In der heutigen "Welt" findet sich ein Interview, dem eigentlich nichts mehr hinzugefügt werden muß. Das Interview ist wie manche andere Berichterstattung der Journalistin Brigitta vom Lehn zu verdanken.
Psychologie
Warum sich Zehnjährige umbringen
Zu frühe Selbstständigkeit schadet der Entwicklung von Kindern, meint der Psychologe Gordon Neufeld. Er rät allen Eltern, die enge Beziehung zu ihren Kindern möglichst lange aufrecht zu erhalten - und warnt davor, die Kleinsten in die Kinderkrippe zu schicken.
Von Birgitta vom Lehn
Berlin - Der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld arbeitet seit 30 Jahren in seiner Praxis in Vancouver mit schwer erziehbaren Jugendlichen zusammen. Außerdem lehrt und forscht der fünffache Familienvater an der Universität von British Columbia. Als vor zwei Jahren sein Buch "Hold On To Your Kids" erschien, avancierte es bei Amazon.ca binnen weniger Wochen zum Sachbuchbestseller. Mittlerweile wurde es in 14 weitere Sprachen übersetzt. Jetzt ist auch die deutsche Ausgabe "Unsere Kinder brauchen uns!" erschienen. (Gordon Neufeld/Gabor Maté: Unsere Kinder brauchen uns! Bremen, Genius Verlag 2006, 333 Seiten, 19,80 Euro)
WELT.de: Brennt das Thema der so genannten verlorenen Kinder, das Sie in Ihrem Buch aufgreifen, den Eltern tatsächlich auf den Nägeln?
Gordon Neufeld: Viele Eltern haben nicht nur das Gefühl, ihre Kinder zu verlieren, sondern fühlen sich selbst etwas verloren, haben aber keine Ahnung, was sie tun sollen.
WELT.de: Sie berichten von erschreckend hohen Selbstmordraten bei zehn- bis 14-Jährigen in Nordamerika, die sich seit 1950 vervierfacht haben. Wo liegen die Ursachen?
Neufeld: Selbstmord ist ein Anzeichen für große und tief greifende Frustration. Da Bindungen das sind, was Kinder am allermeisten brauchen, können wir daraus schließen, dass es die Bindungen der Kinder sind, die nicht so sind, wie es nötig wäre. Ich bin davon überzeugt, dass der Verlust starker Bindungen an Erwachsene die Hauptursache für die eskalierende Frustration ist. Wissenschaftliche Daten zeigen, dass es umso mehr Selbstmorde gibt, je stärker die Kinder der untersuchten Gruppe an Gleichaltrigen orientiert sind.
WELT.de: Sehen Sie diese Gefahr auch auf Europa zukommen?
Neufeld: Ja, denn ich habe den Eindruck, dass den Europäern nicht genügend bewusst ist, worin ihr eigentlicher Reichtum besteht, und dass sie anfangen, ihre Kultur und ihre Traditionen der Verheißung wirtschaftlichen Wohlstands zu opfern. Wenn Materialismus in der Kultur überhand nimmt, geht die intuitive Bindungsweisheit verloren. Dies ist der amerikanische Weg gewesen. Jetzt besteht die Gefahr, dass dieser Weg auch in Europa beschritten wird.
WELT.de: Sie meinen, dass es für Eltern heute schwer geworden ist, eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und vor allem zu halten?
Neufeld: Ja. Ich glaube nicht, dass die Elternrolle darauf angelegt ist, eine bewusst ausgeübte Aktivität zu sein. Früher haben Kultur, Gesellschaft und Tradition die Kinder in der richtigen Beziehung zu ihren Eltern gehalten. Die Eltern von heute werden im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die sich ganz auf das Geldverdienen konzentriert. Ein weiteres Problem ist, dass die Gesellschaft einen Kult um die Experten hervorgebracht hat. Je mehr Eltern sich auf solche Experten verlassen, umso weniger kompetent fühlen sie sich, ihre Würde und ihr gesunder Menschenverstand gehen verloren. Die Experten verdienen ihr Geld damit, dass sie Ratschläge erteilen. Niemand denkt aber daran, dass der Schlüssel zur Erziehung nicht darin liegt, was wir tun, sondern wer wir für unsere Kinder sind. Wir sehen nicht, dass es um Beziehung geht, sondern sind besessen davon, alles richtig zu machen.
WELT.de: In Deutschland ist der Ruf nach Fremdbetreuung von Kleinkindern unter drei Jahren laut geworden. Kann so ein richtiger Weg aussehen?
Neufeld: Das ist ein gefährlicher Weg. Kinder brauchen die intensive Bindungsbeziehung zu ihren Eltern. Die Entwicklung von Bindungen braucht Zeit. In den ersten Lebensjahren bindet sich das Kind, indem es mit den Eltern zusammen ist und ihnen gleicht. Danach erlebt das Kind Nähe, indem es dazugehört und Anerkennung erhält. Nur unter den geeigneten Bedingungen entwickelt sich emotionale und seelische Nähe. Kinder brauchen mindestens fünf Jahre, um so tiefe Bindungen zu entwickeln, dass diese als Grundlage für eine Erziehung dienen können und so stabil sind, dass die Bindung auch bei physischer Trennung erhalten bleibt. (...)
WELT.de: Wenn wir von Kindern sprechen, meinen wir oft Kleinkinder. Was ist mit den älteren? Haben wir die aus dem Blick verloren?
Neufeld: Ja, vor allem haben wir völlig aus den Augen verloren, wie wichtig vertikale Bindungen zwischen den Generationen für Jugendliche sind. Wir denken immer, in der Adoleszenz gehe es darum, eine eigenständige Persönlichkeit zu werden. Das stimmt auch, aber diese Individualität kann nur aus dem Schoß einer stabilen Bindung an fürsorgliche Erwachsene heraus geboren werden.
WELT.de: Hat die frühe Selbstständigkeit, zu der wir unsere Kinder animieren, den Nachteil, dass wir sie zu früh allein lassen?
Neufeld: Genau. Das Drängen auf Unabhängigkeit schadet ihnen wie uns. Die Forschung zeigt, dass dies schon bei Kleinkindern so ist: Wenn Eltern ständig darauf bestehen, dass kleine Kinder selbst laufen können, führt dies dazu, dass die Kinder unbedingt getragen werden wollen. Eltern, die ihre Kinder großzügig tragen, erziehen Kinder, die selbst laufen wollen. Das Tragen ist unsere Aufgabe. Dafür, dass unsere Kinder erwachsen werden, sorgt die Natur. Ein zweites Problem ist, dass Unabhängigkeit durch Drängeln nicht beschleunigt werden kann. Die Kinder übertragen ihre Abhängigkeit dann einfach auf andere, oft genug auf ihre Altersgenossen, was für die Individuation eine Sackgasse ist. (...)
Artikel erschienen am 10.02.2007
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