Montag, 25. Juni 2007

Kann der Kampf selbst eine Religion sein?

"Früher war alles viel leichter" - Ein alter Kopfjäger erzählt ...

Lohang Hoto
Noch heute überkommt einen ein sehr sonderbares Gefühl, wenn man auf andere, sehr andere Kulturen und ihre sehr anderen Denkweisen und Gebräuche aufmerksam gemacht wird. Aber vielleicht kann man sich ja auch in einfachen, abgelegenen Kulturen über "thymotische Energien" informieren? Aglaja Stirn und Peter van Ham haben die Kopfjäger im Nordosten Indiens besucht, den Stamm der Naga (Wiki). Ihre Forschungen, die sie auch schon in Buchform und in Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben, kann man unglaublich spannend finden. Sie waren nach fünfzig Jahren die ersten Weißen, die diese Gebiete wieder bereisen durften. Und darüber berichten sie unter anderem (Paraplui, Winter 2001/2002):

... Einer dieser ehemaligen Kopfjäger ist Lohang Hoto (Bild rechts), ein 75 Jahre alter Mann mit warmherzigen, freundlichen Augen in seinem ledrigen Gesicht, der uns in einem grauen T-Shirt mit aufgedruckten Teddybären empfängt. Auf der Veranda seines Hauses bitten wir ihn, aus den Tagen der Kopfjagd zu berichten. Früher, so sagt er, sei alles viel leichter gewesen. Da habe es sie, die Nocte, gegeben, und ihre Feinde, die Wancho. Jedes Jahr zwischen Ernte und Aussaat haben die großen Baumstammtrommeln verkündet, daß nun die gefährliche Zeit beginne - die Zeit der Kopfjagd. Denn Köpfe seien wichtig gewesen: für die Fruchtbarkeit der Felder und die Fruchtbarkeit des Dorfes. Man sei ausgezogen mit den anderen Jungen aus dem Junggesellenhaus und habe seinen Mut unter Beweis gestellt, indem man der Forderung nach Steigerung der Fruchtbarkeit nachkam und die Wancho überfiel. Zusammen habe man die Feinde geköpft, sei nach Hause geeilt, um dem Häuptling die Trophäen zu übergeben, und dieser habe dann mit dem Ältestenrat die Belohnungen festgelegt: spezielle Stoffe und Amulette, Erlaubnis zur Hausdekoration, Heiratsbewilligung, Tätowierung!
Auch er, Lohang Hoto, habe sein Tattoo erhalten: für den Kopf, den er dem Häuptling zu Füßen gelegt habe, die kunstvollen Linienanordnungen auf der Brust und dafür, daß auch sein Speer sich in das Blut eines von anderen erlegten Feindes gesenkt habe, die Querstreifen am Oberarm. Da springt Lohang plötzlich auf, schwingt den dao, seinen Kopfjägerdolch und fällt in einen eigentümlichen Singsang. Lohang singt von den ruhmreichen Zeiten, von Mut und Stärke, von der Feigheit der Wancho, vom Abtrennen des Kopfes, von der Kraft, mit der er nach der Jagd die Frauen beglückt habe. Doch dann bricht der Alte plötzlich ab und setzt sich wieder. Das Lied ist auf den Vorgang der Tätowierung zu sprechen gekommen. Wir fragen Lohang nach dem Grund für sein Verstummen. Nun, antwortet er traurig, kurz nach seiner erfolgreichen ersten Jagd, seien die Engländer mit ihren Waffen gekommen und hätten die Kopfjagd unter Androhung von schweren Strafen verboten. Da es ihm fortan nie mehr vergönnt gewesen sei, einen zweiten Kopf zu erbeuten, habe er auch nie seine Tätowierung vervollständigen dürfen. Und so habe er sein Leben halbnackt fristen müssen -- nicht mehr ganz Tier aber auch noch nicht ganz Mensch, sagt er und weist damit auf die zentrale Rolle der Tätowierung in seinem Volk hin: Tätowierung ist Kulturgut. Sie steht als unmittelbares Zeichen dafür, daß er, Lohang Hoto, mit seinem Akt der Kopfjagd die Fruchtbarkeit seines Volkes gemehrt hat, daß er dazu beigetragen hat, daß seinem Volk Wohlstand zuteil wurde -- Wohlstand, der nur aus guten Ernten entsteht und den Frauen seines Volkes das Weben neuer Stoffe ermöglicht, den Männern das Schnitzen neuer Skulpturen, das Gießen neuer Amulette, das Errichten neuer Gedenksteine... Und diese Fähigkeit, Kultur zu schaffen unterscheidet den Mensch vom kulturlosen Tier.

Wer m wäre diese gewisse Wehmut des Erzählers beim Lesen dieser Erzählung nicht zugänglich? "Früher war alles viel leichter: Es gab die Nocte und ihre Feinde. ..." Ach ja, früher! Man weiß schon: "früher". Kopf ab und alles war gut.

Aber interessant erscheint auch folgendes: Offenbar gibt es bei diesen Stämmen auch die Fähigkeit, ihre eigene Kultur produktiv weiterzuentwickeln und an die modernen Moralvorstellungen anzupassen, ohne dabei ihre eigene Kultur aufzugeben:

Obwohl die Kopfjagd heutzutage offiziell untersagt ist, praktizieren Wancho wie Konyak-Naga sie immer noch -- allerdings nur noch in symbolischer Weise. Will ein Wancho-Jüngling heiraten, verstecken seine Stammesangehörigen eine hölzerne Figur auf dem Territorium eines verfeindeten Nachbarn. Der jugendliche Krieger zieht mit seinem Gefolge los, jagt und erlegt den "Feind" und bringt den Kopf als Trophäe heim. Manchmal wird es auch als ausreichend angesehen, Gras oder Büsche von einem feindlichen Territorium mitzubringen -- wobei das Gras die Haare des Feindes symbolisiert. Nun kann sich der erfolgreiche "Kopfjäger" dem Tätowierungsritus unterziehen, der ihn fortan als Mann auszeichnet und ohne den es unmöglich ist, zu heiraten. ...

Ach, ja: "früher" !!! ....

Der Kampf ist Religion

Diese kurze Erzählung des Lohang Hoto läßt einen nicht los. Deshalb noch ein Gedanke: Zwischen Religiosität und "thymotischen Energien" können offenbar die vielfältigsten Beziehungen bestehen. Peter Sloterdijk hat da möglicherweise erst die Spitze eines Eisberges entdeckt. Wenn Religionswissenschaftler Michael Blume sagt (oder vermutet): Die Männer, die die religiösesten waren, hatten - auch bei Jäger/Sammler-Völkern - die meisten Kinder, so kann das vielleicht erweitert werden zu dem Satz: Für viele Stämme und Völker gilt sicherlich: Wenn ihre Religion der Kampf war, dann ganz sicher.

Man denke doch nur an die Yanömamö im südamerikanischen Regenwald, die - offenbar - hochgradig ADHS-veranlagt sind, und für die die Korrelation von "Kampfestüchtigkeit" und Kinderreichtum von der soziobiologischen Forschung ja schon aufgezeigt worden ist.

Und wie nähme sich in diesem Umfeld die Religiosität der modernen Weltreligionen aus? Lehren sie doch bemerkenswerterweise alle vor allem eines: die Friedfertigkeit. Der Buddhismus ebenso wie das Christentum.

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