Dienstag, 9. Juni 2009

Humanevolution: WENIG Selektion?

Berichtet "Bild der Wissenschaft" richtig?

Soeben ist im Online-Dienst von "Bild der Wissenschaft" ein journalistischer Artikel von Ulrich Dewald (BdW) erschienen zu neuen humangenetischen Forschungen (1, PLoSGenetics, frei verfügbar). Diese Forschungen werden von Dewald sehr mißverständlich folgendermaßen zusammengefaßt:
Selektionsdruck spielte bei der Entwicklung des modernen Menschen nur eine geringe Rolle. Die genetischen Unterschiede bei modernen Menschen sind kein alleiniges Produkt des evolutionären Selektionsdrucks, bei dem der Stärkere oder Gesündere gegen den Schwächeren durchsetzt. Viel stärker haben die in der Menschheitsgeschichte häufigen Wanderungsbewegungen die Variationen im genetischen Code von Menschen unterschiedlicher Herkunft geprägt. (...)

Einen viel größeren Effekt auf die Ausbreitung neuer Genvarianten als die natürliche Selektion hatten die Wanderungsbewegungen, die es in der Menschheitsgeschichte seit vielen Jahrzehntausenden immer wieder gegeben hat, schließen die Forscher aus ihren Analysen. Die Selektion an sich war nicht stark genug, um eine feine Anpassung der menschlichen Populationen an die jeweiligen lokalen Umweltbedingungen zu bewirken, erklärt Jonathan Pritchard, einer der beteiligen Forscher. Die Ausbreitung neuer genetischer Merkmale folgte vielmehr den Strömen von Aus- und Einwanderern, die neue Siedlungsgebiete erschlossen und sich mit anderen Menschengruppen und Volksstämmen vermischten.
Ist Gruppenselektion keine Selektion?

Hier scheint doch insgesamt ziemlich klar zu kurzatmig gedacht zu werden. Haben denn Wanderungsbewegungen, Überlagerungen, Schichten- und Klassenbildungen nichts mit unterschiedlicher Fitneß und damit mit Selektion zu tun? Diese Frage wurde schon verschiedentlich auf "Studium generale" in früheren Beiträgen behandelt (zuletzt hier) und muß doch mehr oder weniger klar verneint werden.

Vielmehr handelt es sich doch bei ihnen fast immer um Vorgänge, die nur allzu deutlich in den Zusammenhang mit dem Konzept der Gruppenselektion gestellt werden können. (Das Konzept der Gruppenselektion wurde gerade erst wieder bei "Zoon politikon" aufgrund eines neuen "Science"-Artikels von Samuel Bowles thematisiert --> hier).

Schauen wir uns also den Artikel, über den Dewald Bericht erstattet, einmal genauer an. Bekannte Namen unter den heute lebenden Humangenetikern waren es, die sich zusammentaten (1), um eine sehr grundlegende Frage zu beantworten. Namen wie Luigi Luca Cavalli-Sforza (siehe Bild links), Marcus W. Feldman und Jonathan K. Pritchard fragten sich:
"How effective has selection been at driving allele frequency differentiation between continental groups?"
In Beantwortung dieser Frage schreiben die Forscher:
The first pattern, the “non-African sweep”, is exemplified by a sweep near the KIT ligand gene (KITLG). It has been reported previously that HapMap Europeans and East Asians have undergone a selective sweep in the KITLG region on a variant that leads to lighter skin pigmentation. Haplotype patterns in the HGDP indicate that a single haplotype has swept almost to fixation in nearly all non-African populations. More generally, at SNPs that strongly differentiate the HGDP Yoruba from both the Han and French, we observe that typically one allele is rare or absent in all the HGDP Africans, and at uniformly high frequency across Eurasia, the Americas, and usually Oceania. This pattern could be consistent either with sweeps across all the HGDP African populations, or with non-African sweeps that pre-date the colonization of the Americas some 15 KYA. As outlined below, it seems that in fact most of these signals are, like KITLG, due to non-African sweeps.

The second pattern, the “west Eurasian sweep” is illustrated by a nonsynonymous SNP in the SLC24A5 gene. The derived allele at this SNP is also strongly associated with lighter skin color and has clear signals of selection in the HapMap Europeans and in the Middle East and south Asia. The derived allele is also at high frequency in US-sampled Indian populations, supporting the idea that the sampled Indian populations may be similar to the western eurasian HGDP populations at selected as well as neutral SNPs. The derived allele is near fixation in most of the HGDP Eurasian populations west of the Himalayas, and at low frequency elsewhere in the world. More generally, alleles that strongly differentiate the French from both the Han and Yoruba are typically present at high frequency across all of Europe, the Middle East and South Asia (an area defined here as “west Eurasia”), and at low frequency elsewhere. This pattern of sharing across the west Eurasian populations is highly consistent with observations from random markers showing that the populations in west Eurasia form a single cluster in some analyses of worldwide population structure. Allele frequencies at high- FST SNPs in two central Asian populations, the Uygur and Hazara, tend to be intermediate between west Eurasia and east Asia, consistent with observations that these populations have recent mixed ancestry between west Eurasia and east Asia.

Finally, the “east Asian sweep” pattern is defined by SNPs that differentiate the Han from French and Yoruba. One example is provided by a nonsynonymous SNP in the MC1R gene, for which the derived allele is at high frequency in the east Asian and American populations, and virtually absent elsewhere. MC1R plays an important role in skin and hair coloration, although the functional impact of this variant in MC1R–if any–is unknown. A nonsynonymous SNP in the EDAR gene that affects hair morphology shows a very similar geographic pattern. It is interesting that although west Eurasians and east Asians have both evolved towards lighter skin pigmentation, they have done so via largely independent sets of genes. This suggests that favored mutations have not spread freely between the two regions.

It should be noted that rare examples of strong frequency clines within geographic regions do exist, in contrast to the sharp steps seen in Figure 3. For example, SNPs in the lactase and Toll-like receptor 6 gene regions are among the most differentiated SNPs between the French and Palestinian populations and are strongly clinal across Europe. However, these clinal alleles do not appear in Figure 3 because the values for these SNPs between the Yoruba, French and Han are less extreme than for the SNPs in Figure 3. We suggest that these alleles may represent relatively recent selection events that have not yet generated extremely large frequency differences between continental groups or had time to disperse more evenly across a broad geographic region.
Abrupte und fließende Übergänge in der geographischen Verteilung von Genen

Hier werden also einerseits Gensequenzen charakterisiert, die jeweils Haut- und Haarfarbe hervorrufen und deren geographische Verteilung zwischen den Kontinenten sich vergleichsweise abrupt ändert - abgesehen von kleineren Mischbevölkerungen wie den Uiguren und Hazara in Zentralasien. Von diesen kontinentalen Gen-Unterschieden (die also "Rassen" unterscheiden) kann angenommen werden, daß sie schon sehr früh evoluierten und sehr alt sind. Überraschenderweise sind dabei Gene für helle Haut in Ostasien und Europa unterschiedlich evoluiert.

Andererseits werden Gensequenzen charakterisiert, deren geographische Verteilung sich graduell ("clinal") ändert, also fließende Übergänge aufzeigt. Als Beispiel wird das viel zitierte Erwachsenen-Milchverdauungs-Gen genannt. Die graduell unterschiedliche Häufigkeitsverteilung von Nordeuropa nach Süden weist nach Ansicht der Forscher auf ein jüngeres Entstehungsdatum hin. Und dann machen die Forscher noch auf einen anderen wichtigen Umstand aufmerksam:
Although there should be sets of populations that share particular selective pressures despite not being closely related, the data do not provide obvious examples of this. For example, recall that within Eurasia, the geographic distribution of the skin pigmentation locus SLC24A5 agrees with population structure estimated from neutral markers, rather than with latitude or climate.
Nicht das Klima, sondern Prozesse der Gruppenselektion formten den Menschen

Das steht in mehr oder weniger auffälligem Unterschied zu bisherigen Annahmen über die Humanevolution: Die genetischen Populationsunterschiede sind also weniger mit einer sehr direkten Anpassungen an das Klima vor Ort in Zusammenhang zu bringen, eine Anpassung, die sich dann auch graduell mit dem Klima ändern müßte (und die das einzige sind, was Dewald, s.o. offenbar bereit ist, Produkt von Selektion zu nennen), sondern sie gehen parallel mit jenen genetischen Verwandtschaftsgraden, die auch schon in selektionsneutralen (also nicht kodierenden) Genomabschnitten festgestellt worden waren.

Und das weist wiederum darauf hin, daß nicht die Anpassung an das Klima der wichtigste formende Faktor in den humangenetischen Populationsunterschieden war, sondern die Bevölkerungsgeschichte an sich, die historischen Schicksale, die Wanderungen, Überlagerungen, das heißt also Prozesse der Gruppenselektion und der Gen-Kultur-Koevolution. (Achtung: Die Interpretation als "Gruppenselektion" ist eine Eigeninterpretation des Autors dieser Zeilen, sie ist nicht im Forschungsartikel selbst enthalten.) - Etwas später schreiben die Forscher:
This explanation does not imply an absence of positive selection in the Yoruba. (...) African populations have presumably also experienced a variety of new selection pressures during the same time-period, due to the appearance of new pathogens, changes in diet, etc. While these pressures may have been less numerous or sustained than in non-Africans, there may also be reasons why we might have lower power to detect them.
Es geht den Forschern also fortlaufend um Selektion und sie sagen keineswegs, daß die Selektion keine Rolle gespielt hätte. Und man findet bislang, so die Forscher, auf der Nordhalbkugel noch wesentlich deutlichere Anzeichen von genetischer Selektion als in afrikanischen Bevölkerungen. Das könnte auch durchaus ein Hinweis darauf sein, daß grundlegend humanevolutionär Neues (etwa höherer IQ) erst nach der Auswanderung aus Afrika evoluierte und erst mit diesem zusammenhängend dann eben auch Hautfarbe und ähnliche Dinge.

- Das Credo von "Studium generale" in diesen Zusammenhängen: Menschlichkeit bewährt sich daran, wie man mit Unterschieden umgeht. Sie plakativ wegzuleugnen, kann noch nicht der höchste, erreichbare Grad von Menschlichkeit sein. Es stellt möglicherweise sogar einen recht niedrigen Grad von Menschlichkeit dar, wenn man Unterschiede erst wegleugnen muß, um dann damit human umgehen zu können.

Literatur:

ResearchBlogging.org1. Coop, G., Pickrell, J., Novembre, J., Kudaravalli, S., Li, J., Absher, D., Myers, R., Cavalli-Sforza, L., Feldman, M., & Pritchard, J. (2009). The Role of Geography in Human Adaptation PLoS Genetics, 5 (6) DOI: 10.1371/journal.pgen.1000500

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