Donnerstag, 5. Juli 2007

Wolfszeit - Matthias Matussek letztes Jahr im "Spiegel"

Zwei Artikel, die noch im März letzten Jahres im "Spiegel" erschienen, kommen einem, wenn man sie ein Jahr später liest, so vor, als seien sie in einem früheren Jahrzehnt geschrieben. Hat sich innerhalb eines Jahres schon so viel geändert im öffentlichen Bewußtsein und auf dem Gebiet der Familienpolitik? - Schwer zu sagen. Ganz schwer. In Deutschland wird auch viel geschwiegen. "Tatenarm aber gedankenschwer"?

- Jedenfalls geht einem heute das Gejammere und bloße Feststellen des "Ist"-Zustandes in diesem "Spiegel"-Artikel von Matthias Matussek ganz schön auf die Nerven. Mit Jammern kann man doch nichts mehr erreichen. Es müssen jetzt sofort und umfassend Reformen her. Genug gejammert. Lammentieren ist doch total zwecklos. Wir wissen doch schon alle, woran wir sind.

Den Artikel "Unter Wölfen" von Matthias Matussek im "Spiegel" Nr. 10 vom 6. März 2006 (S. 70 - 84) findet man immer wieder einmal irgendwo genannt. Deshalb hab ich mal 50 Cent investiert, um ihn auch lesen zu können. In der gleichen Ausgabe findet sich ein Interview, das der Leiter der Kulturredaktion des "Spiegel", Matthias Matussek, mit dem Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher, über sein damals neues Buch "Minimum" führte. (Spiegel) Dieses Buch war auch der Auslöser für den Artikel "Unter Wölfen". Und natürlich gehört dieses Buch zur Grundausstattung eines ordentlichen "Studium generale"-Lesers. ;-)

Aber gerade deshalb auch sollte man sich einen Eindruck von diesen "Spiegel"-Inhalten verschaffen. Umwerfend sind sie nicht. Doch - wie gesagt - kennen sollte man sie. Deshalb nun Auszüge aus dem Interview, das übrigens frei geschaltet ist (Hervorhebungen durch mich, I.B.):
Spiegel: Warum hängt unser Überleben ausgerechnet von der Existenz der bürgerlichen Familie ab? (...)

Schirrmacher: Familien erweisen sich, wenn ich das so sagen darf, als "Überlebensfabriken". Sie produzieren Altruismus. Sie opfern sich auf, sie entwickeln eine Ökonomie des Teilens, und zwar sowohl materieller wie immaterieller Art. Sie teilen Nahrung, aber auch Informationen. Wer schwach, also Kind oder Greis ist, hat als Familienmitglied mehr Chancen, einer Katastrophe zu entkommen. Er hat die begründete Hoffnung: Ich werde nicht zurückgelassen. (...) Die Familie mit den in ihr aufwachsenden Kindern ist eine Urgewalt. (...) Die Frage, die uns hier gestellt wird, ist so elementar, die ist nicht durch 50 Euro Kindergeld zu lösen. (...)
Einfügung: Nein, durch 50 Euro nicht. Sondern durch die rechtliche und finanzielle Gleichstellung der Familientätigkeit mit Berufen des "öffentlichen Dienstes". Denn es gibt keinen Beruf der mehr öffentlicher Dienst ist, als Familientätigkeit.
Schirrmacher: (...) Die Forschungsergebnisse zeigen immer deutlicher: Man muss Kinder aufwachsen sehen, um Zuneigung und eine fürsorgliche Mentalität zu entwickeln. Die Jüngeren lernen von den Älteren. Man muss Bindungen erleben, um sie gut zu finden. Die Zahl derer, die das nicht mehr können, wird steigen. Die Atomisierung der Gesellschaft hat ihre Grenzen noch gar nicht erreicht. (...) Die Kultur, die wir in unseren Köpfen tragen, kommt aus einer ganz anderen Welt. Wenn ich jetzt Thomas Mann lese oder zum Beispiel Rilke, muss ich erkennen, dass das in riesige familiäre Netzwerke eingebundene Menschen waren. (...)

SPIEGEL: Wie wichtig oder hilfreich ist da die Nation als Zugehörigkeitsraum. Wie wichtig ist Patriotismus?

Schirrmacher: Es ist wichtig. Ich muss von den Dingen überzeugt sein, die ich vertrete.
Matthias Matussek selbst schreibt mir über weite Strecken im Hauptartikel rhetorisch zu flappsig über die gleiche Thematik. Das heißt: zu zynisch, noch zynischer als Schirrmacher. Aber natürlich ist an den berichteten Tatsachen wenig zu deuteln. Er schreibt über die heute von uns Deutschen aufgezogenen Kinder:
(...) In Wahrheit sind sie Bilder des Jammers, denn sie verkörpern die letzte Hoffnung einer innerlich kaputten Gesellschaft, die sich irgendwann, Ende der sechziger Jahre, dazu entschlossen hat, den Nachwuchs auf ein Minimum zu drosseln. (...) Bis zu 27 Prozent der Kinder gelten als verhaltensauffällig, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ vermeldet. (...)
Das Stammhirn sagt: Blut ist dicker als Wasser. Das Stammhirn sagt: Rette deine eigenen Leute. Das Stammhirn sagt: Die Familie ist die erfolgreichste Formation, gerade in Krisenzeiten. (...) Das ist wohl einer der erstaunlichsten Befunde in Schirrmachers Buch: „Eine Gesellschaft braucht auch ein Minimum an wachsenden Familien, damit die Selbstlosigkeit, die in Familien produziert wird, in der Gesellschaft spürbar wird.“ Und: „Vielleicht sind wir im Begriff, eine Gesellschaft zu schaffen, in der immer mehr Menschen unfähig sind, Liebe und Fürsorge für Kinder und Verwandte aufzubringen.“ Und das ist nicht die Sprache der romantischen Illusion, sondern die der Selbsterhaltung, der Biologie! Eine Schöpfungsnotwendigkeit, an der wir herumgefummelt haben. (...)

Wie lebt man Brüderlichkeit ohne Brüder? (...) Das Grundbesteck aus Geben und Nehmen, aus Verantwortung, Selbstaufopferung und Hilfe lässt sich nur in der Familie lernen. (...) Und die Familien zerfielen weiter und weiter, denn in Gesellschaften, in denen nur noch Neigungen zählen, sind langfristige Bindungen kaum noch möglich. Die Gesellschaft atomisiert sich. Familie aber braucht vor allem eines: Langfristigkeit, denn nur sie garantiert das Urvertrauen in den anderen. (...)

Knapp zehn Jahre später ist es deutlich kälter geworden im Land, und der Weg, den die „Minimum“-Gesellschaft nun vor sich liegen sieht, ist steinig. Er führt durch unbekanntes Gelände. Kein schöner Anblick, weder für Erwachsene noch für Kinder. Doch noch immer hält unsere Gesellschaft reichlich Narkoseangebote bereit. All die TV-Ersatzfamilien sorgen dafür, dass wir uns nicht allein fühlen, auch wenn wir es sind: Wir haben Geschwister, Eltern, Kinder, wenn auch nur virtuelle. (...)

Noch zu seinem Regierungsbeginn hatte der damalige Kanzler Gerhard Schröder Familienpolitik als „Gedöns“ bezeichnet. Nun, nach Ende seiner Amtszeit, kann er nicht verstehen, „warum wir in den letzten 40 Jahren dieses Problem ignoriert haben“. (...)
Typisches, phrasenhaftes Politiker-Gerede, das immer nur den gerade vorherrschenden (meist narkotisierten) Stimmungen nach dem Munde redet: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?
Es ist durchaus ermutigend, dass es eine CDUFamilienministerin gibt, die sieben Kinder hat und trotzdem Beifall von all diesen kinderlosen 35-jährigen Medientanten und Medienonkels bekommt. (...) Der einzige Haken dabei: Sie ist Superfrau. Sie hat Kinder mit Lämmern vor Bücherregalen. Wer hat das schon? Wer ist Minister und kann sieben Kinder aufziehen, Schularbeiten kontrollieren, Fieber messen? Lebt die im Kino? Sie lebt auf alle Fälle ein unerreichbares Modell vor, lächelnd. Sie ist die personifizierte Überforderung. (...)
Der Artikel endet aber dann folgendermaßen, ein Schluß, dem ich zustimmen kann - wenn allmählich auch diese These langsam zum Allgemein-Platz verkommt in unserer sich schnell verändernden Bewußtseinslage. Auch Peter Sloterdijk raunte ja ähnliches vor allerhand Monaten bei Cicero:
Viel mehr als bisher, so „Minimum“-Autor Schirrmacher in einem Ausblick auf die Zukunft, wird es auf die Frauen ankommen.
Nein, es stimmt - so - nicht. Es wird auf den Staat und die Gesellschaft ankommen, die den Frauen (und Männern) das angemessene Gehalt überweist, das ihnen für ihre Leistungen als Mütter und Väter zusteht. Darauf wird es - zunächst einmal ganz gewaltig - ankommen. Nicht auf das Flüchten in mystische, realitätsferne "Frauen-Anbetung". Weiter:
Es sind die Frauen, die die Kinder in die Welt setzen. (...) Frauen werden gebraucht als sozialer Kitt. (...) Auf der Katastrophenreise des Donner-Trecks, der auf dem eisigen Pass strandete, waren es die Frauen, die das Überleben organisierten. Und es waren die Frauen, die Erfolg damit hatten, weil sie die Gabe der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit besaßen. Sie sind es wahrscheinlich auch, die unseren Kindern Mut machen könnten, selbst wieder Kinder in die Welt zu setzen.
So das Ende. Jedoch: Ohne Männer, die ähnlich gestimmt und aufopferungsvoll sind, können auch sie es nicht. Vor allem auch nicht mit einer Politik, die derzeit offenbar immer noch von "35-jährigen kinderlosen Medientanten und -onkels" beklatscht wird.

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