Mittwoch, 17. Oktober 2007

Ist Leid an sich unmoralisch?

In diesem Beitrag soll eine Frage der Ethik angerissen werden - denn mehr als anreißen kann man eine solche grundlegende Frage in einem kurzen Beitrag nicht: Ist Leid unmoralisch? Genauer: Ist Leid an sich unmoralisch?

Und um gar nicht auch nur ansatzweise in Sphären zu kommen, die in einem kurzen Beitrag nur allzu leicht Mißverständnisse hervorrufen können, soll nur die Frage gestellt werden: Ist Leid an sich, das man sich SELBST antut, dem man sich SELBST ausliefert (das man also nicht schnell zu vergessen, zu verdrängen trachtet, sondern bewußt auslebt), unmoralisch? (Denn begreiflicherweise wird es bei Leid, das man ANDEREN antut, gleich noch einmal wieder um vieles komplizierter.)

Ich weiß nicht, welche Antworten auf eine solche Frage diverse, etwa von der Giordano Bruno-Stiftung favorisierte Autoren geben, für die grundsätzlich Hedonismus (also größtmöglicher Glücks- und Lustgewinn auf seiten des Einzelnen) im Großen und Ganzen die anzustrebende, zu lebende Moral der Zukunft ist.

Ich möchte viel lieber die Frage gleich umkehren: Ist es nicht vielmehr unmoralisch, ja, vielleicht sogar inhuman, unmenschlich, Leid-Erleben an sich, per se für unmoralisch zu erklären?

Ich glaube, die meisten Menschen machen sich heute über solche Fragen wenig Gedanken. Man muß sich aber bestimmt nicht allzu viele Gedanken machen, um bestimmte vorherrschende Moralvorstellungen zu leben. Vielmehr ist für das Leben derselben Gedankenlosigkeit oft von Vorteil. Die hier angesprochene Moral wird heute - mehr oder weniger bewußt - von einer ziemlich großen Mehrheit von Menschen oft ziemlich gedankenlos gelebt. Und - gewiß - von einer auf materialistische Konsum-Maximierung und sinnliche Befriedigung programmierten "Public Relation-Industrie" wird eine solche Moral heute sicherlich auf das Heftigste gefördert.

Schon in früher Kindheit - spätestens aber gewiß in und nach der Pubertät - mögen viele Menschen gelernt haben: Alle Menschen um mich herum streben nach größtmöglicher Glücksbefriedigung. Warum soll ich denn der einzige "Idiot" sein, der das nicht tut? Alle sind glücklich (mehr oder weniger). Und ich Idiot soll der einzige sein, der sich davon ausnimmt?

Wer genau hinschaut, der wird merken, daß hinter einer solchen Argumentations-Kette ein Denken in "Gegenseitigkeits"-Verhältnissen steht. Ich WÜRDE ja leiden, gerne auch leiden, wenn ich sehen würde, daß es andere AUCH tun. Das heißt, man handelt nach dem Grundsatz: Wie du mir, so ich dir. Wie du mir nicht, so ich dir nicht. Und nun merkwürdig: Wenn wir uns die modernen Soziobiologen anschauen, dann glauben sie, moderne Gesellschaften würden größtenteils allein zusammengehalten genau durch ein solches Gegenseitigkeits-Denken, sie nennen gar - mit Robert Trivers - "Gegenseitigkeits-Altruismus". (William D. Hamilton dagegen hat sich heftig gewehrt, Handeln, das auf bloßer Gegenseitigkeit beruht, altruistisch zu nennen.)

Wenn nun ein einzelner sich aus einem solchen allgemeinen Austauschen von gegenseitigen Glücksbefriedigungen unter Menschen in einer hedonistischen Gesellschaft heraushalten will, sich davon - sozusagen - "isolieren" will: Wie argumentiert er eigentlich vor sich selbst und anderen? Welche Rechtfertigungen für sein Handeln, für sein innerliches Ausgerichtetsein auf andere Prinzipien kann er eigentlich in die Waagschale werfen oder anstreben in die Waagschale zu werfen?

Natürlich ist man sicherlich nicht der erste, der sich über solche Fragen Gedanken macht. Nehmen wir etwa Friedrich Schiller. In seinem Gedicht "Resignation" etwa:
Auch ich war in Arkadien geboren,
Auch mir hat die Natur
An meiner Wiege Freude zugeschworen,
Auch ich war in Arkadien geboren,
Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.

...
Und der Dichter versucht sich im weiteren Verlauf des Gedichtes einzureden, daß er richtig handelt, wenn er auf Glück verzichtet - um eines höheren Gutes willen, um der "Vergeltung" nach dem Tode willen sei dies nur allzu sehr gerechtfertigt.

Ja, tatsächlich: Zwar ist das Christentum "die Religion des Leidens" per se, des Verzichtes, der Entbehrung - aber nur aufgrund einer sehr billigen "tit for tat"-Moral, die dann schon Martin Luther wieder infrage stellte. Luther sagte: Allein aus Gnade, nicht um guter Werke willen wird des Menschen Seligkeit erreicht. Das heißt: Ich kann nicht dadurch, daß ich hier auf Erden besonders viel leide, Gott sozusagen zu der "Gegenleistung" "drängen" oder zwingen, mich nach dem Tode dann dafür zu vergelten.

Dafür propagierte Luther dann (nach den Worten Max Webers) innerweltliche Askese, das Auf-sich-Nehmen von Leid und Entbehrung in der Berufsarbeit. Und viel weiter sind wir heute noch nicht gekommen. Gerne nehmen wir ein bischen berufliche Unbehaglichkeit in Kauf, da uns dafür ja zumeist sehr viel materielle Belohnung winkt. Zumindest in einer "Wohlstands-Gesellschaft".

Halten wir also fest: Die christliche Leidens-Moral ist eine sehr triviale. Ebenso natürlich die islamische. Kann man es wirklich echten Altruismus nennen, wenn der Handelnde sicher zu wissen glaubt, daß er der überirdischen Seligkeit teilhaftig wird, wenn er auf irdische Glückgüter Verzicht leistet?

Und für uns Nicht-Christen: Ist Leid nun an sich unmoralisch? Da es so sehr vom Christentum propagiert worden ist?

Diese Frage sollte ja nur angerissen sein. Nach Antworten kann vielleicht in einem künftigen Beitrag gesucht werden.

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