Sonntag, 20. Januar 2008

Die letzten Naturvölker auf der Erde - ihr Schutz, ihre Erforschung ist ein großes Abenteuer

Ein unglaubliches Buch! Über 500 Seiten hat es. Und man denkt etwa nach den ersten hundert Seiten, nun hätte man aber bestimmt schon die spektakulärsten Inhalte dieses Lebensberichtes gelesen, noch Spannenderes kann ja nun wohl nicht mehr kommen. Nun muß es ja doch - irgendwann - einmal etwas "gewöhnlicher" werden in diesem Buch. Aber weit gefehlt. Ein Buch voller Abenteuer, voller Überraschungen, voller unterschiedlicher Erlebnisse und menschlicher Begegnungen. Die Spannung erreicht noch Höhepunkte, wenn man sich dem Ende dieses Bandes nähert.

Autor Roland Garve

Die Rede ist von "Kirahe - Der weiße Fremde", dem im letzten Jahr erschienenen Lebensbericht des 52-jährigen Zahnarztes, Völkerkundlers und Filmemachers Roland Garve, über das an früherer Stelle (9.12.07) schon einmal berichtet worden war, nachdem die ersten hundert Seiten gründlich gelesen waren. Aber wie wenig hatte man damit erst von diesem Buch gelesen. Nun aber bin ich mit dem gründlichen Lesen ganz durch. Und immer noch ganz gefangen, gefesselt von diesem "Abenteuer"-Bericht.

Der Selbstmörder-Stamm der Suruaha

Zum Schluß wird es noch einmal kraß dramatisch. Da reist Roland Garve zu dem südamerikanischen "Selbstmörder-Stamm" der Suruaha (auch Zuruaha) - einer ethnischen Ausnahme-Erscheinung, von der man absolut nicht glauben sollte, daß es etwas derartiges gibt: Ein Stamm, in dem fast alle Stammesmitglieder zumeist schon in frühen Jahren Selbstmord begehen. Da genug Kinder geboren werden, ist er mindestens in den letzten hundert Jahren nicht vom Aussterben bedroht gewesen und so auch nicht in der Gegenwart. Sie nehmen eine Selbstmord-Droge - oft aus ganz nichtigen Anlässen oder aus einer flüchtigen, alltäglichen Enttäuschung heraus. Und sie überlassen es dem Zufall, der Dosis, den anderen, helfenden oder nicht helfenden Stammesangehörigen, ob sie die jeweilige Dosis überleben werden, oder ob sie "hinüber" gehen werden zu den Verwandten, zu den schon Voraus-Gegangenen. Denn sie sind fest davon überzeugt, daß alle Selbstmörder in einem "Jenseits" weiterleben werden. Alle jene aber, die sich nicht selbst umbringen, werden auch nicht im Jenseits weiterleben.

Typische Gesichter des Stammes der Suruaha
(Titelfoto eines anderen Buches über die Suruaha von Gernot Schley)

Das, was man - mehr aus Spaß - immer zu Christen und anderen Menschen gesagt hat, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben - nämlich, daß ihnen doch der Tod das erfreulichste Ereignis ihres Lebens sein müßte, da sie doch dann in das Paradies kommen würden, das leben diese Amazonas-Indianer tatsächlich mit einer derartigen schlichten und einfachen Konsequenz, die aber zugleich vollkommen erschreckend und erschütternd ist. Die bringen sich tatsächlich selber um. Und derjenige, der es nicht schafft, die alten Leute also, sind sozial massiv geächtet in diesem Stamm, werden gehänselt und ausgelacht bei jeder sich bietenden Gelegenheit - und zwar oft am meisten von den eigenen Kindern! - Diesen Bericht auf den Seiten 496 bis 518 muß man erst einmal verdauen. ... Ich habe das noch nicht. Ich glaube, dazu braucht man eine ganze Weile. Und dieser Bericht ist wirklich geeignet, manches am eigenen Weltbild zu verändern. Man möchte glauben, daß er ein starkes Argument sein könnte in religiösen oder philosophischen Grundsatz- und Weltbild-Debatten.

Man möchte fast vermuten, daß unter allen Menschen, die an ein Weiterleben nach dem Tod wirklich glauben, die Suruaha die ehrlichsten, wahrhaftigsten und konsequentesten sind. Aber von wieviel schriller Wildheit ist eine solche "Glaubenspraxis" im Alltag begleitet! (Nachtrag Juli 2009: Der begeisternde, halbstündige Film von Roland Garve über seine Reise zu den Suruaha ist für nur 99 Cent hier zu sehen.)

- - - Dabei hatte man zuvor schon zu "knabbern" genug gehabt an dem Bericht, der von der Erst-Kontaktierung eines (nach außen hin) sehr gewalttätigen Indianer-Stammes handelte, der noch niemals zuvor friedliche Kontakte zur nicht-indianischen Außenwelt hatte, nämlich der Korubo (Seiten 428 bis 480). Und davor der Bericht über die Besuche bei den Zoe, dem Lieblingsstamm Roland Garves. Und dann so viele anderen Berichte mehr. Etwa über einige der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte und Gegenwart der Erforschung und des Schutzes der Indianer-Stämmer Brasiliens, unter denen sich viele Deutsche befinden, von denen man aber noch nie etwas zuvor gehört hatte. Etwa der jüngst verstorbene Deutsche Jesco von Puttkammer, ein Neffe des letzten Gouverneurs der deutschen ostafrikanischen Kolonie Kamerun, selbst nun Zeit seines Lebens der bedeutendste Fotograph der Indianer-Stämme Südamerikas. Aber noch so viele andere Dinge mehr.

Ein "Selfmade"-Mann auf dem Gebiet der Völkerkunde

Und dann über die Arbeit der brasilianischen Indianer- und Regenwald-Schutzbehörde, mit der Roland Garve und seine sächsischen Völkerkunde-Freunde in enge Zusammenarbeit kamen. Und dann über die in Brasilien offenbar so wertvolle Arbeit der deutschen GTZ, der deutschen "Gesellschaft für technische Zusammenarbeit", die Wertvolles leistet bei der Erhaltung der südamerikanischen Regenwälder. Und über so vieles andere mehr.

Ich wiederhole: Dies ist ein ganz unglaubliches Buch. Ein ganz und gar unglaubliches Buch. Von diesem Roland Garve muß man sich auch alle anderen Bücher besorgen, die von ihm bisher schon erschienen sind, und die zumindest in Südamerika weit verbreitet sind, auch unter den besuchten Indianer-Stämmen selbst, wie Garve immer wieder berichtet. Dort gelten sie nämlich als eine Art "Totenbücher", die sich die Stammesangehörigen immer wieder gern ansehen, weil sie dort inzwischen schon gestorbene Stammesangehörige abgebildet finden. (1, 2, 3, 4) Und auch all die Filme, die schon in deutschen Fernseh-Sendern von Garve ausgestrahlt worden sind, von deren Produktion er hier berichtet, würde man gerne sehen. Von einem Zahnarzt und "Selfmade"-Mann auf dem Gebiet der Völkerkunde und des Filmemachens. Ganz und gar unerwartet. - Noch einmal: Ein ganz und gar unglaubliches Buch.

Roland Garve

Man darf wohl sagen, daß hier ein Erforscher ursprünglicher Völker wie der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in Roland Garve (und manchen seiner Kollegen) würdige Nachfolger gefunden hat. Es ist auch ein wenig erhebend zu sehen, daß es doch auch viele Deutsche in der Welt waren und sind, die sich für die Erforschung und die Erhaltung der Ureinwohner-Völker weltweit eingesetzt haben und einsetzen, und daß auch heute noch allein eine "heute Journal-Sendung" und der internationale Druck, der durch sie auf die brasilianische Regierung ausgeübt werden kann, einen Indianer-Stamm in Brasilien (die Zoe) vor der kulturellen Vernichtung bewahren kann!

Dies ist ein Buch, das einem viel Mut und auch Vertrauen in die Zukunft geben kann - bei all dem Deprimierenden, das es auch zu schildern weiß. (Etwa die Slums, in denen "christianisierte", "zivilisierte" Indianer-Stämme meistens enden ...)

Zerstörung indigener Kulturen

Ein Buch, auch z.B. deshalb so ungewöhnlich, weil es in scharfen Worten und deutlichen Kennzeichnungen die Arbeit christlicher, zumeist US-amerikanischer, sehr aggressiver Missions-Sekten verurteilt, die die Kultur unglaublich vieler Ureinwohner-Völker auf der Welt schon ganz gezielt und bewußt und mit unglaublicher Hartnäckigkeit, Energie und starkem finanziellem Hintergrund zerstört haben. Das Christentum scheint weltweit und Jahrhunderte lang immer mit den gleichen Methoden gearbeitet zu haben, von denen Garve nun auch in Brasilien erfährt (S. 363):
"Sie haben ein ausgeklügeltes System, sich den Naturvölkern zu nähern, sie zu manipulieren und dann umzudrehen. (...) Dabei würden die Missionare geschult, in die Seelenwelt der Eingeborenen einzudringen, um deren 'Knackpunkte' zu finden: Was ist identisch mit dem Christentum? Wo kann man ansetzen? Was entspricht in ihrer Kultur dem Teufel und was könnte mit Jesus identifiziert werden? Anschließend werde zunächst das christliche Universum quasi in die einheimische Kultur 'übersetzt', um die 'heidnische' Identität zu überlagern und auszulöschen. Mit dem ständigen 'Wort Gottes' im Nacken sollten sodann indigene Wertvorstellungen und religiöse Denkinhalte systematisch verändert werden. (...) Diese Missionare machten vielerorts stolze Waldbewohner zu gebrochenen Almosenempfängern."
- Aber allein dieses Thema wäre mehrere neue Blog-Einträge wert - wie so viele andere in diesem Buch angesprochene Themen. Roland Garve eröffnet dem Leser einen völlig neuen Blick in die Welt des Schutzes der menschlichen kulturellen Vielfalt weltweit.

Man wird ihm dafür ein tief empfundenes Wort des Dankes sagen müssen. Und man kann nur hoffen, daß er noch viel auf dieser Linie künftig wird berichten, erforschen und dokumentieren können. Wenn man weiß, daß sich solche Menschen wie Roland Garve des Schutzes des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt der Menschheit annehmen, dann meint man, dieselben in guten Händen zu wissen.

(Der Text dieses Beitrages wurde nach der Erstveröffentlichung hier auf dem Blog noch leicht überarbeitet und verändert.)

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