Mittwoch, 9. Mai 2007

Nietzsche meinte: "Darwin hat den Geist vergessen"

Nietzsches sehr charakteristische Auseinandersetzung mit der Darwinschen Evolutionstheorie

Friedrich Nietzsche
Eine der bedeutendsten Erkenntnisse der letzten Jahre, die noch kaum im Bewußtsein der Allgemeinheit angelangt ist, ist die, daß unsere menschliche Evolution weiter geht (in vielen Beiträgen von Studium generale behandelt). Sie gibt Anlaß, sich von philosophischer Seite aus erneut zu versichern, wie solche Erkenntnisse in ein allgemeineres Weltbild einzuordnen sind. "Nicht fort- sollt ihr euch pflanzen, sondern hinauf!" rief Friedrich Nietzsche aus. Und:
Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? [...] Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde. [...] Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich ein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! ...

Es erscheint sinnvoll, zu solchen Fragestellungen das aktuelle Buch einer Nietzsche-Spezialistin zur Hand zu nehmen (1). Der Anfang von Teil B ("Darwinismus", S. 201ff) gibt schon viele gute Eindrücke. Es gibt offenbar zwei Lesarten in der Nietzsche-Rezeption. Die eine betont stärker, die andere schwächer, daß Nietzsche Darwinist und Naturalist gewesen wäre (1, S. 205):
Aber auch diejenigen, die Nietzsche zum Darwin-Nachfolger zu machen geneigt sind, erklären durchweg einschränkend, seine Philosophie habe zu keiner Zeit einen blanken Naturalismus vertreten.

Und das wird folgendermaßen genauer erläutert (1, S. 206):
Nietzsche hat die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften stets gesucht, ist ihnen aber, so seine eigenen Worte, heroisch begegnet, insofern er sie nicht nur als "etwas Strenges, Kaltes, Nüchternes" behandelt, sondern als einen "erschütternden Ausblick" der Seele in eine "wildfremde Welt", die in größtem Widerspruch steht zu unseren Empfindungen, zur Pascalschen logique du coeur, als ein Wagnis des Denkens, als ein "Alleinstehen gegen alle Dämonen und Götter".
Schon in diesen Worten spiegelt sich der "Schock" wieder, den Darwins kaltes, materialistisches Nützlichkeitsdenken für Nietzsche bedeutete. - Es sei hier eingeschoben, dass Nietzsche zur Zeit seines Zusammentreffens mit Lou Andreas-Salome geplant hatte, mindestens ein Jahr lang in Wien sehr intensiv Naturwissenschaft zu studieren. - Es wird dann auch ein Sinnspruch Nietzsches genannt (1, S. 206):
An die Jünger Darwins. Darwin neben Goethe setzen heißt: die Majestät verletzen - majestatem Genii.
Dieser Satz erläutert sich dann genauer dahingehend (1, S. 207):
An Darwin beklagt Nietzsche vor allem, dieser habe "den Geist vergessen" und kenne nur den Kampf ums Dasein, aus der Notlage geboren, nicht aber die geradezu absurde Verschwendung, den bis ins Unsinnige gehenden Überfluß und Reichtum, der in der Natur herrscht, in der ein Kampf ums reine Leben bloß eine zeitweilige Restriktion des Willens zu Wachstum, Ausbreitung und Macht darstellt. Um den Darwinismus herum, der den eigentlichen 'Lebensgrundtrieb', wie ihn Nietzsche bestimmt, nämlich die Machterweiterung, auf die bloße Selbsterhaltung einschränkt, haucht für Nietzsches Empfinden etwas wie englische Übervölkerungssickluft, ein Geruch von Not und Enge im Sinne von Malthus' Sozialnot-Schilderungen.
Das ist eine - aus heutiger Sicht - wohl auch sehr treffende Kritik der ursprünglichen darwinischen Theorie. Mancherlei neuere theoretische Ansätze in der Evolutionstheorie - wie etwa Amoz Zahavi's Handicap-Theorie, die man auch "Übermut"-Theorie nennen könnte - haben da schon zu größeren theoretischen Differenzierungen geführt. Heutige Buchtitel, die Nietzsche formuliert haben könnte, popularisieren diese Theorie, etwa Eckart Volands "Angeber haben mehr vom Leben". Außerdem ist überhaupt unser naturalistisches Weltbild heute nicht mehr so "kalt" materialistisch wie noch zu Darwins Zeiten, seit z.B. nicht nur agonale Verhaltenstriebe gründlicher erforscht und theoretisch gefaßt werden, sondern auch zuwendende wie die Liebe der Eltern zu den Kindern und umgekehrt, wie der Altruismus und vieles andere mehr.

Es könnte also deutlich werden, daß all dies ein Gebiet ist, auf dem es auch von philosophischer Seite aus noch viel Neues zum Entdecken und Durchdenken geben könnte, falls wir uns bemühen wollten, nicht in der Zeit zu leben, "wo der Mensch nicht mehr den Pfeil über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren". Schön jedenfalls wäre, wenn heutige Philosophen sich genauso wenig das gestatten würden, was sich offenbar schon Nietzsche nicht gestattete, erfahren wir doch in unserem Buch (1, S. 207):
... Insofern ist D. Henkes Bemerkung treffend, daß in der Geschichte des europäischen Geistes Darwin für Nietzsche ein Ereignis ist, an dem "vorbei"-zu-denken er keinem wesentlichen seiner Gedanken gestattete.

(Veröffentlicht 9.5.2007, überarbeitet: 28.4.2015)

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  1. Düsing, Edith: Nietzsches Denkweg. Theologie - Darwinismus - Nihilismus. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, 2. Auflage 2007, 600 Seiten

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