Montag, 26. November 2007

Nachdenken über Altruismus (1. Teil)

Erste vortastende Erkundungen

"Studium generale" ist ein Blog, der mit manchem Recht zu "Altruismus-Blog" umbenannt werden könnte. Denn das ist - letztlich - sein Hauptthema.

Abb.: Gorillamutter mit Kind - Der Altruismus einer Tierfamilie geht oft "bis zum Letzten"
Um in freier Wildbahn einer Gorilla-Familie ein Baby lebend zu entreißen, musste in der Vergangenheit in der Regel die gesamte Familie zuvor getötet werden (Foto: National Zoo in Washington, D.C. / Wiki)
Echter Altruismus, der auf "Gegenseitigkeit" verzichtet, heißt, Gutes auch dann noch zu tun, wenn einem Anerkennung, Achtung, Ehrung nicht zuteil wird.

"Das Leben lehrt, auf Dank zu verzichten - aber es gebietet, seine Schuldigkeit zu tun."(Friedrich der Große [?])
Diese Form des Altruismus ist - im menschlichen Bereich - eher etwas Seltenes. Ein verwöhnter Mensch - und welcher Mensch ist heute nicht verwöhnt - möchte für jede Leistung, die er erbringt, eine Gegenleistung haben, er möchte auch für jedes Leid, das er erlitten hat, andere leiden sehen. "Wie du mir, so ich dir".

Das ist auch die typische mittelalterliche Lohn-Straf-Moral: Ich tue Gutes, damit ich in den Himmel komme. Ohne Himmelsverheißungen tue ich nichts Gutes. Martin Luther war der erste neuzeitliche Mensch, weil er sich gegen diese Lohn-Straf-Moral auflehnte:
Nicht durch gute Taten wird des Menschen Seligkeit erlangt,
lehrte er, sondern
allein durch Glauben.
Der Mensch handele tatkräftig aus seinem Wollen zum Guten heraus, aber er schiele nicht ständig nach einer Belohnung für jede gute Tat, sei es im Diesseits, sei es in irgendeinem gotteswahnbehafteten "Jenseits". Eine unglaublichen Aufschwung im Geistsleben und im kulturellen Leben erbrachte diese grundlegende Erkenntnis von Martin Luther. Eine völlig neue Geisteswelt und Lebenshaltung entstand dadurch in Nord- und Mitteleuropa. Moralische Kräfte wurden entfaltet. Und schließlich bäumte sich ein Friedrich Schiller auf:
Männerstolz vor Königsthronen -
Brüder, gält es Gut und Blut, -
Dem Verdienste seine Kronen
Untergang der Lügenbrut.
(Aus: "An die Freude")


Der Mensch hat eine Ahnung, dass die wertvollste Art des Altruismus, der Selbstlosigkeit, der Hilfsbereitschaft jene ist, die nicht Liebe und Anerkennung von ihren Mitmenschen erwartet, die letztere nicht als Voraussetzung ansieht dafür, dass sie gelebt wird. Aber der Mensch weiß auch, wie schwer eine solche Art von Altruismus ist.

Er lebt in diesem Zwiespalt. Zumindest der moderne Mensch. "Verkannt" zu sein. Sich dagegen aufzubäumen, gegen diese Verkennung. Sich in seinem eigentlichen Wert, in seinem eigentlichen menschlichen Wert von seinen Mitmenschen oder von der "Obrigkeit" nicht verstanden, nicht anerkannt, nicht geehrt zu fühlen. Dieses "Ringen um Anerkennung", es ist - nach Hegel und diversen "Frankfurter Schülern" - eine der treibenden Kräfte gesellschaftlichen und damit auch weltgeschichtlichen Fortschritts. (Siehe bspw. Axel Honeth.)

Dieses Ungenügen, von seinen Mitmenschen in seinen eigentlichen Anliegen nicht anerkannt zu sein. Aber ist es nicht geradezu ein allgemeines Gesetz, dass den wahrhaft großen Geistern und Künstlern erst nach ihrem Tod jene Anerkennung zuteil geworden ist, die sie sich eigentlich schon von ihren Mitmenschen erhofften, wünschten?

Wohin flüchtet sich der Mensch mit seiner Sehnsucht nach "Anerkennung"? Schiller weiß dafür keine hedonistische (sprich letztlich "egoistische") Lösung. Er sagt (in "Worte des Wahns"), es wäre "vergeblich" und "leer", darauf zu hoffen, "dass das buhlende Glück / Sich dem Edlen vereinigen werde -":
...
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,
Nicht dem Guten gehöret die Erde.
Er ist ein Fremdling, er wandert aus
Und suchet ein unvergänglich Haus.
Der Gute, der Edle sucht also "Vergeltung" nicht in "irdischen Gütern", nicht in irdischer Anerkennung, letztlich gar nicht hier auf dieser Erde. Er vereinigt sich mit dem Göttlichen, Edlen in seiner Seele und gibt sich die ihm angemessene Anerkennung selbst ... - - -

Haben nicht Schiller, Hölderlin, Beethoven, Michelangelo und wie sie alle heißen, all die vielen Menschen, die sich für eine größere Sache aufgeopfert haben, für die Kunst, für beseelteres Leben auf dieser Erde, haben sie nicht etwas für den gegenwärtigen oder künftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt getan, für den gesellschaftlichen Fortschritt?

Und noch konkreter: Kann man das Bevölkerungswachstum der westlichen Welt seit 1800 (in Deutschland grob eine Verdreifachung) auch der inklusiven Fitness solcher Kulturschöpfer zurechnen? Natürlich beruht die Entwicklung, Stabilität und der Zusammenhalt hochgradig arbeitsteiliger Gesellschaften - auch - auf jenen "Fremdlingen" in ihnen, mögen sie bekannt geworden sein oder für immer unbekannt geblieben sein, die "ausgewandert" sind, in die innere Emigration gegangen sind, die auf Anerkennung ihrer Mitwelt verzichtet haben.

Wenn ich ein religiöser (patriotisch oder humanistisch eingestellter) Mensch bin, dann kann ich gut sagen, dass es wenig geben mag, das mich enger und näher an mein eigenes Ideal der von mir herbei gesehnten (humaneren) Gesellschaft heranführt, als echter, nicht nach Anerkennung, nicht nach Gegenleistung lechzender Altruismus. Die Meißner-Formel der deutschen Jugendbewegung von 1913 war sehr idealistisch. Sie lautete:

Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortlichkeit, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.
In dieser "Meißner-Formel" eines Teils der intellektuellen und moralischen "Avangarde" Deutschlands von 1913 wurde also Wert gelegt auf innere Wahrhaftigkeit. Aus diesem Zusammenhang heraus gibt es - für Menschen, die das Bestreben haben, einigermaßen wahrhaftig sein zu wollen - manchmal einen "inneren Zwang", das für richtig Erkannte auch zu tun oder den Erkenntnissen, die man über das Leben und die Welt gewonnen hat, erforscht hat, nun auch gerecht zu werden - durch eigenes Handeln, ihnen Anerkennung zu verschaffen im eigenen Leben, aber auch im Leben der Gemeinschaft, in der man lebt.

In einer hedonistischen oder egoistischen ("Ellenbogen"-)Gesellschaft können sich echt altruistisch handelnde Menschen wie "Fremdkörper" fühlen. Man höre etwa einem Dichter wie Friedrich Hölderlin genau zu. Immer wieder fragt er: Was soll ich eigentlich hier? Wozu Mensch sein in wölfischer Zeit? Oder Friedrich Schiller etwa fragt im "Wilhelm Tell": "Wer wird hier leben wollen - ohne Freiheit?"

Soweit erste vortastende Erkundungen zum Thema Altruismus. (Sie wurden im Januar 2017 völlig umgearbeitet, da der ursprüngliche Beitrag von 2007 doch ziemlich vertrottelt klang.)

Letzte Überarbeitung: 14.1.2017

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen