Sonntag, 23. Februar 2020

Intelligenzevolution bei den Papierwespen in den letzten 8000 Jahren

"23andme" ist bei den Papierwespen angekommen

Kurzgefaßt: Eine eusoziale nordamerikanische Papierwespen-Art besitzt die seltene Fähigkeit zur individuellen Gesichtererkennung. Diese wurde notwendig zur Vermeidung von sich ständig wiederholenden Rangkämpfen unter ihren streitbaren Königinnen. Diese mußten aber zusammen bleiben, da größere Kolonien mehr Überlebenschancen haben. Die entscheidenden Fragen lauten jetzt: Warum geschah das nur bei dieser Art und vor allem: warum erst in den letzten 8000 Jahren?

Individuelle Gesichter von Artgenossen unterscheiden, das kann die eusozial lebende mittel- und nordamerikanische Papierwespen-Art Polistes fuscatus (Wiki) (1). Sie lebt - wie andere Papierwespen (Abb. 1) - in Schwärmen von bis zu 200 Artgenossen mit mehrere Königinnen und sterilen Arbeiterinnen. Seit 2011 ist dieses Forschungsergebnis bekannt (Abb. 2). Selbst nah verwandte Arten beherrschen diese Gesichtererkennung nicht. Diese Fähigkeit beherrschen - nach derzeitigem Kenntnisstand - überhaupt nur eine Handvoll Arten im Insektenreich.

Abb. 1: Typisches Nest einer Papierwespe - Hier Polistes exclamans. Letztere hat ein ähnliches Verbreitungsgebiet in Mittel- und Nordamerika inne wie ihre Schwesterart Polistes fuscatus, von der sonst in diesem Artikel die Rede ist; Fotograf: Davefoc (Wiki)

Dieses Forschungsergebnis ist 2011 von dem jungen, aufstrebenden Wissenschaftler Michael J. Sheehan (Cornell, Sheehan-Lab, Google Scholar), sowie Mitarbeitern im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlicht worden. Mit anderen Forscherleistungen wird es nicht wenig dazu beigetragen haben, daß Sheehan heute eine Assistenz-Professur an einer der fünfzehn besten Universitäten der Welt innehat, nämlich an der Cornell-Universität (Wiki) im Nordosten der USA im US-Bundesstaat New York.

Über dieses Forschungsergebnis war 2011 breit im Wissenschaftsteil fast aller großen deutschen Tageszeitungen und Wochenmagazine berichtet worden (2, 3). (Da das leicht gegegoogelt werden kann, wird an dieser Stelle zum Einlesen nur beispielhaft auf die beiden eben angeführten Artikel verwiesen.) 


Diese Intelligenzevolution begann 6.000 v. Ztr.


Anfang 2020 wird von Seiten desselben Forschers bekannt (4):

Die Evolution dieser Fähigkeit zur individuellen Gesichtererkennung begann bei dieser Tiererst erst um 6.000 v. Ztr.. Um 2000 v. Ztr. bis etwa 0 nahm sie Fahrt auf. Und vor 500 Jahren ist sie bei dem heutigen Stand angelangt (Abb. 3).

Sagen wir: Ein - unerwartetes - Forschungsergebnis (4). Es ist so unerwartet, daß sich Wissenschaftsmagazine wie "Science" oder "Nature" offenbar nicht dazu durchringen konnten, es zu veröffentlichen. Deshalb kann die deutsche Wissenschaftspresse auch gut Gelegenheit nehmen, es gar nicht erst zu behandeln Immerhin ist es im angesehenen Wissenschaftsmagazin PNAS veröffentlicht worden. Und es wird gelegentlich in der englischsprachigen Wissenschaftspresse auf dieses hingewiesen (5). Aber wie verrückt: Wenn dieses Ergebnis Bestand hat, dann sind diese Papierwespen die erste Tierart, für die ein solcher evolutiver Vorgang genetisch und zeitlich - und auch regional/lokal/geographisch/artspezifisch - so eng eingegrenzt werden kann.

Abb. 2: Die Gesichter verschiedener nordamerikanischer Papierwespen lassen sich auch für Menschen gut unterscheiden. Quelle: Michael J. Sheehan, 2011, damals Universität von Michigan

In der Arbeit wird auch auf parallele Forschungen zur Evolution vergleichsweise hoher Intelligenz bei Delphinen, Elefanten, Papageien und Menschen hingewiesen. Nirgendwo aber konnte deren Evolution höherer Intelligenz bislang so genau im Genom und zeitlich wie geographisch so eng eingeordnet werden.

Aber berücksichtigt werden kann in diesem Zusammenhang gerne (ohne daß die Autoren der Studie expliziter darauf hinweisen müssen), daß nach heutigem Kenntnisstand die meisten Daten darauf hinweisen, daß einigermaßen in demselben Zeitraum über "jüngste" und "lokale" Intelligenzevolution auch jene Intelligenz und Intelligenzunterschiede evoluiert sind, die bei den heutigen Europäern und Ostasiaten auf der Nordhalbkugel - oder auch bei den Bantuvölkern südlich der Sahara - in Auseinandersetzung mit der jeweils lokal vorliegenden gesellschaftlicher Komplexität evoluiert sind. Diese Unterschiede werden in näherer Zukunft auch über Consumer genetics-Firmen wie 23andme oder MyHeritage oder Genomelink wahrnehmbar werden. Und das dürfte Shehaan im Kopf haben als er in einer gesprächsweisen Äußerung Bezug nimmt auf "23andme" (siehe unten).

Die vorliegenden Mechanismen auf genetischer Ebene sind für die genannten Arten und den Menschen bislang jedoch keineswegs so gut aufgeklärt wie das nun vermutlich für die mittel- und nordamerikanische Papierwespe Polistes fuscatus gesagt werden kann. Während die menschliche Intelligenz und die menschlichen Intelligenzunterschiede - wie wir seit wenigen Jahren wissen - stark polygenetisch im Genom verschaltet sind, zeigt diese Studie auf (4), daß die höhere Intelligenz bei Polistes fuscatus eher oligogenetisch verschaltet ist, also in einer eher überschaubaren Zahl von Genomstellen, nicht in tausenden oder zehntausenden "Small-Effect-SNP's" wie beim Menschen. 

Also noch einmal: Diese Papierwespen-Art Polistes fuscatus wäre die erste Tierart, für die ein solcher Vorgang "jüngster Intelligenzevolution" genetisch, zeitlich und lokal so eng eingegrenzt werden kann (Abb. 3).
Abb. 3: "Schätzungen des Alters einiger Gesichtererkennungs-Loci im Genom von P. fuscatus weisen auf mehrere Schübe in der jüngsten Selektion hin" (aus: 4)

Für die Papierwespen hätte die Forschung Teile eines solchen evolutiven Mechanismus also schneller herausgekriegt als sogar für uns Menschen und auch als für Delfine, Elefanten oder Papageien. Verantwortlich sind für die Intelligenzevolution der Polistes fuscatus vor allem Veränderungen der Steuerungssequenzen im nicht-kodierenden Genom, nicht Veränderungen im kodierenden Genom (4)*).
 
Pro Schwarm gibt es bei diesen Papierwespen meistens nicht nur eine, sondern mehrere Königinnen. Diese bilden eine Hierarchie untereinander, die darauf beruht, daß sie sich gegenseitig individuell erkennen können. Warum das ausgerechnet bei ihnen evoluiert ist und nur bei wenigen oder gar keinen anderen staatenbildenden Insekten und auch erst in den diesen wenigen letzten Jahrtausenden, wird sehr spannend werden zu erfahren.

Auch schließt sich eine Fülle von weiteren Fragen an dieses Ergebnis an. Zum Beispiel: "Dunbar's number" (Wiki) - gilt sie in irgendeiner Weise auch für Papierwespen, bzw. soziale Insekten? Also ist Intelligenzevolution gebunden an die Größe der sozialen Gruppe, innerhalb der sie geschieht, wie das Robin Dunbar für die Primaten aufgezeigt hat? Gilt auch für soziale Insekten die "Socail-Brain-Theorie"?  Das ist eine seit vielen Jahren offene und intensiv erforschte Frage.

Abb. 4: Subsistenz-Grundlage 1.000 v. Ztr.: gelb: Jäger-Sammler-Völker, grün: einfache bäuerliche Gesellschaften, braun: komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften (Wiki)


Die Entwicklung komplexer menschlicher Gesellschaften begann im Südamerika 8.800 v. Ztr.


Eine weitere Frage ist, ob hier womöglich Koevolution mit dem Menschen in irgendeiner Weise stattgefunden hat. Polistes fuscatus lebt natürlicherweise in Wäldern und braucht Holz als Lebensgrundlage. Papierwespen leben allerdings auch gerne in der Nähe des Menschen, beispielsweise auch gerne in der Nähe schwacher Lichtquellen. Das Verbreitungsgebiet von Polistes fruscatus reicht im Süden bis zum heutigen Staat Honduras, also bis südlich der Yucatan-Halbinsel von Mexiko. Dieser Umstand könnte einen auf den Gedanken bringen, ob womöglich irgendein Zusammenhang besteht zwischen dieser Intelligenzevolution bei den Papierwespen und ihrer Nähe zu Menschen, bzw. vielleicht auch zu: vielen Menschen.

Als früheste seßhafte und womöglich auch komplexe menschliche Gesellschaft auf dem amerikanischen Kontinent gilt nach derzeitigem Kenntnisstand eine indianische Kultur in der Moxos-Ebene (Wiki, engl) im heutigen Bolivien (Wiki):
Die Einwohner errichteten landwirtschaftliche Erdwerke: erhobene Felder, Wege, Kanäle und um 4700 bewaldete Hügel in einem Gebiet von 50.000 Quadratkilometern. Diese Erdarbeiten wurden ausgeführt zwischen 8.850 v. Ztr. bis 1450 n. Ztr.. Der Anbau beinhaltete seit 8.350 v. Ztr. Maniok, seit 8.250 v. Ztr. Kürbis, seit 4.850 v. Ztr. Mais. Viele domestizierte Pflanzen, einschließlich Maniok, Kürbis, Erdnüsse sowie einige Unterarten des Chilli und einige Bohnenarten stehen genetisch wilden Arten nahe, die es in der Moxos-Ebene gibt, was nahelegt, daß sie hier domestiziert worden sind. Die Menschen produzierten dekorierte Keramik, webten Baumwollkleidung und bestatteten an einigen Orten ihre Toten in großen Urnen.
The inhabitants constructed agricultural earthworks: raised fields, causeways, canals, and about 4700 forested mounds over a 50,000 square kilometer area. Construction lasted from about 8850 BCE to about 1450 CE. Cultivation included manioc from about 8350 BCE, squash from about 8250 BCE, and maize from about 4,850 BCE. Several domestic crops, including manioc, squash, peanut, some varieties of chili and some beans, are genetically very close to wild species living in the Llanos de Moxos, suggesting that they were domesticated there. The people made decorated pottery, wove cotton cloth, and in some places buried their dead in large urns.
Als sehr frühe komplexe Gesellschaft gilt auch die Norte-Chico-Kultur (Wiki, engl) in Nordperu. Dort begann die seßhafte Lebensweise um 3.500 v. Ztr.. Ab 3.200 v. Ztr. wurden dort Stufenpyramiden (!) in städtischen Siedlungen errichtet - ähnlich wie im zeitgleichen Mesopotamien. Zugleich aber handelt es sich um eine Kultur, die noch keine Keramik kannte (städtische   Gesellschaften ohne Keramik hat es im Vorderen Orient bis 7.000 v. Ztr. gegeben). Es ist schon eine aufregende Frage, wie eine so prägnante Bauweise wie "Stufenpyramide" gleichzeitig in zwei so weit auseinanderliegenden geographischen Regionen auf der Erde auftritt. Aber das sei hier nur am Rande erwähnt.

Für Mittelamerika gilt vielmehr als früheste seßhafte und zugleich städtische Kultur die Kultur der Olmeken (Wiki, engl). Diese beginnt aber erst um 1.500 v. Ztr.. 

Vermutung: Da größere Kolonien besser überleben, wurde Vermeidung von internen Rangkämpfen durch Gesichtererkennung zu einem Selektionsfaktor


Soweit seien unsere eigenen Überlegungen eingeschoben. Michael Sheehan wird mit den Worten zitiert (5):
"Das wirklich überraschende Ergebnis ist hier, daß der intensivste Selektionsdruck in der jüngsten Geschichte dieser Wespen nichts zu tun hat mit Klima, Nahrungssuche oder mit Parasitenbefall, sondern damit, besser miteinander zurecht zu kommen. Das ist ganz schön grundlegend."
"The really surprising conclusion here is that the most intense selection pressures in the recent history of these wasps has not been dealing with climate, catching food or parasites but getting better at dealing with each other. That's pretty profound."
Damit stellt er seine Studie also klar in die Tradition des Denkens der Social-Brain-Theorie. Sheehan sagt außerdem die schönen Worte (5):
"Das ist so eine Art von 23andMe - aber mit Papierwespen."
"It's kind of like 23andMe, but with paper wasps."
Als selektiven Druck für  diese Intelligenzevolution vermutet Sheehan, daß es bei Papierwespen mehrere Königinnen gibt, die miteinander Rangkämpfe führen (5): 
In Gemeinschaften mit einer einzigen Königin wie in den Honigbienen-Kolonien, sind die Rollen klar. Jedes Individuum kennt seinen Platz. Aber Papierwespen können fünf oder mehr Königinnen in einem Nest haben und Gesichtererkennung kann diesen Königinnen helfen, miteinander zurecht zu kommen. (...) Die Königinnen führen Rangkämpfe miteinander. Indem sie ihre gegenseitigen Gesichter erkennen, können sich die Königinnen daran erinnern, wen sie schon besiegt haben oder durch wen sie besiegt worden sind. Und das vermindert die Aggression im Nest.
In communal groups with a single queen, like honeybee colonies, the roles are clear, and each individual knows its place. But paper wasps may have five or more queens in one nest and facial recognition helps these queens negotiate with one another. (...) In their battle for dominance, queens fight with one another. By recognizing each other’s faces, the queens can keep track of who they’ve already beaten, or been beaten by, which lessens aggression in the nest.
Der Selektionsdruck ist also derjenige, daß größere Schwärme mit bis zu 200 Tieren leichter überleben und sich verteidigen können als kleinere Schwärme. Die individuelle Gesichtererkennung dient dazu, Rangkämpfe in größeren Schwärmen zu reduzieren, damit jede ihren Platz in der Gemeinschaft kennt und diesen konstant einnimmt ohne weitere aufwändige Kämpfe - zum Nutzen aller.

Die streitbaren Papierwespen, wozu ihre Streiterei alles nützlich ist. Hier sind bedeutende weitere Schritte in ein Forschungsfeld hinein getan, das sehr spannend ist und weiterhin spannend bleibt, nämlich in die Evolution von Intelligenz, die konvergent und parallel zur Evolution menschlicher Intelligenz in vielen verschiedenen Tierarten stattfand und stattfindet.

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*) Original (3): "Recent, strong, hard selective sweeps in P. fuscatus contain loci annotated with functions in long-term memory formation, mushroom body development, and visual processing, traits which have recently evolved in association with individual recognition. The homologous pathways are not under selection in closely related wasps that lack individual recognition. Indeed, the prevalence of candidate cognition loci within the strongest selective sweeps suggests that the evolution of cognitive abilities has been among the strongest selection pressures in P. fuscatus’ recent evolutionary history. Detailed analyses of selective sweeps containing candidate cognition loci reveal multiple cases of hard selective sweeps within the last few thousand years on de novo mutations, mainly in noncoding regions. These data provide unprecedented insight into some of the processes by which cognition evolves." 

/ ergänzt um: (6, 7)
11.4.2020 /
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  1. Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in Paper Wasps  By Michael J. Sheehan, Elizabeth A. Tibbetts  Science, 02 Dec 2011 : 1272-1275 
  2. Heuer, Jens Christian (Apotheker): https://ethologiepsychologie.wordpress.com/2012/01/18/gesichtserkennung-bei-papierwespen/
  3. https://www.scinexx.de/news/biowissen/wespen-unterscheiden-gesichter/
  4. Sara E. Miller, Andrew W. Legan, Michael T. Henshaw, Katherine L. Ostevik, Kieran Samuk, Floria M. K. Uy, Michael J. Sheehan: Evolutionary dynamics of recent selection on cognitive abilities. In: Proceedings of the National Academy of Sciences Feb 2020, 117 (6) 3045-3052; DOI: 10.1073/pnas.1918592117, https://www.pnas.org/content/117/6/3045
  5. Krisy Gashler: Paper wasps rapidly evolved ability to identify faces. January 27, 2020, https://news.cornell.edu/stories/2020/01/paper-wasps-rapidly-evolved-ability-identify-faces, gekürzt auch: https://phys.org/news/2020-01-profound-evolution-wasps.html
  6. Umberto Lombardo, José Iriarte, Lautaro Hilbert, Javier Ruiz-Pérez, José M. Capriles, Heinz Veit: Early Holocene crop cultivation and landscape modification in Amazonia. In: Nature. 2020, doi:10.1038/s41586-020-2162-7 

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