EBA or Minoan_Lassithi (Supplementary Table 22). Our distal modelling of modern Sicilians requires not only that the two eastern ancestry sources that we have shown were present by the Bronze Age - 10.0 ± 2.6% Yamnaya_Samara and 19.9 ± 1.4% Iran_Ganj_Dareh_Neolithic - but also a predominant component of North African ancestry (46.9  ± 5.6%  Morocco_LN;  Fig.  4, Supplementary Table 14). These results are consistent with most of the North-African-related ancestry having come into Sicily during the Iron Age and afterwards - a scenario that is further supported by our observation that modern Sicilians form a clade with Ibiza_Phoenician  (P=0.060) and the three most recent Sardinian individuals in our time series (Supplementary Information). Although these results are consistent in principle with a nearly complete ancestry turnover on the island since the Bronze Age, we cannot rule out the possibility that Bronze Age Sicilians made a more modest ancestry contribution to modern Sicilians. Uniparental  markers in modern Sicilians overlap those from the Bronze Age, with Y-chromosome haplogroup R1b-M269 occurring at high frequency (~25%) and mitochondrial haplogroups H, T, U and K also being present in the Bronze Age as well as in present-day groups.
***) Über ein Kollektivgrab dieser Castelluccio-Kultur bei Contrada Paolina auf Sizilien heißt es beispielsweise (Suppl., S. 18, pdf):
Die Menschenfunde stammen aus Grab 2 (...) in der weit verbreiteten Typologie der Castelluccio-Gräber. In früheren Studien wurden mindestens 76 Bestattete geschätzt, einschließlich Erwachsenen und Kindern beiden Geschlechts. Die vielen Bestattungen waren entlang der Grabkammer angeordnet und wurden als aufeinanderfolgende Bestattungen aus unterschiedlichen Zeiten vermutlich von derselben Familie oder demselben Clan interpretiert. Eine einzelne Hauptbestattung wurde in der Mitte des Raumes gefunden.
The human remains come from Tomb 2 with a diameter of 2.40 and height of 1.32m, a “grotticella” tomb of the "oventype” in the common typology of the Castelluccian tombs. In previous studies, the presence of at least 76 individuals has been estimated, including adults, and infants of both sexes (determined anthropologically). The multiple depositions were grouped along the tomb chamberwalls, interpreted as subsequent burials in different times probably by family or clan (common rite in coeval sites), and a single primary undisturbed burial was found in the middle of the room.
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  1. The Arrival of Steppe and Iranian Related Ancestry in the Islands of the Western Mediterranean. By Daniel M. Fernandes (...) Ron Pinhasi, David Reich, bioRxiv 584714; doi: https://doi.org/10.1101/584714, 21.3.2019, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/584714v1 
  2. Population history from the Neolithic to present on the Mediterranean island of Sardinia: An ancient DNA perspective. By Joseph H. Marcus, (...) Wolfgang Haak, David Reich, David Schlessinger, Francesco Cucca, Johannes Krause, John Novembre. 21.3.2019, doi: https://doi.org/10.1101/583104, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/583104v1
  3. The most violent group of people who ever lived. By Joe Pinkstone, Daily Mail, 29.3.2019, https://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-6865741/The-violent-group-people-lived.html
  4. Bading, Ingo: Die ersten Indogermanen auf Mallorca, 2.400 v. Ztr., Videoreferat, 02.04.2019, https://youtu.be/IO5jPLwX16Q
  5. Bading, Ingo: Wie kamen Nachkommen von Kaukasus-Bauern nach Sizilien, 1.800 v. Ztr.? Video-Referat, 02.04.2019, https://youtu.be/DKKKEg3Wwgs.
  6. https://en.wikipedia.org/wiki/Middle_Bronze_Age_migrations_(Ancient_Near_East) 
  7. Bading, Ingo: Die Indogermanen, ihre Nachbarvölker, ihre Ausbreitungsgebiete. 26.6.18, https://studgendeutsch.blogspot.com/2018/06/die-indogermanen-ihre-nachbarvolker.html
  8. https://de.wikipedia.org/wiki/James_Mellaart
  9. Mitochondrial genomes reveal an east to west cline of steppe ancestry in Corded Ware populations. By Anna Juras (...) Aleksander Kośko. In: Scientific Reports, Volume 8, 11603 (2018), 2.8.2018, https://www.nature.com/articles/s41598-018-29914-5 
  10. Yamnaya steppe ancestry, 1.3.2019, https://indo-european.eu/maps/yamnaya-steppe-ancestry/
  11. Deia, Mallorca, 16.10.2006, https://youtu.be/mYXNuLmylvs
  12. Erb-Satullo, N. L., Jachvliani, D., Kalayci, T., Puturidze, M., & Simon, K. (2019). Investigating the spatial organisation of Bronze and Iron Age fortress complexes in the South Caucasus. Antiquity, 93(368), 412–431. doi:10.15184/aqy.2018.191, https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/investigating-the-spatial-organisation-of-bronze-and-iron-age-fortress-complexes-in-the-south-caucasus/EB55B860C806435EB16FD25DB625C28A, url to share this paper: sci-hub.tw/10.15184/aqy.2018.191
  13. Bading, Ingo: 2.200 v. Ztr. - Kriegerische Glockenbecherleute im westlichen Mittelmeer-Raum, kriegerische Hethiter in Anatolien. 3. April 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/04/2200-v-ztr-kriegerische.html
  14. The spread of steppe and Iranian-related ancestry in the islands of the western Mediterranean. By Daniel M. Fernandes, Alissa Mittnik, […] David Reich. In: Nature Ecology & Evolution (2020), Published: 24 February 2020, https://www.nature.com/articles/s41559-020-1102-0
  15. Genetic history from the Middle Neolithic to present on the Mediterranean island of Sardinia. By Joseph H. Marcus, Cosimo Posth, […] John Novembre. In: Nature Communications volume 11, Article number: 939 (2020), Published: 24 February 2020, https://www.nature.com/articles/s41467-020-14523-6.
  16. Bading, Ingo: Die ältesten Eigendarstellungen seßhafter, europäischer Völker (ab 4.200 v. Ztr.), 9. Dezember 2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/12/die-altesten-eigendarstellungen-der.html.
  17. Brozio, Jan Piet et al. The Dark Ages in the North? A transformative phase at 3000-2750 BCE in the western Baltic: Brodersby-Schönhagen and the Store Valby phenomenon. Journal of Neolithic Archaeology, [S.l.], v. 21, p. 103-146, dec. 2019. ISSN 2197-649X. Available at: <http://www.jna.uni-kiel.de/index.php/jna/article/view/181>. Date accessed: 19 dec. 2019. doi: https://doi.org/10.12766/jna.2019.6. 
  18. Bading, Ingo: 3.100 v. Ztr.: Der Rinderwagen in der Weltgeschichte - Prozessionen an Königsgräbern lassen um 3.100 v. Ztr. staatliche Strukturen in Norddänemark erkennen, Oktober 2010, https://studgendeutsch.blogspot.com/2010/10/3100-v-ztr-der-rinderwagen-in-der.html

Sonntag, 23. Februar 2020

Intelligenzevolution bei den Papierwespen in den letzten 8000 Jahren

"23andme" ist bei den Papierwespen angekommen

Kurzgefaßt: Eine eusoziale nordamerikanische Papierwespen-Art besitzt die seltene Fähigkeit zur individuellen Gesichtererkennung. Diese wurde notwendig zur Vermeidung von sich ständig wiederholenden Rangkämpfen unter ihren streitbaren Königinnen. Diese mußten aber zusammen bleiben, da größere Kolonien mehr Überlebenschancen haben. Die entscheidenden Fragen lauten jetzt: Warum geschah das nur bei dieser Art und vor allem: warum erst in den letzten 8000 Jahren?

Individuelle Gesichter von Artgenossen unterscheiden, das kann die eusozial lebende mittel- und nordamerikanische Papierwespen-Art Polistes fuscatus (Wiki) (1). Sie lebt - wie andere Papierwespen (Abb. 1) - in Schwärmen von bis zu 200 Artgenossen mit mehrere Königinnen und sterilen Arbeiterinnen. Seit 2011 ist dieses Forschungsergebnis bekannt (Abb. 2). Selbst nah verwandte Arten beherrschen diese Gesichtererkennung nicht. Diese Fähigkeit beherrschen - nach derzeitigem Kenntnisstand - überhaupt nur eine Handvoll Arten im Insektenreich.

Abb. 1: Typisches Nest einer Papierwespe - Hier Polistes exclamans. Letztere hat ein ähnliches Verbreitungsgebiet in Mittel- und Nordamerika inne wie ihre Schwesterart Polistes fuscatus, von der sonst in diesem Artikel die Rede ist; Fotograf: Davefoc (Wiki)

Dieses Forschungsergebnis ist 2011 von dem jungen, aufstrebenden Wissenschaftler Michael J. Sheehan (Cornell, Sheehan-Lab, Google Scholar), sowie Mitarbeitern im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlicht worden. Mit anderen Forscherleistungen wird es nicht wenig dazu beigetragen haben, daß Sheehan heute eine Assistenz-Professur an einer der fünfzehn besten Universitäten der Welt innehat, nämlich an der Cornell-Universität (Wiki) im Nordosten der USA im US-Bundesstaat New York.

Über dieses Forschungsergebnis war 2011 breit im Wissenschaftsteil fast aller großen deutschen Tageszeitungen und Wochenmagazine berichtet worden (2, 3). (Da das leicht gegegoogelt werden kann, wird an dieser Stelle zum Einlesen nur beispielhaft auf die beiden eben angeführten Artikel verwiesen.) 


Diese Intelligenzevolution begann 6.000 v. Ztr.


Anfang 2020 wird von Seiten desselben Forschers bekannt (4):

Die Evolution dieser Fähigkeit zur individuellen Gesichtererkennung begann bei dieser Tiererst erst um 6.000 v. Ztr.. Um 2000 v. Ztr. bis etwa 0 nahm sie Fahrt auf. Und vor 500 Jahren ist sie bei dem heutigen Stand angelangt (Abb. 3).

Sagen wir: Ein - unerwartetes - Forschungsergebnis (4). Es ist so unerwartet, daß sich Wissenschaftsmagazine wie "Science" oder "Nature" offenbar nicht dazu durchringen konnten, es zu veröffentlichen. Deshalb kann die deutsche Wissenschaftspresse auch gut Gelegenheit nehmen, es gar nicht erst zu behandeln Immerhin ist es im angesehenen Wissenschaftsmagazin PNAS veröffentlicht worden. Und es wird gelegentlich in der englischsprachigen Wissenschaftspresse auf dieses hingewiesen (5). Aber wie verrückt: Wenn dieses Ergebnis Bestand hat, dann sind diese Papierwespen die erste Tierart, für die ein solcher evolutiver Vorgang genetisch und zeitlich - und auch regional/lokal/geographisch/artspezifisch - so eng eingegrenzt werden kann.

Abb. 2: Die Gesichter verschiedener nordamerikanischer Papierwespen lassen sich auch für Menschen gut unterscheiden. Quelle: Michael J. Sheehan, 2011, damals Universität von Michigan

In der Arbeit wird auch auf parallele Forschungen zur Evolution vergleichsweise hoher Intelligenz bei Delphinen, Elefanten, Papageien und Menschen hingewiesen. Nirgendwo aber konnte deren Evolution höherer Intelligenz bislang so genau im Genom und zeitlich wie geographisch so eng eingeordnet werden.

Aber berücksichtigt werden kann in diesem Zusammenhang gerne (ohne daß die Autoren der Studie expliziter darauf hinweisen müssen), daß nach heutigem Kenntnisstand die meisten Daten darauf hinweisen, daß einigermaßen in demselben Zeitraum über "jüngste" und "lokale" Intelligenzevolution auch jene Intelligenz und Intelligenzunterschiede evoluiert sind, die bei den heutigen Europäern und Ostasiaten auf der Nordhalbkugel - oder auch bei den Bantuvölkern südlich der Sahara - in Auseinandersetzung mit der jeweils lokal vorliegenden gesellschaftlicher Komplexität evoluiert sind. Diese Unterschiede werden in näherer Zukunft auch über Consumer genetics-Firmen wie 23andme oder MyHeritage oder Genomelink wahrnehmbar werden. Und das dürfte Shehaan im Kopf haben als er in einer gesprächsweisen Äußerung Bezug nimmt auf "23andme" (siehe unten).

Die vorliegenden Mechanismen auf genetischer Ebene sind für die genannten Arten und den Menschen bislang jedoch keineswegs so gut aufgeklärt wie das nun vermutlich für die mittel- und nordamerikanische Papierwespe Polistes fuscatus gesagt werden kann. Während die menschliche Intelligenz und die menschlichen Intelligenzunterschiede - wie wir seit wenigen Jahren wissen - stark polygenetisch im Genom verschaltet sind, zeigt diese Studie auf (4), daß die höhere Intelligenz bei Polistes fuscatus eher oligogenetisch verschaltet ist, also in einer eher überschaubaren Zahl von Genomstellen, nicht in tausenden oder zehntausenden "Small-Effect-SNP's" wie beim Menschen. 

Also noch einmal: Diese Papierwespen-Art Polistes fuscatus wäre die erste Tierart, für die ein solcher Vorgang "jüngster Intelligenzevolution" genetisch, zeitlich und lokal so eng eingegrenzt werden kann (Abb. 3).
Abb. 3: "Schätzungen des Alters einiger Gesichtererkennungs-Loci im Genom von P. fuscatus weisen auf mehrere Schübe in der jüngsten Selektion hin" (aus: 4)

Für die Papierwespen hätte die Forschung Teile eines solchen evolutiven Mechanismus also schneller herausgekriegt als sogar für uns Menschen und auch als für Delfine, Elefanten oder Papageien. Verantwortlich sind für die Intelligenzevolution der Polistes fuscatus vor allem Veränderungen der Steuerungssequenzen im nicht-kodierenden Genom, nicht Veränderungen im kodierenden Genom (4)*).
 
Pro Schwarm gibt es bei diesen Papierwespen meistens nicht nur eine, sondern mehrere Königinnen. Diese bilden eine Hierarchie untereinander, die darauf beruht, daß sie sich gegenseitig individuell erkennen können. Warum das ausgerechnet bei ihnen evoluiert ist und nur bei wenigen oder gar keinen anderen staatenbildenden Insekten und auch erst in den diesen wenigen letzten Jahrtausenden, wird sehr spannend werden zu erfahren.

Auch schließt sich eine Fülle von weiteren Fragen an dieses Ergebnis an. Zum Beispiel: "Dunbar's number" (Wiki) - gilt sie in irgendeiner Weise auch für Papierwespen, bzw. soziale Insekten? Also ist Intelligenzevolution gebunden an die Größe der sozialen Gruppe, innerhalb der sie geschieht, wie das Robin Dunbar für die Primaten aufgezeigt hat? Gilt auch für soziale Insekten die "Socail-Brain-Theorie"?  Das ist eine seit vielen Jahren offene und intensiv erforschte Frage.

Abb. 4: Subsistenz-Grundlage 1.000 v. Ztr.: gelb: Jäger-Sammler-Völker, grün: einfache bäuerliche Gesellschaften, braun: komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften (Wiki)


Die Entwicklung komplexer menschlicher Gesellschaften begann im Südamerika 8.800 v. Ztr.


Eine weitere Frage ist, ob hier womöglich Koevolution mit dem Menschen in irgendeiner Weise stattgefunden hat. Polistes fuscatus lebt natürlicherweise in Wäldern und braucht Holz als Lebensgrundlage. Papierwespen leben allerdings auch gerne in der Nähe des Menschen, beispielsweise auch gerne in der Nähe schwacher Lichtquellen. Das Verbreitungsgebiet von Polistes fruscatus reicht im Süden bis zum heutigen Staat Honduras, also bis südlich der Yucatan-Halbinsel von Mexiko. Dieser Umstand könnte einen auf den Gedanken bringen, ob womöglich irgendein Zusammenhang besteht zwischen dieser Intelligenzevolution bei den Papierwespen und ihrer Nähe zu Menschen, bzw. vielleicht auch zu: vielen Menschen.

Als früheste seßhafte und womöglich auch komplexe menschliche Gesellschaft auf dem amerikanischen Kontinent gilt nach derzeitigem Kenntnisstand eine indianische Kultur in der Moxos-Ebene (Wiki, engl) im heutigen Bolivien (Wiki):
Die Einwohner errichteten landwirtschaftliche Erdwerke: erhobene Felder, Wege, Kanäle und um 4700 bewaldete Hügel in einem Gebiet von 50.000 Quadratkilometern. Diese Erdarbeiten wurden ausgeführt zwischen 8.850 v. Ztr. bis 1450 n. Ztr.. Der Anbau beinhaltete seit 8.350 v. Ztr. Maniok, seit 8.250 v. Ztr. Kürbis, seit 4.850 v. Ztr. Mais. Viele domestizierte Pflanzen, einschließlich Maniok, Kürbis, Erdnüsse sowie einige Unterarten des Chilli und einige Bohnenarten stehen genetisch wilden Arten nahe, die es in der Moxos-Ebene gibt, was nahelegt, daß sie hier domestiziert worden sind. Die Menschen produzierten dekorierte Keramik, webten Baumwollkleidung und bestatteten an einigen Orten ihre Toten in großen Urnen.
The inhabitants constructed agricultural earthworks: raised fields, causeways, canals, and about 4700 forested mounds over a 50,000 square kilometer area. Construction lasted from about 8850 BCE to about 1450 CE. Cultivation included manioc from about 8350 BCE, squash from about 8250 BCE, and maize from about 4,850 BCE. Several domestic crops, including manioc, squash, peanut, some varieties of chili and some beans, are genetically very close to wild species living in the Llanos de Moxos, suggesting that they were domesticated there. The people made decorated pottery, wove cotton cloth, and in some places buried their dead in large urns.
Als sehr frühe komplexe Gesellschaft gilt auch die Norte-Chico-Kultur (Wiki, engl) in Nordperu. Dort begann die seßhafte Lebensweise um 3.500 v. Ztr.. Ab 3.200 v. Ztr. wurden dort Stufenpyramiden (!) in städtischen Siedlungen errichtet - ähnlich wie im zeitgleichen Mesopotamien. Zugleich aber handelt es sich um eine Kultur, die noch keine Keramik kannte (städtische   Gesellschaften ohne Keramik hat es im Vorderen Orient bis 7.000 v. Ztr. gegeben). Es ist schon eine aufregende Frage, wie eine so prägnante Bauweise wie "Stufenpyramide" gleichzeitig in zwei so weit auseinanderliegenden geographischen Regionen auf der Erde auftritt. Aber das sei hier nur am Rande erwähnt.

Für Mittelamerika gilt vielmehr als früheste seßhafte und zugleich städtische Kultur die Kultur der Olmeken (Wiki, engl). Diese beginnt aber erst um 1.500 v. Ztr.. 

Vermutung: Da größere Kolonien besser überleben, wurde Vermeidung von internen Rangkämpfen durch Gesichtererkennung zu einem Selektionsfaktor


Soweit seien unsere eigenen Überlegungen eingeschoben. Michael Sheehan wird mit den Worten zitiert (5):
"Das wirklich überraschende Ergebnis ist hier, daß der intensivste Selektionsdruck in der jüngsten Geschichte dieser Wespen nichts zu tun hat mit Klima, Nahrungssuche oder mit Parasitenbefall, sondern damit, besser miteinander zurecht zu kommen. Das ist ganz schön grundlegend."
"The really surprising conclusion here is that the most intense selection pressures in the recent history of these wasps has not been dealing with climate, catching food or parasites but getting better at dealing with each other. That's pretty profound."
Damit stellt er seine Studie also klar in die Tradition des Denkens der Social-Brain-Theorie. Sheehan sagt außerdem die schönen Worte (5):
"Das ist so eine Art von 23andMe - aber mit Papierwespen."
"It's kind of like 23andMe, but with paper wasps."
Als selektiven Druck für  diese Intelligenzevolution vermutet Sheehan, daß es bei Papierwespen mehrere Königinnen gibt, die miteinander Rangkämpfe führen (5): 
In Gemeinschaften mit einer einzigen Königin wie in den Honigbienen-Kolonien, sind die Rollen klar. Jedes Individuum kennt seinen Platz. Aber Papierwespen können fünf oder mehr Königinnen in einem Nest haben und Gesichtererkennung kann diesen Königinnen helfen, miteinander zurecht zu kommen. (...) Die Königinnen führen Rangkämpfe miteinander. Indem sie ihre gegenseitigen Gesichter erkennen, können sich die Königinnen daran erinnern, wen sie schon besiegt haben oder durch wen sie besiegt worden sind. Und das vermindert die Aggression im Nest.
In communal groups with a single queen, like honeybee colonies, the roles are clear, and each individual knows its place. But paper wasps may have five or more queens in one nest and facial recognition helps these queens negotiate with one another. (...) In their battle for dominance, queens fight with one another. By recognizing each other’s faces, the queens can keep track of who they’ve already beaten, or been beaten by, which lessens aggression in the nest.
Der Selektionsdruck ist also derjenige, daß größere Schwärme mit bis zu 200 Tieren leichter überleben und sich verteidigen können als kleinere Schwärme. Die individuelle Gesichtererkennung dient dazu, Rangkämpfe in größeren Schwärmen zu reduzieren, damit jede ihren Platz in der Gemeinschaft kennt und diesen konstant einnimmt ohne weitere aufwändige Kämpfe - zum Nutzen aller.

Die streitbaren Papierwespen, wozu ihre Streiterei alles nützlich ist. Hier sind bedeutende weitere Schritte in ein Forschungsfeld hinein getan, das sehr spannend ist und weiterhin spannend bleibt, nämlich in die Evolution von Intelligenz, die konvergent und parallel zur Evolution menschlicher Intelligenz in vielen verschiedenen Tierarten stattfand und stattfindet.

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*) Original (3): "Recent, strong, hard selective sweeps in P. fuscatus contain loci annotated with functions in long-term memory formation, mushroom body development, and visual processing, traits which have recently evolved in association with individual recognition. The homologous pathways are not under selection in closely related wasps that lack individual recognition. Indeed, the prevalence of candidate cognition loci within the strongest selective sweeps suggests that the evolution of cognitive abilities has been among the strongest selection pressures in P. fuscatus’ recent evolutionary history. Detailed analyses of selective sweeps containing candidate cognition loci reveal multiple cases of hard selective sweeps within the last few thousand years on de novo mutations, mainly in noncoding regions. These data provide unprecedented insight into some of the processes by which cognition evolves." 

/ ergänzt um: (6, 7)
11.4.2020 /
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  1. Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in Paper Wasps  By Michael J. Sheehan, Elizabeth A. Tibbetts  Science, 02 Dec 2011 : 1272-1275 
  2. Heuer, Jens Christian (Apotheker): https://ethologiepsychologie.wordpress.com/2012/01/18/gesichtserkennung-bei-papierwespen/
  3. https://www.scinexx.de/news/biowissen/wespen-unterscheiden-gesichter/
  4. Sara E. Miller, Andrew W. Legan, Michael T. Henshaw, Katherine L. Ostevik, Kieran Samuk, Floria M. K. Uy, Michael J. Sheehan: Evolutionary dynamics of recent selection on cognitive abilities. In: Proceedings of the National Academy of Sciences Feb 2020, 117 (6) 3045-3052; DOI: 10.1073/pnas.1918592117, https://www.pnas.org/content/117/6/3045
  5. Krisy Gashler: Paper wasps rapidly evolved ability to identify faces. January 27, 2020, https://news.cornell.edu/stories/2020/01/paper-wasps-rapidly-evolved-ability-identify-faces, gekürzt auch: https://phys.org/news/2020-01-profound-evolution-wasps.html
  6. Umberto Lombardo, José Iriarte, Lautaro Hilbert, Javier Ruiz-Pérez, José M. Capriles, Heinz Veit: Early Holocene crop cultivation and landscape modification in Amazonia. In: Nature. 2020, doi:10.1038/s41586-020-2162-7 

Samstag, 15. Februar 2020

"Wie evoluiert die Intelligenz?" (Ein Vortrag)

Ostasiaten - Indogermanen - Aschkenasische Juden - Gemeinsamkeiten in der Ethnogenese?

Das Kernargument dieses Vortrages erfolgt ab Minute 39:29. Ansonsten enthält diese Aufnahme (Livestream) einen bunten Blumenstrauß von Einzelthemen rund um das Gesamtthema "Humanevolution und Menschheitsgeschichte".



Der Livestream verfolgt ausdrücklich nicht stringent einen einzigen Gedankengang von vorne bis hinten. Sondern spontan werden zwischendurch auch ausgewählte Zuschauerfragen beantwortet, unter anderem solche von Seiten des Youtubers RuStAG Netzwerk 2.0 (Yt), der unter anderem Zweifel an der Out-of-Africa vorbrachte. Ganz grob gliedert sich der Vortrag in die folgenden drei Teile.

1. Teil


(1:07) - - - Eine Zuschrift weist mich hin auf das Buch "At Our Wits' End - Why We're Becoming Less Intelligent and What It Means for the Future"*) von Edward Dutton und Michael A. Woodley of Menie (2), und daß dieses sich auf Oswald Spengler's Kulturzyklen beziehen würde. Ich weise hin auf den Gedanken von der potentiellen Unsterblichkeit von Völkern und Kulturen. 

 (5:20) - - - Wiederholt behandele ich die Fragwürdigkeit, sich heute überhaupt in der Öffentlichkeit - sei es wie auch immer - zu positionieren. Einen Videokanal zu betreiben, kann leicht zu einem zweischneidigen Schwert werden in Zeiten, in denen nur noch emotionale Reflexe vorherrschen. 

(6:00) - - - Anläßlich einer Frage von RustAG behandele ich einige aktuellere Themen zur Evolution der Vormenschen und des Menschen in Afrika zwischen der Zeit vor 4,5 Millionen Jahren und vor 300.000 Jahren, sowie danach später.

2. Teil 


(17:40) - - - Rückkehr zum einleitenden Thema: Aktuelle Debatten über den Rückgang der Intelligenz in modernen Wissensgesellschaften, bzw. in früheren Hochkulturen: Volkmar Weiß, Edward Dutton, Michael A. Woodley of Menie, Eckart Knaul. Hinweis auch auf David Becker, sowie auf Facebook-Gruppe "DNA-Genealogie auf Deutsch". Francis Galton. 

(25:45) - - - Man kann mit Videos leicht provozieren. 

(32:29) - - - Kernthese: Hat der höhere IQ auf der Nordhalbkugel etwas damit zu tun, daß sowohl Ostasiaten wie Indogermanen wie aschkenasische Juden bei ihrer Ethnogenese im Neolithikum bzw. im Mittelalter hervorgegangen sind aus einer Fünfzig-zu-Fünfzig-Vermischung von zuvor über viele Jahrtausende hinweg getrennt evoluierten Herkunftsgruppen (3)? Ich erwähne hier die Tschuktschen, meine aber die Ultschen, ein kleines Fischervolk im Norden von Korea am Amur-Fluß (4).

3. Teil


(40:01) - - - Neuer Kommentar zu meinem Video über die Satanisten. Wie ist eigentlich die Verantwortlichkeit von Politikern für ihr Tun zu bewerten, die von Geburt in Folterkellern dressiert worden sind? Das Thema ritueller Mißbrauch ist übrigens auch schon in der Bundesregierung angekommen. 

(47:11) - - - Im abschließenden Teil Hinweise auf die Inhalte einiger neuer Artikel auf meinem Internetblog "Studium generale" ( studgendeutsch.blogspot.com ). 

 (54:23) - - - Zur Herkunftsgruppe der "Ancient North Eurasien" (5), die 23.000 v. Ztr. in Sibirien lebte und von denen Herkunftsanteile sowohl bei den amerikanischen Ureinwohnern, bei asiatischen Völkern und uns Europäern (über die osteuropäischen Jäger und Sammler) fortexistieren. Für die eiszeitlichen Völkergruppen ist das Bild noch nicht so übersichtlich und widerspruchslos wie für das Neolithikum und später.

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*) "At Our Wits' End" wäre auf Deutsch ungefähr zu übersetzen mit "Am Ende sind wir mit unserem Latein".  

Anhang


Im Chat war während des Livestreams nach den Slawen gefragt worden. Hier ein Beitrag zu ihnen, den ich im Oktober 2019 auf Facebook veröffentlicht habe:  In einem Artikel in der "Welt" von 2017 (6) wird der Inhalt eines damals neu erschienenen Buches über die Entstehung der Slawen referiert. Kompakt und klar: Die Suche nach der sogenannten "Urheimat" der Slawen ist - so wird ausgeführt - erfolglos geblieben - etwas, was ich schon immer erwartet hatte. Und so ziemlich dieselbe Sichtweise, die sich jetzt in der Forschung durchsetzt und die hier hervorragend zusammen gefaßt wird, konnte man immer schon haben, insbesondere seit man das 1996 erschienene Buch "Germanen - Slawen" von Professor Helmut Schröcke (1922-2018) (7) lesen hat können. Slawen sind also vermutlich einfach Nachkommen von Menschen, die östlich der Elbe schon seit der Bronzezeit gelebt haben, und deren Vorfahren neue Völker zu- und abwandern gesehen haben, während sie selbst - als Restteile von Völkern oder deren Unterschichten - in mitunter dünn besiedelten Räumen zurück geblieben sind.

Viel deutet darauf hin, daß Osteuropa die Quelle des europäischen Sklavenhandels (von Wikingern, Juden und anderen) mit dem arabischen Raum darstellte, und daß der Volksname "Slawe" in Zusammenhang mit dem Namen "Sklave" entstanden ist oder doch von den Zeitgenossen davon abgeleitet wurde.  Schon das ostgermanische Königtum der Antike beruhte - nach Tacitus - auf Sklavenbesitz, der in Westgermanien nicht so ausgeprägt vorhanden war. Diese Sklaven bewohnten - vermutlich - die archäologisch als "Grubenhäuser" erfaßten Gebäude, in denen sich oft Webstühle fanden, und die sich westlich der Elbe nicht fanden (7).

Aus diesen Unterschichten gingen nach der Zu- und Abwanderung großer Völker wie der Germanen oder Hunnen jene einheimischen Völkerschaften hervor, die dann im Früh- und Hochmittelalter von den Deutschen christianisiert und germanisiert wurden.   Somit könnte gemutmaßt werden, daß sich die slawischen Sprachen herausbildeten mit und nach der Ausbreitung der Schnurkeramiker aus dem Substrat der vorhergehenden Kugelamphorenkultur. Aber eine solche Vermutung ist noch hochgradig spekulativ.
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  1. Bading, Ingo: Wie evoluiert die Intelligenz? Live übertragen am 15.02.2020, https://youtu.be/WmKpAvLsp3I
  2. Edward Dutton und Michael A. Woodley: At Our Wits' End - Why We're Becoming Less Intelligent and What It Means for the Future. 2019 
  3. Bading, Ingo: Im Jangtse-Delta - Dort entstand ein großes, begabtes Volk, 23.9.2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/09/im-jangtse-delta-dort-entstand-ein.html
  4. https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/02/8000-jahre-lange-genetische-kontinuitat.html
  5. https://en.wikipedia.org/wiki/Ancient_North_Eurasian 
  6. Seewald, Berthold: Urheimat Slawen, 12.11.2017, https://www.welt.de/geschichte/article170502875/Die-schwierige-Suche-nach-der-Urheimat-der-Slawen.html
  7. Schröcke, Helmut: Germanen - Slawen. Vor- und Frühgeschichte des ostgermanischen Raumes. 1996