Mittwoch, 31. Januar 2007

Lernen und Genetik - keine Gegensätze per se

Der jüngste Beitrag von Eckart Voland in seiner Soziobiologie-Reihe in der FAZ ist ganz hervorragend. Er befaßt sich mit dem Irrtum, daß (individuelles) Lernen das Gegenteil von Genetik wäre. Die Schlußsätze lauten stattdessen:

... Zusammenfassend lässt sich also mit guten Gründen argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen „evolutionär und deshalb biologisch“ auf der einen Seite und „erlernt und deshalb kulturell“ auf der anderen Seite so gar nicht aufrechterhalten lässt. Die wirklich spannende Frage ist vielmehr, worauf Leda Cosmides und John Tooby immer wieder hinweisen, welche Lernprozesse aus welchen Gründen von der natürlichen Selektion hervorgebracht worden sein könnten. Man sollte sich also nicht täuschen: Lernen befreit keineswegs von dem evolutionären Schatten der Vergangenheit. Im Gegenteil: Lernen exekutiert den biologischen Imperativ auf eine ganz besondere Weise.Der Irrtum liegt auf der Hand. Er besteht darin, Lernen mit Offenheit gleichzusetzen und Kultur als etwas Naturfernes zu deuten. Gerade in seiner Kultur zeigt sich des Menschen Natur. Und sie mögen außergewöhnlich lernfähig sein, aber dass Menschen deshalb belehrbar wären, heißt das nicht. Das ist im Kern die Auffassung der Soziobiologie.

Und hier einige der zuvor aufgeführten Belege für diese These:

Nehmen wir beispielhaft den Spracherwerb. Die Muttersprache entwickelt sich im Normalfall gleichsam automatisch, das heißt ohne bewussten Aufwand in dem dafür vorgesehen Zeitfenster der ersten Lebensjahre. Das Erlernen einer Zweitsprache in späteren Lebensjahren ist ungleich schwieriger. Die Intonation der erlernten Fremdsprache erreicht niemals ganz die Authentizität der Muttersprache. Welche der rund 5000 Sprachen dieser Welt man erwirbt, ist freilich vom Zufall der Geburt abhängig und biologisch vollkommen bedeutungslos. Es geht ja um eine Verständigung innerhalb der eigenen Sprachgemeinschaft.

Wie neuere Untersuchungen vermuten lassen, werden neben der Sprache auch Aspekte der Gruppen- und Sexualmoral, Nahrungspräferenzen, der Umgang mit Zeit und Risiken, Landschafts- und Heimatliebe, Kinderliebe, Geschlechtsstereotypen, Einstellungen zum Inzest und anderes mehr auf eine vergleichbare, prägungsähnliche Art und Weise gelernt. Prägung wird modern verstanden als Bestätigung bereits vorhandenen Wissens. So gesehen ist Lernen ein biologisch strategisches, eigen-interessiertes Einjustieren der eigenen Persönlichkeit auf den je vorfindlichen Lebenskontext. Technisch formuliert ist es ein Auffüllen von neuronalen Programmen mit externer Information.

Hervorhebung durch mich, I.B.. Hier fehlt vielleicht noch die Nennung der Tatsache, daß durch Muttersprache auch sehr stark Wahrnehmung gelenkt und gesteuert wird, daß also auch diese früh geprägt wird. - Und sogar die Philosophie Immanuel Kants erhält eine völlig neue - sehr einfache - Deutung, worauf wohl auch als einer der erstenKonrad Lorenz (der Entdecker des verhaltensbiologischen Phänomens der Prägung) hingewiesen hatte:

Das bedeutet, dass der lernende Mensch schon im Voraus genau „wissen“ muss, wie er mit der Information aus seiner Umwelt umzugehen hat. Aber das hatte uns ja bereits Kant gelehrt, der aus erkenntnistheoretischen Erwägungen heraus zwingend den Schluss gezogen hat, dass Menschen über „angeborene Apriori“ des Weltzugangs verfügen müssen, weil sonst keine Erkenntnis, kein Lernen möglich wäre.

Die Kantschen Apriori lassen sich heutzutage als evolutionär angepasste, modulare Gehirnfunktionen neu beschreiben. Aus alledem folgt: Man lernt nur, was man lernen soll. „Soll“ ist hier natürlich evolutionär gemeint: Man lernt nur, wozu man in langen Evolutionsprozessen eingerichtet wurde, dass man es lernt.

Schafft die Pille ein "Klima seelischer Verhütung"?

Das "Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung" hat sich eines brisanten Themas angenommen (Berl-Inst):

"Leben in Deutschland - dessen Frauen wie in kaum einer zweiten Nation zur Kontrazeption die Pille favorisieren - Millionen von Paare zusammen, die auf einer elementaren biologischen Ebene nicht optimal aufeinander eingestellt sind?" 

Diese Frage ergibt sich daraus, daß Frauen, die die Pille nehmen, sich hormonell und psychisch im Zustand einer (Schein-)Schwangerschaft befinden, und daß alle Säugetiere in der Schwangerschaft andere Menschen bevorzugen als in empfängnisbereiten Lebensphasen.

Abb. 1: Großfamilie in der Steiermark um 1913 (Wiki) (Symbolbild)

Im folgenden nur die zweite Hälfte des Artikels:

 ... „Für wen wir dahinschmelzen, wird von einer ganzen Reihe Faktoren bestimmt, von denen uns einige bewußt sind, andere nicht“, sagt Haselton. Aber all diese Faktoren - das vergessen wir heute oft - stehen im Dienste eines evolutionären Zieles: Kinder zu kriegen. Was Menschen als Attraktivität erleben, ist in vieler Hinsicht, so zeigen Haseltons Untersuchungen, ein maskierter Kinderwunsch. Hier liegt der springende Punkt: Genau diese archaischen, aber sensiblen psychologischen Mechanismen setzt unsere Zivilisation häufig außer Kraft. Dazu trägt besonders die Pille bei, die über 80 Prozent der deutschen Frauen zur Verhütung bevorzugen.
Die Pille polt nachweislich die Geruchssignale möglicher Partner um - und bringt in einem verhängnisvollen coup de foudre immunologisch gesehen genau die Falschen zusammen, die sich ohne Hormontabletten kaum finden würden. „Frauen, die mit der Pille verhüten, riskieren es, einen Mann zu wählen, der genetisch nicht mit ihnen harmoniert“, sagt Haselton. Probleme tauchen möglicherweise dann auf, wenn sie das Verhütungsmittel absetzen und Nachkommen planen: Plötzlich fehlen die unbewußten Impulse zur Familienplanung. Wenn der Partner immunologisch nicht paßt, bleibt der Kinderwunsch möglicherweise aus - trotz Ganztagsbetreuungsangebot und Elterngeld. 
Leben in Deutschland - dessen Frauen wie in kaum einer zweiten Nation zur Kontrazeption die Pille favorisieren - Millionen von Paaren zusammen, die auf einer elementaren biologischen Ebene nicht optimal aufeinander eingestellt sind?
Es ist jedenfalls denkbar - wenn auch experimentell und statistisch nicht belegt - daß die Konsequenzen der Anti-Baby-Pille über die reine Empfängnisverhütung hinausgehen. Sie könnten nicht nur die Biologie, sondern auch die Psychologie der Fruchtbarkeit verändern und so ein Klima der seelischen Verhütung schaffen, in dem viele Paare Kinder intuitiv nicht wollen - auch wenn sie sich selbst nicht erklären können, warum.  
Haseltons Forschungen unterstreichen, wie komplex die Psychologie der menschlichen Fortpflanzung ist. Ihre Erkenntnisse machen deutlich, warum es so schwer sein kann, Unterschiede in der Fruchtbarkeitsrate einzelner Länder wie Deutschland und Frankreich zu erklären, die zwar alle einen ähnlichen Lebensstandard haben, aber doch alle auch unterschiedliche kulturelle Gepflogenheiten, Traditionen und Rollenbilder. Die Brisanz von Haseltons Ergebnissen und denen anderer Forscher zeigt: Unsere emotionale Seite wird von Sozialwissenschaftlern bis heute zu wenig in Rechnung gestellt. Gerade hier schlummern aber möglicherweise Lösungen für hartnäckige Probleme.
So ließe sich vermuten, daß die schwankende Präferenz für bestimmte Rollenbilder während des weiblichen Zyklus mit wichtigen Bedürfnissen und Selbstbildern einer modernen Frau kollidiert - und daß auch ein solches Dilemma den Kinderwunsch unbewußt einschränken könnte. Ungeahnte - und politisch nicht korrekte Zusammenhänge eröffnen sich: Selbst die in der deutschen Gesellschaft noch in Teilen übliche Abwertung von Frauen, die sich attraktiv kleiden, könnte Konsequenzen für die nationale Fertilität haben. „Einen Partner zu wählen ist die folgenreichste Entscheidung unseres Lebens“, sagt Martie Haselton. „Und doch sind wir mit ihr oft unzufrieden“. Für die modernen westlichen Gesellschaften könnte sich nicht nur ein emotionales Dilemma dahinter verbergen - sondern auch ein demografisches.
Quellen: 
Buss et al. (1998): Adaptations, Exaptations, and Spandrels. American Psychologist 53 (5): 533-548.
Haselton, M. G. (2006): Sexual attraction: the magic formula. Times Online, 28. Mai. Haselton, M. G.; Miller, G. M. (2004): Fertility favors Creative intelligence. In preparation (online unter http://www.sscnet.ucla.edu/comm/haselton/webdocs/haseltonmiller.pdf). 
Haselton, M.G.; Gangestad, S. W. (2006): Conditional expression of womens’s desires and men’s mate guarding across the ovulatory cycle. Hormones and Behavior 49: 509-518. 
Haselton, M.G. et al. (2007): Ovulatory shifts in human female ornamentation: Near ovulation, women dress to impress. Hormones and Behavior 51(1): 40-45. 
Pillsworth, E. G.; Haselton, M. G.; Buss, D. M. (2004): Ovulatory shifts in female sexual desire. J Sex Res 41(1): 55-65.  
Für Nachfragen und Interviews steht Dr. Andreas Weber unter 0170-8118492 zur Verfügung.

     

Dienstag, 30. Januar 2007

Dawkins und moralischer Fortschritt der Menschheit

Egal, wieviel man von Richard Dawkins schon gelesen hat. Liest man etwas Neues von ihm, lernt man WIEDER etwas Neues. SO sollten "öffentliche Intellektuelle" sein. Im folgenden Interview für die offenbar atheistische Zeitschrift "New Humanist" wird ebenfalls die Frage behandelt (die ich auch schon vor einigen Tagen kurz hier behandelt hatte), ob die Humanevolution moralischen Fortschritt mit sich bringt. (Da ich "The God Delusion" noch gar nicht vollständig gelesen habe, wußte ich gar nicht, daß das offenbar in diesem Buch auch behandelt ist. Da muß ich noch Hausaufgaben machen ...) Ach, und von einer ganzen Menge anderer Dinge ist auch noch die Rede in dem Interview.

18 January 2007

In the beginning ... there was Dawkins

Montag, 29. Januar 2007

Atheismus - sind die Priester schuld?

Religionswissenschaftler Michael Blume hat wieder einen schönen Beitrag eingestellt zur oft vertretenen These, Religionen wären lediglich Priesterbetrug. Er sagt, daß es Religionen schon gegeben hat, bevor es einen abgesonderten Priesterstand gegeben hat. Dem kann man folgen. Von "Studium generale" ist nun noch folgender weiterführender Gedanke daran angeschlossen worden:
Das finde ich gut argumentiert. Aber es läßt sich der Gedankengang vielleicht noch folgendermaßen weiterführen: Hat nicht Martin Luther vom allgemeinen Priestertum jedes Menschen gesprochen und empfinden wir das nicht als fortschrittlich? Und sind es nicht - z.B. - die freireligiösen Gemeinden, die diesen Gedanken noch am konsequentesten verwirklichen? (Ebenso Amische und Hutterer?)
Und warum mußte das von Luther überhaupt gesagt und gefordert werden? Und hat die heutige Religionsferne so vieler Menschen nicht auch etwas damit zu tun, daß es auch den evangelischen Kirchen nicht gelungen ist, diesen Gedanken Luthers nachhaltig zu verwirklichen? Und was folgt aus diesem Mißlingen?
Ich glaube, Gleichgültigkeit gegenüber Religion und Religiosität ist Jahrhunderte wenn nicht Jahrtausende alt, hat vielleicht genau damals begonnen, als man "andere" für den Bereich des Religiösen für verantwortlich ansah und erklärte und nicht mehr sich selbst persönlich. Wie schön praktisch ist es, wenn sich der Pfarrer Gedanken über Leben und Tod macht, dann brauche ich es selbst nicht mehr tun. Und wenn Familienangehörige sterben: Der Pfarrer wird schon die richtigen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen. Während des Gottesdienstes kann man auch wunderbar schlafen. Da wurde schon Jahrhunderte lang Atheismus gelebt, lange bevor dafür vielleicht ein Wort oder eine Philosophie bekannt war.

Samstag, 27. Januar 2007

Menschliche IQ-Evolution

Auf einen Leserbrief bei "Spektrum der Wissenschaft" hat der Autor dieser Zeilen eine Zuschrift erhalten hinsichtlich des Themas IQ-Forschung. Diese ist folgendermaßen beantwortet worden:
... Fast hätte es mich gewundert, wenn es zu diesem Inhalt meines Leserbriefes keine Reaktion gegeben hätte. Schließlich hat dieses Thema Steven Pinker das "gefährlichste Thema der nächsten zehn Jahre" genannt. Ich bin selbst in der Intelligenz-Forschung gar nicht zu Hause und habe erst in letzter Zeit ein größeres Interesse dafür entwickelt. Das Interesse kam daher, daß ich feststellte, daß WENN man von einer starken Erblichkeit der Intelligenz ausgeht (jener Intelligenz wie sie in Intelligenz-Tests seit 100 Jahren gemessen wird), daß dann plötzlich sehr viele ansonsten sehr widersprüchliche Tatbestände sich in ein überraschend großes und einheitliches Bild von Humanevolution einfügen. Und soweit ich die Literatur überblicke, stellt sich diese Überraschung derzeit bei immer mehr Wissenschaftlern und Journalisten ein - eben auch bei Steven Pinker oder bei NYT-Journalist Nicholas Wade in seinem neuen Buch "Before the Dawn". Auch der Berliner Psychologe Jens Asendorpf ist in der Neuauflage seines Lehrbuches "Psychologie der Persönlichkeit" bereit, eine starke Erblichkeit von Intelligenz zustimmend zu behandeln. Soweit ich die verhaltensgenetische Literatur dazu überblicke, herrscht daran eigentlich auch gar kein Zweifel mehr. Das hat sich ja vor allem aus der Zwillingsforschung ergeben.

Für mich waren zum Beispiel solche Dinge frappierend: Die nordamerikanischen Schwarzen leben seit mehreren hundert Jahren in Nordamerika und haben immer "noch" nur einen durchschnittlichen IQ von 85. Die aschkenasischen Juden sind größtenteils erst in den letzten hundert oder hundertfünfzig Jahren in die USA eingewandert und haben oder hatten "sofort" einen IQ von 115. Bei den in den USA lebenden Ostasiaten ist diese Erscheinung noch ausgeprägter. Wo immer auch Ostasiaten leben, in den USA, in China, in Australien, als Bauern oder in der Stadt haben sie einen durchschnittlich höheren IQ als Weiße. Schon all diese Dinge deuten für mich auf starke Erblichkeit hin. Was mich aber noch mehr frappierte, ist, daß die Schwarzen in Afrika einen noch niedrigeren IQ haben als in den USA. Nun könnte man sagen: Aha, DOCH umweltbedingt. Pustekuchen. Inzwischen ist bekannt, daß zwanzig Prozent der GENE der nordamerikanischen Schwarzen europäisch sind. So einfach lösen sich die Dinge. Ähnlich scheint es auszusehen mit dem vergleichsweise hohen IQ der Inuit - die haben offenbar Gene von den Wikingern oder Norwegern. Usw. usw. usf..

All das wird deshalb heute so überzeugend, weil sich eine solche Evolution des IQ ganz nahtlos in das einfügt, was wir auch sonst von der Evolution menschlicher Erbmerkmale derzeit immer genauer lernen, also solcher Erbmerkmale wie Haut-, Haar-, Augenfarbe, Rohmilch-Verdauungs-Fähigkeit, Malaria-Resistenz, Häufigkeiten von bestimmten Erbkrankheiten in bestimmten Populationen, ADHS-Häufigkeit und vieles andere mehr: Überall sieht man, daß die Evolution weitergegangen ist nach der Menschwerdung und auch heute noch weitergeht, und daß die jeweilige Häufigkeit von phyischen oder psychischen Erbmerkmalen geschichtliche Ursachen hat. Warum also soll das ausgerechnet bei einem so wichtigen Merkmal wie IQ nicht passiert sein? Am besten zusammenfassend behandelt ist diese neue Sicht auf Humanevolution für mich bislang in dem Buch "Human Evolutionary Genetics" von Mark Jobling und Mitarbeitern (2004) (besonders in den hinteren Kapiteln).

Ich glaube, die Motive für den Widerstand gegen solche Einsichten liegen (neben den bekannten zeitgeschichtlichen Erfahrungen) darin begründet, daß man dem Intelligenz-Quotienten in Bezug auf "Wert" als Mensch sehr leicht geneigt ist, zu viel Bedeutung beizulegen - auch heute noch. Aber da wird es dann meiner Meinung nach sinnvoll, sich klarzumachen, daß IQ nicht alles ist. Im Gegenteil: Oft hat man doch das Gefühl, daß traditionell lebende Jäger-Sammler-Völker ein weitaus menschenwürdigeres Leben führen als all diese hochintelligenten Gesellschaften wie jene, in denen wir selbst leben. Mehr Empathie, mehr Rücksichtnahme, mehr Natürlichkeit, Naturverbundenheit, Freundlichkeit, Arglosigkeit. Will also sagen: IQ-Evolution heißt NICHT moralischer "Fortschritt". Ich würde es sowieso für sehr zweifelhaft ansehen, ob auf dem Gebiet menschlicher Moral ganz grundsätzlich "Evolution" möglich ist oder geschieht. Steven Pinker diskutiert auch das neuerdings und meint, insgesamt würden die Menschen im Laufe der Evolution weniger gewalttätig werden. (Aber er spricht auch von Rückfällen in dieser Entwicklung ...) Es wird, wie ich denke, ganz einfach so sein: Arbeitsteilige Gesellschaften benötigen zu ihrer Aufrechterhaltung einen höheren durchschnittlichen IQ derer, die in ihr leben. Und deshalb haben sie mehr oder weniger ganz unbewußt auf einen solchen höheren IQ selektiert - genauso wie bei der Fähigkeit zur Rohmilch-Verdauung usw. usf..

Aber ist ein reicher Mensch nur deshalb, weil er reich ist, ein "besserer" Mensch? Oder deshalb, weil er Rohmilch verdauen kann? Meist ist doch leider eher das Gegenteil der Fall.

Mit freundlichen Grüßen,

I. Bading

PS: Inwieweit der IQ durch Training und andere Umwelteinflüsse erhöht oder erniedrigt werden kann, ist, soweit ich sehe, in der Forschung noch sehr umstritten. Wohl vor allem in Jugendzeiten scheint das noch "plastischer" zu sein, während sich die Erbkomponente in späterem Lebensalter stärker durchsetzt. Ich kann mich da in die Details gar nicht einmischen. Mir ging es nur darum, klar zu machen, daß eben heute auch andere Standpunkte und Sichtweisen in der Forschung vorhanden sind und sehr schnell an Boden gewinnen, die - soweit ich sehe - recht viel an Plausibilität für sich haben.

Eine europäische Erbkrankheit, die Mukoviszidose

Mukoviszidose (Wiki) (zystische Fibrose, engl. Cystic fibrosis) ist die häufigste Erbkrankheit in (Nord-)Europa. Ihre Häufigkeit geht aber derzeit schon aufgrund von neu eingeführter Prenatal-Selektion zurück. Wenn eine Erbkrankheit oder ein Erbmerkmal eine ausgeprägt höhere Häufigkeit in einer Bevölkerung hat als in allen übrigen, dann ist das ein deutlicher Hinweis darauf, daß sie in der Geschichte dieser Bevölkerung einen "Selektionsvorteil" mit sich gebracht hat, der die offenbaren Selektionsnachteile aufgewogen hat. Die spannende Frage ist dann immer jeweils: welchen?

Abb.: Erbgang der Mukoviszidose
(Urheber der Grafik: Armin Kübelbeck - Wiki)
In der OMIM-Datenbank kann man sich die derzeit vorherrschenden Theorien zu derartigen Themen jeweils sehr schnell aneignen. Zu erfahren ist hier unter anderem, daß die Mukoviszidose - bei deutlich geringerer Häufigkeit - in Afrika und (!) Griechenland genetisch anders verschaltet ist als in Nordeuropa. Das weist interessanterweise auf genetische Gemeinsamkeiten zwischen heutigen Afrikanern und Griechen hin. Auch "Bild der Wissenschaft" hat mehrere Artikel zu dem Thema. Die vorherrschende Theorie ist immer noch, daß Mukoviszidose einen Schutz gegen Tuberkulose-Infektionen darstellte.

In dem auch sonst lesenswerten Wissenschaftsblog von Yann Klimentidis findet sich nun der Hinweis auf eine neue Theorie zur Häufigkeit von Mukoviszidose bei Europäern, veröffentlicht im Dezember im "European Journal of Human Genetics". Danach stellte die Mukoviszidose-Veranlagung vor allem bei der Einführung des Konsumierens von Rohmilch-Produkten einen gesundheitlichen Schutz dar. Dieser sei später nicht mehr notwendig gewesen. Die heutige Häufigkeit sei aber ein "Nachhall" des Selektionsvorteils von damals.

Klingt das plausibel? - Man möchte es eher nicht "glauben". Aber das könnte auch nur ein vages "Bauchgefühl" sein. Man müßte überhaupt all die vielen bekannten menschlichen Erbkrankheiten und Veranlagungen, sowie Häufigkeitsverteilungen im weiteren Überblick als Hintergrundwissen besitzen, um treffgenauer beurteilen zu können, welche jeweiligen "selektiven Regime" für ihre heutige Häufigkeit verantwortlich gewesen sein können und welche nicht. Aber auf diesem Gebiet werden die nächsten Jahre sicherlich noch sehr viel Neues bringen. Das Buch "Human Evolutionary Genetics" ist der bisher aktuellste wissenschaftliche Zugang zu Grundlagen und Anwendungsgebieten dieses Themas.

Überhaupt entdeckt man in der schon genannten OMIM-Datenbank dazu viel mehr Forschungen und Theorien, als in der Wissenschaftspublizistik einem breiteren Publikum bislang präsentiert worden ist. Rundere Überblicks-Darstellungen fehlen seit Jahren.

Intelligenz-Genetik, letzter Stand

Wissenschafts-Journalist Jürgen Langenberg von "Die Presse" (Wien) berichtet regelmäßiger über moderne IQ-Genetik. Hier sein jüngster Artikel:

Molekularbiologie:Fehlanzeige beim Intelligenz-Gen
(Die Presse) 25.01.2007


Zwei Gene, die seit 2005 Kandidaten für ein großes Gehirn und scharfes Denken sind, haben mit beidem nichts zu tun.

Am 9. September 2005 schien es endlich da, das Gen für die Intelligenz, nach dem alle suchen. Es war gar ein Doppelschlag, mit dem Bruce Lahn, eines der Wunderkinder der Genetik, die Welt in Science überraschte. Er hatte gleich zwei Gene gefunden, von denen bestimmte Varianten das Gehirn größer werden ließen und die zu höchst spannenden Zeiten entstanden: Microcephalin und ASPM. Die Microcephalin-Variante ist 37.000 Jahre alt - da wanderten unsere Ahnen in Europa ein, da entwickelten sie die Kultur mit Reden und Denken in Symbolen -, die ASPM-Variante entstand vor 5800 Jahren, da wurden im Nahen Osten die ersten großen Städte gegründet.

Zudem stehen beide Varianten noch heute unter starker Selektion, sind also wichtig und werden optimiert (Science, 309, S. 1717, S. 1720). Lahn sah die Konsequenzen seines Fundes, er formulierte sie so: "Microcephalin ist ein attraktiver Kandidat für das Studium der Genetik der menschlichen Variation bei Phänotypen, die mit dem Gehirn zusammenhängen." Zumindest einer verstand das sofort, Philippe Rushton, Psychologe der University of Western Ontario und Verfechter der Hypothese, dass Schwarze weniger intelligent sind als Weiße. Der Verdacht stand auch in Lahns Publikationen: Er hatte die Varianten weniger häufig in Afrika als andernorts auf der Erde gefunden.


Lahn half Rushton beim Design einer Studie - Gen-, Hirngrößen- und Intelligenzvergleich von Weißen, Schwarzen und Asiaten -, Rushton führte sie durch und winkt jetzt ab: "Wie immer man die Daten auswertet: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Gen-Varianten und der Gehirngröße oder der Intelligenz" (Biology Letters, 24. 1.).

Lahn schickt sich drein, seine Universität (Chicago), die einen Patentantrag auf einen Gentest stellte, zieht ihn zurück. Stimmt auch der Rest der Argumentation nicht? Manche Forscher vermuten, dass beide Varianten überhaupt nicht unter aktueller Selektion stehen. Andere stimmen in diesem Punkt zwar zu, sehen aber nicht das Gehirn unter Selektionsdruck: ASPM ist auch anderswo im Körper aktiv, etwa in den Flagella, die die Spermien antreiben (Science, 314, S. 5807). Vielleicht werden die optimiert. jl

Freitag, 26. Januar 2007

Dawkins' "Gottes-Wahn"

Nun hat also auch "Science" den neuen Bestseller von Richard Dawkins ("The God Delusion") rezensiert. Die Rezension von Michael Shermer (siehe Foto) ist in einigen Punkten bemerkenswert. Er glaubt, daß ein solch zorniges und stürmisches Buch nicht geschrieben worden wäre, wenn der Autor nicht unter der Regierung von George W. Bush leben würde. Könnte er damit nicht tatsächlich recht haben? - Nach Shermer ist dieses Buch Dawkins' persönlicher Protest gegen diese (milde gesprochen: sonderbare) Regierung:

Shermer meint: Wenn der religionskritische Konservative Barry Goldwater, US-Präsidentschafts-Kandidat von 1964,
had been president for the past six years, I doubt that Dawkins would have penned such a powerful polemic against the infusion of religion into nearly every nook and cranny of public life. But here we are, and like Goldwater, Dawkins is sick and tired of being told that atheists are immoral, second-class, back-of-the-bus citizens. The God Delusion is his way of, like the Howard Beale character in the 1976 film Network, sticking his head out the window and shouting, "I'm as mad as hell, and I'm not going to take this anymore."
Im Grunde ist es ganz unmöglich, dieses Buch nicht unter diesem Aspekt zu lesen. Aber dann zeigt sich auch Shermer - nunja - in gewisser Weise "konsterniert":
When I received the bound galleys for The God Delusion, I cringed at the title, wishing it were more neutral (why not, say, The God Question?). As I read the book, I found myself wincing at Dawkins's references to religious people as "faith-heads," as being less intelligent, poor at reasoning, or even deluded, and to religious moderates as enablers of terrorism. I shudder because I have religious friends and colleagues who do not fit these descriptors, and I empathize at the pain such pejorative appellations cause them. In addition, I am not convinced by Dawkins's argument that without religion there would be "no suicide bombers, no 9/11, no 7/7, no Crusades, no witch-hunts, no Gunpowder Plot, no Indian partition, no Israeli/Palestinian wars, no Serb/Croat/Muslim massacres, no persecution of Jews as 'Christ-killers,' no Northern Ireland 'troubles'…." In my opinion, many of these events--and others often attributed solely to religion by atheists--were less religiously motivated than politically driven, or at the very least involved religion in the service of political hegemony.



I also never imagined a book with this title would ever land on bestseller lists in the United States. But I was wrong. The data have spoken. The God Delusion is a runaway bestseller, a market testimony to the hunger many people--far more, I now think, than polls reveal--have for someone in a position of prestige and power to speak for them in such an eloquent voice. Dawkins's latest book deserves multiple readings, not just as an important work of science, but as a great work of literature.

Unser Leserbrief bei "Spektrum der Wissenschaft"

Nun ist also auch unser Leserbrief auf "Spektrum der Wissenschaft" veröffentlicht worden. (Wir berichteten darüber schon hier und hier.) Die meisten dort eingestellten Leserbriefe stehen der von Prof. Eckart Voland (Gießen) vertretenen These mit Recht skeptisch gegenüber - wenn auch aus oft sehr unterschiedlichen Sichtweisen und Einstellungen heraus. Was mich wundert, ist, daß außer mir keiner der Leserbrief-Schreiber das Thema auf Augenhöhe des heutigen biologischen Kenntnis- und Diskussionstandes diskutiert. Deshalb hier noch mal mein Text:

Leserbrief 22.01.2007
zu: Die Fortschrittsillusion

Es gibt Gegenpositionen und -argumente

von Ingo Bading, M.A., Frankfurt am Main

Dass es keinen Fortschritt in der Evolution gäbe, ist ein Gedanke, der vor allem von Stephen Jay Gould vertreten und popularisiert wurde. Richard Dawkins hat in seinem neuen Buch "Ancestors Tale" (letztes Kapitel und andere Kapitel des Buches) dazu inzwischen einen erheblich differenzierteren Standpunkt eingenommen. Er beruft sich dabei vor allem auch auf Simon Conway Morris' gewaltiges Buch "Life' Solution". Auch andere letzthin in "Nature" rezensierte Autoren verwerfen das Konzept von Gould inzwischen weit gehend.

Auch schon allein wenn man sich die Humanevolution auf dem Wissen der gegenwärtigen Zeit ansieht, könnte es sich herausstellen, dass Fortschritt KEINE Illusion ist. So scheint es doch offenbar seit 200 000 Jahren eine IQ-Evolution zu geben von einem durchschnittlichen IQ von etwa 65 (heutige Buschleute) zu einem durchschnittlichen IQ von etwa 115 (heutige aschkenasische Juden) mit einer Fülle von Zwischenstufen, die grob mit einem geographischen Nord-Süd-Gradienten korrelieren. (Siehe: http://www.gnxp.com/blog/2006/02/world-of-difference-richard-lynn-maps.php )

Dass es solche gewichtigeren Gegenpositionen und -argumente GIBT, sollte zumindest im Artikel genannt werden.

Ingo Bading, M.A., Frankfurt am Main
ingo_34@yahoo.de

Donnerstag, 25. Januar 2007

Zielgerichtetheit der Evolution?

In der Oktober-Ausgabe von "Current Biology" hat der bekannte Paläontologe Simon Conway Morris einen "Quick guide" zum Thema "Evolutionäre Konvergenz" geschrieben. Das ist ja das Thema seines umfassenden Buches "Life's Solution - Inevitable Humans in a Lonely Universe" gewesen, in dem er für den Gedanken von einer Zielgerichtetheit der Evolution argumentiert. Richard Dawkins hat dieses Buch sehr positiv aufgenommen. Da wird es sinnvoll sein, noch mal den kurzen Überblick zu lesen, den Conway Morris hier gibt.

What is convergence? Consider your eye and that of an octopus. Both are built based on the camera principle, yet you are closely related to a starfish while the octopus is a near cousin of the oyster. The common ancestor of you and the octopus lived about 550 million years ago and at most possessed a simple eye-spot. Regarding the eyes, vertebrates and molluscs have arrived at the same solution, and in doing so have solved equally successfully problems such as how to correct spherical aberration. Camera-eyes are a brilliant evolutionary invention, and so it is less surprising that they convergently emerged in at least five other groups, including cubozoan jellyfish. And here is something else these groups have in common: with the exception of some snails that are ‘landscape artists’ (well, they are adept at spotting routes to safety on salt-marshes), all are fast-moving, predators and show an interesting tendency towards intelligence.

But aren't all camera-eyes built using the famous Pax-6 gene? Indeed, but so are compound eyes and they evolved independently at least four times. Pax-6 was almost certainly recruited from a more primitive role in the development of anterior sensory fields. That explains why this gene is also expressed in the nose and brain, as well as salivary glands. Remember also that nematodes lack eyes, but they possess Pax-6. To insist that a gene like Pax-6 ‘makes’ an eye is an over-simplification: necessary but not sufficient.

Isn't convergence obvious? Tell that to the famous Victorian naturalist Henry Bates. In the Amazon, he was hunting hummingbirds and — extensive as his knowledge was — he routinely shot sphinx moths by mistake. Local people insisted that moth could transmute into bird; silly but understandable because the convergence is remarkable not only in terms of body shape and flight dynamics, but even in their similar energy budgets.

Did you say ‘remarkable’? Odd isn't it, but almost invariably when biologists describe convergence the words they use are: ‘striking’, ‘astonishing’, ‘stunning’, ‘uncanny’, and, yes, ‘surprising’. Why? Surely we all agree that the organisms must function, that physical laws apply, and that adaptation is real. Moreover, convergence is ubiquitous but it can be difficult to see the wood for the trees — oh yes, they are convergent, too. In these atomistic, reductionist and specialized times it is easy to forget that organisms — and cells — are functionally integrated. Look at the lamnid shark and tuna. Similar body shape, specialized muscle-tendon system and even warm bloodedness provide a wonderful example of convergence. The similarities are far more than skin-deep.

Do you ever see examples of molecular convergence? In principle, one shouldn't. Given the size of a typical protein and the 20 available amino acids the number of alternatives is more than astronomic. Nevertheless, molecular convergence is probably far more common than realized. Consider that chemically intractable molecule carbon dioxide, stable and with strong ionic bonds but the management of which is central to biological processes such as photosynthesis, biomineralization, and respiration. The key enzyme in CO2 metabolism is a metalloprotein, carbonic anhydrase. Evolved once, twice? No — at least five times independently. And that is modest when compared to C4 photosynthesis, which has arisen at least 30 times.

Do extraterrestrials see with camera-eyes and breathe using carbonic anhydrase? Almost certainly; they are the obvious solutions. Evolutionary convergence allows us to predict what, one day, we might encounter. Not only in terms of eyes, but other sensory systems such as echolocation which has evolved independently at least three times — in bats, whales and birds. So too, in terms of social systems, think of the colossal convergence between elephants and sperm whales. Then there is eusociality, a system that has evolved repeatedly in insects and moreover in shrimps and even mammals, in the case of the naked mole rats. The mole rat is one of the very few examples in biology where a system was predicted before it was actually recognized. So, our planet may actually provide a very good guide to alien biospheres. Even if the planetary environment is very different, say a very dense atmosphere or giant oceans, we can still make a good estimate of what one day we may find. Not only that, but convergence tells us aliens will even think in much the same way.

Now you are joking! Neo-Darwinians typically assume human-like intelligence is an evolutionary fluke, a historical accident. If correct, then the Search for Extraterrestrial Intelligence (SETI) is a complete waste of time. But what we see on this planet tells us otherwise. All the evidence suggests the cognitive world of dolphins is remarkably similar to that of the the great apes. Certainly, both are mammals, but chimps don't live in oceans and the brain structures are markedly different. Even more remarkable is the cognitive architecture of birds, especially crows. Again it maps closely against the mind of the great apes but their brain is now known to be built to a completely different plan. When it comes to tool use the New Caledonian crows are well ahead of chimps. And the convergences don't stop there: warm-bloodedness and singing are convergent with mammals. So is social play. Did you know crows enjoy skiing? And what about the New Zealand parrot known as the kea? Watch out for those delinquent gangs of teenage birds as they roam around trashing cars.

Are we on the threshold of a general theory of evolution? Maybe.

Why does convergence matter? It shows adaptation is real, and not some Darwinian conspiracy. It insists that organisms are functionally integrated and not a heap of character states. Paradoxically, the very similarities seen in convergence are some of the best proofs of evolution. Next time you are cornered by a pair of creationists order them a stiff gin and tonic and then ask him why the position of the retina is opposite in our eye to that of octopus (clue: embryology), and ask her why the bacterial flagellar motor has evolved at least twice. Then when they are sobering up remind them that the way in which Drosophila reacts to ethanol is remarkably similar in terms of behaviour to the manner in which we get drunk. Please raise a glass to convergence.

Eine "menschlichere Gesellschaft schaffen"

Evolutionäres Denken führt offenbar immer mehr Forscher dazu zu erkennen, daß familiäre und Paarbeziehungen insgesamt nicht gut funktionieren (können), wenn nicht auch die Gesellschaft insgesamt besser funktioniert. Diese Einsicht hört man jedenfalls aus einem Interview heraus, das der Freiburger Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer der Zeitschrift "Geo" gegeben hat (Geo2007). Man kann es sehr lesenswert und klug finden, vor allem den letzten Absatz. Am "Anfang allen Lebens" steht ja doch tatsächlich die "Liebe" und nicht der "Kampf", das sieht man doch besonders gut an einem neugeborenen Säugling und an kleinen Kindern allgemein.

(Allerdings scheint auch Bauer zu verkennen, daß die Theorie vom "egoistischen Gen" dazu entdeckt wurde, Altruismus - und nicht Egoismus - zu erklären. Der Begriff "egoistisches Gen" stammt nicht vom Entdecker dieser Theorie, vom im Jahr 2000 verstorbenen William D. Hamilton, sondern "nur" von einem - allerdings in weiten Teilen sehr klugen - Popularisierer dieser Theorie. Das sollte man auseinander halten.)

Herr Professor Bauer, Charles Darwin hat in seinem Werk den Kampf ums Überleben als oberstes Gesetz in der Natur beschrieben. Was haben Sie dieser Theorie entgegenzusetzen?
Bauer: Darwin war der irrigen Meinung, die Dinosaurier seien von Säugetieren ausgerottet worden. Daher dachte er, die Selektion vollziehe sich in erster Linie durch einen gegeneinander gerichteten Vernichtungskampf der Individuen und der Arten. Das war der Grund, warum er überzeugt war, die Evolution favorisiere nur solche Eigenschaften, die in diesem gegeneinander gerichteten Kampf nützlich sind. Altruistische Verhaltensweisen sah er als sekundäre an, die nur dem obersten Ziel, nämlich dem Kampf ums Überleben dienen. Ich sehe es umgekehrt: Oberstes biologisches Prinzip ist die Kooperation, der Kampf steht in deren Diensten.

Haben Sie für Ihre These konkrete Beispiele?
Bauer: Am Anfang allen Lebens stand Resonanz und Kooperation: Nur dadurch konnte einst aus einer Gruppe von anorganischen Molekülen ein erstes lebendes System entstehen. Und sowohl in der Tier- als auch in der Pflanzenwelt beobachten wir Kooperations- und Resonanzphänomene. Wird ein Baum von einem Schädling befallen, gibt er Signalstoffe ab, die bei anderen Bäumen, die vom Schädling noch nicht erreicht wurden, eine Reaktion auslösen, die vor dem Schädling schützt.

Was halten Sie von der These des englischen Biologen Richard Dawkins, der Motor des Lebens seien "egoistische Gene", die sich gegen die Konkurrenz anderer Erbanlagen durchsetzen?
Bauer: Die Vorstellung eines "egoistischen Gens" ist aus molekularbiologischer Sicht unhaltbar. Jedes Gen ist Teil eines kooperativen Systems verschiedener Moleküle. Zudem werden alle Gene durch Signale aus der Umwelt reguliert. Gene sind keine Systeme, die auf Autopilot fahren. Jedes Gen hat eine Vorschaltsequenz, den so genannten Promoter. An diesen können Signalstoffe binden und veranlassen, dass das jeweilige Gen verstärkt oder vermindert abgelesen wird. Die Umwelt spielt permanent auf der Klaviatur der Gene und beeinflusst deren Aktivität. Gene sind Kommunikatoren und Kooperatoren. Allein kann ein Gen gar nichts.

Warum scheint dann oft nicht Zusammenarbeit, sondern Aggression die Welt zu beherrschen?
Bauer: Abgesehen vom Kampf um Ressourcen, dient Aggression der Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit und der Abwehr von Schmerz. Für Menschen gilt dies in besonderem Maße: Unser Gehirn reagiert nicht nur bei körperlichem Schmerz mit einer Aktivierung seiner Schmerzzentren, sondern auch dann, wenn wir aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, also von anderen nicht beachtet oder gar gedemütigt werden. Dies ist der Grund, warum Menschen nicht nur dann aggressiv reagieren, wenn ihnen körperlicher Schmerz zugefügt wird, sondern auch, wenn sie ausgegrenzt werden.

Aggression ist demnach gar kein inneres Bedürfnis des Menschen?
Bauer: Nein. Wir haben keinerlei neurobiologische Daten darüber, dass Aggression etwas ist, zu dem Menschen primär motiviert sind oder nach dem wir von Natur aus streben. Alle neurobiologische Evidenz deutet darauf hin, dass unsere Grundmotivationen Zuwendung und Gemeinschaft sind. Trotzdem: Aggression ist enorm wichtig. Wir brauchen sie, um Bindungen zu erwerben und zu verteidigen. Um mich in eine Gemeinschaft einzubringen, benötige ich einen gewissen aggressiven Antrieb. Deshalb kommt es dort, wo die Ressource Zuwendung zu knapp gehalten wird, etwa in einer bestimmten Familie oder am Arbeitsplatz, zu einem Zuwachs an Aggression.

Warum scheitern wir trotz unseres Bedürfnisses immer wieder mit zwischenmenschlichen Beziehungen?
Bauer: Die Evolution hat uns auf halber Strecke abgesetzt. Einerseits hat sie uns mit dem Verlangen nach gelingenden Beziehungen geschaffen. Auf der anderen Seite hat sie uns jedoch nicht mit einem Automatismus ausgestattet, der uns gute Beziehungen garantiert. Hier tut sich also eine Lücke auf. Diese Lücke hat aber etwas Reizvolles, denn sie zwingt die Menschheit, sich auf einen Suchprozess zu begeben, um die Lücke zu schließen und eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Dieser Suchprozess ist das, was wir Kultur nennen.

Hervorhebung des letzten Satzes nicht im Original. Dieser Satz hat übrigens viel gemeinsam mit dem Gedanken von Geoffrey Miller, daß ein großer Teil menschlicher Kultur und menschlicher kultureller Anstrengungen den (psychologischen) Mechanismen der "sexuellen Selektion" geschuldet ist. Demnach müßte - um die Dinge noch etwas weiter "zuzuspitzen" - der moderne unglückliche Single "der" geborene Kulturrevolutionär unserer Zeit sein (wenn nicht Unglücklich-Sein heute schon als etwas fast Peinliches, "Unanständiges" angesehen werden würde).

Joachim Bauer ist Autor des Buchs "Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren"

Jüngstselektierte Gene im menschlichen Genom

Humangenetiker Razib Khan versucht mit sich selbst und seinen Lesern ins Reine zu kommen über die Implikationen des genetischen Konzepts des "Koppelungs-Ungleichgewichtes" (engl. "Linkage Disequilibrium"). Dieser Versuch gibt viele Anregungen. Denn dieses Konzept hat erst jüngst wirklich große Bedeutung in der (Human-)Genetik erlangt. Deshalb ist es tatsächlich gut, wenn auch der humangenetische Laie versucht, sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, was es damit eigentlich auf sich hat.

Das ist aber gar nicht so einfach, wie auch an den Diskussionen der Humangenetiker untereinander deutlich wird. Aber indem ich darüber spreche, kann auch ich versuchen, mit mir und meinen prospektiv kritischen Lesern darüber ins Reine zu kommen, ob man dieses Konzept inzwischen wirklich (besser) verstanden hat und jederzeit fähig ist, es auf den Einzelfall anzuwenden. (- Natürlich nicht! Aber Sprechen darüber und Korrigiert-Werden fördert den Erkenntnis-Prozeß. Also: Keine Scheu vor kräftigem Irrtum und vor kräftigem Daneben-Hauen!)

Immer wichtiger ist dieses Konzept deshalb in den letzten Monaten und Jahren geworden, weil die umfassenden Genom-Sequenzierungen verschiedenster Organismen bis hin zum Menschen es möglich gemacht haben, Genome weitläufig auf "auffällige Erscheinungen" hin abzusuchen. Denn für sich genommen sagt eine einfache , "langweilige" Gen-Sequenz noch nichts über ihre Funktion aus. Ich brauche zusätzliche Informationen, um zu erfahren, ob ein Genom-Abschnitt irgendeine Funktion hat und wenn ja, welche.

Eine bedeutsame Information ist in diesem Zusammenhang nun das sogenannte "Koppelungs-Ungleichgewicht" geworden. Das heißt, ich vergleiche den gleichen Genom-Abschnitt (auf dem gleichen Chromosom) verschiedener Individuen miteinander und wenn ich über weite Bereiche eines solchen Genom-Abschnitts ähnliche Sequenz-Muster vorfinde (sprich "Koppelung" zweier entfernt voneinander liegender Gen-Loci), dann ist das ein Hinweis darauf, daß sich in diesem Bereich weder allzu viele regelmäßige, unterschiedliche, vererbte Zufalls-(Punkt-)Mutationen angesammelt haben (nach dem "Gesetz" der molekularen Uhr), noch daß in diesem Bereich in umfangreicherem Maße Rekombination mit gänzlich anders gearteten Genom-Sequenzen stattgefunden hat.

Der letzte Teil des letzten Satzes ist besonders wichtig. Also die Feststellung einer ähnlichen oder identischen "Koppelung" zweier weiter voneinander entfernter Gen-Orte auf einem Chromosom bei verschiedenen Menschen (einer Population) erlaubt die Vermutung, daß hier ein erst vor wenigen tausend oder zehntausend Jahren selektiv bedeutsamer und vorteilhaft gewordener Genom-Abschnitt vorliegt.

In diesem Umstand liegt es auch begründet, daß (Schwarz-)Afrikaner in der Regel weniger "Koppelungs-Ungleichgewicht" im Genom vorliegen haben, als Nichtafrikaner. Während Nichtafrikaner "nur" (genetisch selektive) Abspaltungen vom afrikanischen "Stamm" darstellen, in denen sich jeweils aufgrund von Bevölkerungs-Engpässen und vieltausendjähriger geographischer Isolation neue "selektive Regime" im Genom etablieren konnten, behielten die Schwarzafrikaner in weiteren Bereichen des menschlichen Genoms "selektive Regime" bei, wie sie sich schon in den vielen zehntausenden von Jahren innerafrikanischer Humanevolution etabliert hatten. Auch erfuhren afrikanische Populationen offenbar/möglicherweise nicht so viele Bevölkerungs-Engpässe und geographische Isolation wie nichtafrikanische Populationen. (Denn sonst wäre das bei ihnen vorliegende Koppelungs-Ungleichgewicht doch vergleichbar mit dem der Außerafrikaner! -?) (Ist das richtig gesagt?)

Aus diesem Grund könnten wohl Schwarzafrikaner in der genetischen Forschung - sozusagen - derzeit als etwas benachteiligt angesehen werden. Denn die für ihre Körperfunktionen und psychischen Funktionen bedeutsamen Genom-Abschnitte sind aufgrund allgemein geringeren Koppelungs-Ungleichgewichtes etwas schwerer aufzufinden, als bei Nichtafrikanern. Denn längere Genom-Abschnitte mit ähnlichem Koppelungs-Ungleichgewicht sind leichter im "Datenmüll" des menschlichen Genoms zu finden, als kürzere Genom-Abschnitte mit einem solchen.

Nichtafrikaner hatten einfach "weniger Zeit", um das Koppelungs-Ungleichgewicht, das in ihrem Genom vorliegt, durch "Untereinander-Heiraten" und Vermischen der Genome (Genomabschnitte) miteinander wieder zu "verwischen". Ungleichgewichtige Koppelung heißt also, daß viele verschiedene Personen einer Population an einem jeweiligen Gen-Ort die gleiche Koppelung vorliegen haben. "Gleichgewichtige" Koppelung heißt, daß verschiedene Personen einer Population an diesen Gen-Orten keine (sehr) ähnliche Koppelung vorliegen haben. Koppelungs-Ungleichgewicht ist also ein Hinweis auf jüngstselektierte Gene, in denen sich Menschen und Populationen voneinander unterscheiden, und die für die Humanevolution in den letzten Jahrzehntausenden (erst) wichtig geworden sind.

Razib Khan geht die Erläuterung dieses Konzeptes noch ganz anders an - das kann man ja selbst lesen. Wahrscheinlich ist es in der Sache viel richtiger und präziser (?) als meine Herangehensweise. Aber vielleicht sind in meinen Überlegungen auch Komponenten enthalten, die sich bei Razib Khan nicht (oder zumindest nicht so klar und deutlich finden). - Aufzeigen meiner Dummheiten erwünscht.

Behinderte mit Kinderwagen

Den folgenden Brief hab ich vor einigen Tagen verschickt - bisher noch keine Antwort!

"Liebe Grüne Hochschulgruppe,

ich habe Euer Faltblatt 'Uniwahl 2007' mit großem Interesse gelesen. Ich möchte einen Verbesserungs-Vorschlag machen. Ihr schreibt: 'Es gibt immer noch baulichen Änderungsbedarf, um behinderten Studierenden ein selbständiges Studium ohne Hürden zu ermöglichen. Wir fordern eine barrierefreie Uni für alle!'

Da ich in letzter Zeit viel mit Kinderwagen an der Uni unterwegs war, ist mir bewußt geworden, wie stark man von einer 'behinderten-gerechten' Uni profitiert, bzw. profitieren WÜRDE. Man nutzt dann vieles mit Behinderten parallel - oder könnte es. Sollte das Eurer Forderung nicht kräftigen Nachdruck verleihen können? Schließlich wird dadurch ja auch Studierenden mit Kindern ein selbständiges Studium ohne Hürden ermöglicht.

Man empfindet es sowieso schon manchmal als 'beleidigend' (oder 'diskriminierend'???), wenn man 'überall' (wenn überhaupt) sieht, wie an Behinderte gedacht worden ist, wie aber kein Mensch dabei an Leute mit Kinderwagen gedacht zu haben scheint oder denkt. Jetzt ja auch wieder in Euerem Faltblatt. Könnte nicht neben jedem Rollstuhl-Hinweis-Schildchen auch ein Kinderwagen-Schildchen hängen? Nur als Beispiel. Nicht daß es an der Sache selbst viel ändern würde. Aber es ist einfach auch eine Frage von 'Atmosphäre' und ('institutioneller') Rücksicht, oder?

Da mir das eine Weile lang ziemlich aufgestoßen ist und ich das jetzt in Euerm Faltblatt wieder genauso erwähnt fand, wollte ich Euch das mal schreiben. Die Uni-Bibliothek hat eine schwierig zu überwindende Doppeltür. Und in die Mensa kann man zwar mit dem 'Behinderten'-Fahrstuhl einigermaßen problemlos hoch fahren, zum Runterfahren aber muß man sich den Fahrstuhl erst von einem Stock höher holen, was auch nur zügig gelingt, wenn der Fahrstuhl zufälligerweise frei ist. Und Kind und Kinderwagen sollen solang allein ein Stock tiefer vor der Fahrstuhl-Tür stehen bleiben?

Also. Vielen Dank in jedem Fall für Euer Engagement! Vielleicht künftig auch (noch mehr) für eine (atmosphärisch) kinderfreundliche Uni?

Mit Grüßen!"

Warum Archäologen auf Ochsenknochen schießen

Um herauszubekommen, wie eigentlich Pfeilverwundungen in menschlichen Knochen aussehen, haben britische Archäologen mit Feuerstein-Pfeilen auf Schweine- und Ochsenknochen geschossen.

"Gerade deren Schulterblätter taugen nämlich als guter Ersatz für menschliche Schädelknochen, raten Gerichtsmediziner. (...) Zwei wesentliche Merkmale gibt es, fanden die Forscher, an denen man eine Pfeilwunde erkennt: In so gut wie allen Fällen lassen die Steinspitzen, auch wenn sie herausgefallen waren, mikroskopisch kleine Splitter zurück. Und zweitens wölbt das eingedrungene Projektil die Knochen an der Austrittsstelle, zum Beispiel im Schädelinnern, nach außen. Es entsteht eine meist abgesplitterte, schräge Wundkante."
Künftig wird es Archäologen also leichter fallen, Pfeilverwundungen in menschlichen Knochen zu entdecken. Der ganze Bericht ist auf Wissenschaft-Online frei zugänglich - und schön zu lesen!

"Und der Zukunft zugewandt ..."

Auf meinem alten Blog hatte ich kurz über ein Experiment bei "Spektrum der Wissenschaft" berichtet. Dort wird darüber diskutiert, ob der Fortschritt in der Evolution und Menschheitsgeschichte nicht letztlich immer nur eine "Illusion" sei. Inzwischen sind nun einige höchst lesenswerte Leserbriefe zu dem dort vorgestellten Artikel von Eckart Voland eingegangen und veröffentlicht. Hier eine Auswahl derjenigen, die sich mit meinen Meinungen so ziemlich decken:

Anna Reeves aus London schreibt ziemlich harsch:
"Wenn man von so falschen Annahmen ausgeht wie der Autor dieses Artikels, dann muss man natürlich auch zu so falschen Schlüssen kommen.
Die biologische Evolution ist mit dem Hervorbringen von bewusstseinsfähigen Wesen zu Ende gegangen bzw. ist jetzt nicht mehr wichtig, und was nun begonnen hat, ist eine Evolution des Bewusstseins. Der Autor wird doch kaum abstreiten, dass er intelligenter ist als z.B. ein Neandertaler oder ein Affe. Aber nicht nur in Bezug auf pure Intelligenz haben wir uns weiterentwickelt, sondern auch in moralischer, emotionaler und spiritueller Hinsicht, und diese Entwicklung geht weiter.

Der Autor begeht auch den Fehler, zu versuchen, die Biologie dort anzuwenden, wo sie nicht angebracht ist. Psychologie ist eine höhere Stufe der Emergenz als Biologie. Man kann sie nicht auf die Biologie reduzieren. Die Methoden und Ergebnisse einer niedrigeren Ebene sind nicht auf die einer höheren anwendbar.

Ich würde dem Autor raten, das Buch von Ken Wilber, "Halbzeit der Evolution - Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewusstsein" zu lesen und dann den Artikel nicht zu veröffentlichen."
Ein Heinrich van Martens meint, daß (evolutionärer) Fortschritt "eine objektive Feststellung" ist. Einen Dr. Ekkard Brewig verstehe ich nicht ganz, stimme aber zu, daß es für die "Population Mensch" "eine Meßlatte" gäbe, "nämlich das Überleben in den gesellschaftlichen Bezügen".

Ein Manfred Gotthalmseder sagt Bedenkenswertes:
"Im Ursprung dient unser Gehirn nur einer einzigen Sache, nämlich der Voraussicht. Jede geplante Handlung basiert auf einer vorgestellten Zukunft. Und tatsächlich sind wir in Hinsicht auf unsere Fähigkeit, Zukunft abzuschätzen und planend zu handeln, heute wesentlich weiter als einst. Man denke nur, welche komplexen Pläne heute technisch umgesetzt werden können. Auch die nötige Organisation ist eine Erkenntnisleistung.

Da die noch nicht reale aber bereits vorgestellte Zukunft unser Verhalten bestimmt, und dieses wiederum auf die Zukunft wirkt, kann man auch sagen, dass unsere Freiheit mit unserer Vorstellungsfähigkeit wächst. Wir können uns zahlreichere Möglichkeiten erdenken mit Anforderungen umzugehen als je zuvor. Wenn wir heute schon wissen, dass uns in den kommenden Jahrzehnten ein Klimawandel droht, dann ist das nur dem Fortschritt, also unserer ständig wachsenden Voraussicht zu verdanken."
Andreas Schwald: "Fortschritt ist keine Illusion. Die Neuerungen in der Technik und die Änderungen im sozialen Leben sind sehr real." Dr. Wolfgang Vogt aus Köln sagt:
"In "The Great Chain of Being" lässt uns LOVEJOY erahnen, welche Weiterentwicklung unsere mentalen Aktivitäten in den Jahrhunderttausenden durch Vermehrung synaptischer Verschaltungen erlebt haben - denn physiko-chemisch unterscheiden sich unsere neuronalen Funktionen keineswegs von denen einfachster Lebewesen. Diese Entwicklung ist Fortschritt, keine Illusion. Mit KEN WILBER kann man statt von "Höherentwicklung" von hierarchischer Zunahme von Komplexität reden. Keineswegs geht die "Fortschrittsrhetorik ins Leere", wenn der selbstorganisierende Lebensprozess Komplexitätszunahme aufweist. Das Beispiel des Mäusegenoms trifft nicht, da die Zunahme sich auf die Vielfalt synaptischer Verschaltungen bezieht, die erst die Fülle mentaler Leistungen ermöglicht.
"Höherentwicklung" und "Fortschritt" dürfen nicht als semantische Tricks missbraucht werden, um Inhalte der Evolution zu desavouieren. (...) Eine Bewusstseinserweiterung auf breiter Basis als alleinige Chance zur Erhaltung allen Lebens auf dieser Erde würde ich als Fortschritt bezeichnen und denke keineswegs, dass sie der Evolution fremd wäre."
Somit kann man feststellen, daß die Mehrheit der bisher veröffentlichten Stellungnahmen sich GEGEN die von Eckart Voland vertretene These ausspricht. Man darf gespannt sein, ob und wieweit er die gegensätzliche Sicht noch in seinen Essay einarbeitet oder wie nun überhaupt mit diesen "Verbesserungsvorschlägen" umgegangen wird.

Mittwoch, 24. Januar 2007

Dunkle Haut ist früh, helle Haut ist später evoluiert

Humangenetiker Razib Khan versteht es gut, aktuelle Forschungsergebnisse auf den Punkt zu bringen, so auch bezüglich der menschlichen Hautfarbe, die ihn wohl nicht nur deshalb interessiert, weil er selbst "braunhäutiger", indisch-europäischer Rassemischling  ist. Denn die große Frage bleibt, wie sehen die genetischen Verhältnisse bezüglich Hautfarbe bei Rassemischlingen aus.

"Wir sind ein Volk" - Die Geschichte eines deutschen Rufes

Auf Werbe-Plakaten der "Bild"-Zeitung wurde im Januar 2007 mit den legendären Worten auf sich aufmerksam gemacht: "Wir sind ein Volk". Die "Bild"-Zeitung ist sich ja nie zu schade dafür, legendäres geschichtliches Geschehen auf ihr eigenes Niveau herunterzuziehen und damit in den Augen ernsthafter Menschen zu diskreditieren. Es handelte sich natürlich um den bekannten Demonstrationsruf aus dem Herbst 1989. Dabei wurde ein damals getragenes, inzwischen schon historisch gewordenes Demonstrations-Schild gezeigt. 

Abb. 1: "Wir sind ein Volk" - Transparent am Deutschen Historischen Museum Berlin (Zeughaus), fotografiert am 3.7.2013
Doch wir lassen uns von der "Bild"-Zeitung nichts diskreditieren, sondern dazu veranlassen, über diesen Ruf ein wenig ernsthafter zu recherchieren. Zwischenzeitlich (dies ergänzen wir im Jahr 2013) hat auch das "Deutsche Historische Museum" in Berlin im Zeughaus Unter den Linden dieses Plakat von 1989 als großes Fassaden-Transparent übernommen (Abb. 1 und 2). Es sicherlich ist es der passende Blickfang. Aus der ganzen Welt stehen Touristen davor und lassen sich die Bedeutung dieses Plakates erklären.
Abb. 2: "Wir sind ein Volk" - Transparent am Deutschen Historischen Museum Berlin (Zeughaus), fotografiert am 3.7.2013
Bei der Recherche im Jahr 2007 stießen wir auf einen detaillierten Bericht von Vanessa Fischer im Deutschlandradio (Dradio 2005) (1). Darüber, wann und wo die Worte "Wir sind ein Volk" das erste mal gerufen worden sind.
 
Offenbar sind sie während der Demonstrationszüge Anfang Oktober in Leipzig das erste mal gerufen worden. Und zwar, um gegenüber bedrohlichen NVA-Soldaten und Stasi-Mitarbeitern auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen, die zwischen Demonstranten und Bewaffneten bestehen. (Siehe im angeführten Bericht "Kapitel 2".)
 
Demnach wäre es der Leipziger Thomas Rudolph gewesen, der am 5. Oktober 1989 in Vorbesprechungen erstmals den Vorschlag zu diesem Schlagwort machte, das dann am 9. Oktober auf Flugblättern verteilt wurde. Dabei ließen die Vordenker der Demonstrations-Märsche schon zu diesem Zeitpunkt sich auch gern die weitere, mitschwingende Bedeutung gefallen, die sich auf die Einheit mit Westdeutschland bezog. (Das folgende sollte besser auf der Originalseite gelesen werden, da dort die Zitate farblich abgesetzt sind.)
"Wir sind ein Volk"
Die Geschichte eines deutschen Rufes
von Vanessa Fischer

Eine Recherche bei der Birthler-Behörde soll ergründen, wie und ab wann sich der Einheitsgedanke auf den Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989 manifestierte. Dabei spielt auch der Ruf "Deutschland einig Vaterland" eine wichtige Rolle. Wann und wo mischte sich zuerst in den Satz: "Wir sind das Volk" der Ruf: "Wir sind ein Volk"?

Das war weit mehr als der Austausch eines Wortes. Es signalisierte den Abschied von der Vorstellung einer reformierten, eigenständigen DDR und die Wende zum Beitritt zur Bundesrepublik. Ein Stimmungswandel, der vom Westen aus kräftig gefördert wurde.

Kapitel 1: Falsche Fährten

Statt "Wir sind das Volk" skandierten sie nun "Wir sind ein Volk".

Millionen aus Ost und West haben den Schlachtruf skandiert, der aus der Tiefe der Herzen kam: Wir sind ein Volk.

Längst waren die Rufe auf den Straßen von "Wir sind das Volk" in "Wir sind ein Volk" übergegangen.


"Wir sind ein Volk" - eine kleine Auswahl unzähliger Artikel und Veröffentlichungen zum Herbst 89. In den Tonarchiven ist der Ruf so dokumentiert:

Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!


Kein Zweifel auch an Ort und Zeitpunkt des Rufes.

Guido Knopp, Historiker: Dieser 9. Oktober von Leipzig war der Tag der Entscheidung. Von Einheit aber war noch nicht die Rede, denn zum allerersten Mal erklang der Ruf: "Wir sind ein Volk" am 20. November ebenfalls in Leipzig.

Die Abgeordnete Angelika Pfeiffer, CDU, im Bonner Bundestag: Seit September 1989 sprach ich zu den Demonstranten in Leipzig: Wir sind ein Volk.

"Wir sind ein Volk" - der Ruf, mit dem die DDR-Bürger ihren Willen zu Einheit manifestierten? Der Satz, der sich über die Grenzen Deutschlands hinweg in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt hat. Von "Wir sind das Volk" - wie es der Volkspolizei am 2. Oktober 1989 in Leipzig von den Demonstranten entgegenschallte - zu "Wir sind ein Volk" - dem Ruf nach Einheit.

Die Wende in der Wende: Eingeleitet durch den Austausch dreier Buchstaben: Aus "das" wird "ein". Viel zitiert, gelesen und gehört - aber: historisch abgesichert? Wie war das nun damals im Herbst '89 wirklich? Die Spurensuche verläuft nicht ganz so einfach und klar.

Das Archiv Bürgerbewegung in Leipzig, Monika Keller:

Also wir haben in unseren gesamten Archivbeständen recherchiert und konnten auch kein Transparent zuordnen, was datiert ist aus der Zeit Oktober/November 1989. Auch nicht als Sprechchor, auch nicht auf Mitschnitten von Montagsdemonstrationen oder Fernsehaufzeichnungen - es ist nicht zu finden gewesen.

Ähnlich die Antwort im Städtischen Museum in Leipzig. Nächste Nachfrage beim Zeitgeschichtlichen Forum. Prof. Bernd Lindner, Autor zahlreicher Bücher über den Herbst 1989, bei jeder Demonstration in Leipzig dabei:

Diese Losung "Wir sind ein Volk" - dafür gibt es meiner Kenntnis nach in Leipzig keinen Beleg, dass das gerufen wurde. Ich hab's nie rufen gehört.

Alles nur Einbildung? Verklärung der Erinnerung? Reiner Tetzner, Autor des Buches "Leipziger Ring / Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten", vermerkt unter dem Datum des 23. Oktober 89:

Dann stimmt er in den Ruf "Wir sind ein Volk" ein und singt mit uns "Stasi in die Volkswirtschaft".

Eine Quelle, auf die sich auch die Birthler-Behörde beruft. Aber jetzt, nach einem erneuten Blick in seine Original-Aufzeichnungen, muss Tetzner widerrufen:

Reiner Tetzner: Bei genauerer Betrachtung und Vergleich muss ich sagen, an diesem Tag, am 23. Oktober, das kann nicht gewesen sein, das muss ein Druckfehler sein.

"Wir sind ein Volk!". Die Ausbeute der Birthler-Behörde fällt nach einem Jahr Dringlichkeitsrecherche in der Zentrale sowie in den Außenstellen überraschend mager aus. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass sich bei den großen Demonstrationen allein in Leipzig an die 3.000 Stasihelfer unters Volk gemischt haben. Fleißig notierten sie die Texte der Losungen oder gaben sie in ein Diktiergerät. Sollte ausgerechnet der Ruf, der das Ende der DDR bedeutete, nicht erfasst sein?

Kapitel 2: Der erste Beleg

Leipzig, 9. Oktober. Für diesen Tag rechnen die Organisatoren der Montagsdemonstration mit dem Schlimmsten. Sie fürchten heftige Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. Ein Aufruf gegen Gewalt wird vorbereitet. Er richtet sich an beide Seiten: Demonstranten und Sicherheitskräfte. Der entscheidende Satz steht gesperrt geschrieben.

"Wir sind ein Volk!"
Und darunter:

"Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden."

Unterzeichner des Flugblattes: Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Menschenrechte und Arbeitsgruppe Umweltschutz.

Thomas Rudolph, Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, formuliert den Text. Vier Tage vorher, am Abend des 5. Oktober, legt er den Vertretern der Gruppen den Entwurf vor: "Wir sind ein Volk".

Thomas Rudolph: Das ist ein Satz ,der sich ganz normal ergab, weil ich deutlich machen wollte, dass diejenigen, die zwangsweise gerade beim Militär waren, jetzt in der Gefahr standen, gegen die Bevölkerung vorzugehen, letztlich auch auf der Seite der Demonstranten standen. Das wollte ich mit diesem Satz zum Ausdruck bringen.

Und der Satz ist nicht unumstritten. Oliver Kloss erinnert sich an die Sitzung:

Es gab das Problem: Kann man da rein schreiben "Wir sind ein Volk!" und sich derartig gemein machen mit den Sicherheitsorganen?
Für einige Mitglieder der Gruppen ist der Satz nur tragbar, weil man ihn eben auch anders lesen kann. So auch für Rainer Müller:

Deswegen hatten wir gesagt: Gut, wir können den Satz so stehen lassen - "Wir sind ein Volk!" und er wird in der einen Seite verstanden, von vielen, die auch auf der Straße sind. Zum anderen kann man ihn aber auch so schreiben, dass er sich nicht nur auf die Bevölkerung der DDR bezog.

Sondern auch auf die der Bundesrepublik. Zwar steht der Ruf nach Einheit nicht im Vordergrund dieses Appells, aber man kann ihn herauslesen. Die Doppelbedeutung ist gewünscht. Manches Mitglied der Oppositionsgruppen wünscht sich noch mehr.

Oliver Kloss: Da haben einige vertreten: Nun gut, wir können mit dem Satz leben, denn er möge ein Stichwort geben für später. Im Nachhinein muss man nun einfach feststellen, dass es so gar nicht funktioniert hat. Es ist nicht zum Stichwort geworden, was jemals gerufen wurde. Also weder aus Dresden, noch aus Leipzig sind mir solche Rufe bekannt.
Im Büro der Lukasgemeinde wird das ganze Wochenende auf eingeschleusten Maschinen aus dem Westen gedruckt. 20.000 Flugblätter werden am 9. Oktober verteilt. Der Appell wird in der Nikolaikirche verlesen und der Deutschen Presse Agentur zugeleitet.

Die Recherche führt nach Jena. Dort soll er das erste Mal öffentlich gerufen worden sein. Genau eine Woche nach der entscheidenden Demonstration in Leipzig, am 16. Oktober, gehen die Bürger in Jena zum ersten Mal auf die Straße. Joachim Kramer, heute katholischer Pfarrer in Suhl, ist dabei. Eine Woche später, so berichtet Kramer, tauchen vereinzelt Deutschland-Fahnen auf. Wo kamen die her, fragt sich Kramer?

Ich habe in Jena am 23. Oktober beobachtet, dass Menschen in der Demonstration mit Fahnen über den Ring gezogen sind, in denen das Emblem nicht mehr vorhanden war. Und ich habe dort selbst Rufe gehört - nicht "Wir sind das Volk!", "Wir bleiben hier!", sondern "Wir sind ein Volk!". Ich habe damals mit Gesprächspartnern den Kopf geschüttelt und habe gefragt: Wissen die, was die eigentlich hier sagen? Für mich war klar: Der Zaun war noch da. Woher also diese Gedanken kamen, war für mich unerklärlich. Und deshalb hat es sich auch so stark bei mir eingeprägt. (...) Gruppierungen innerhalb des Demonstrationszuges.

Kapitel 3: Die Kampagne

11. November 1989. Zwei Tage nach dem Mauerfall. Tausende von DDR-Bürgern strömen über die Grenze. Die "Bild"-Zeitung schreibt:

"Wir sind das Volk" rufen sie heute - "Wir sind ein Volk" rufen sie morgen!

Am Tag zuvor sitzen "Bild"-Chefredakteur Hans-Hermann Tietje und Herbert Kremp, Chefkorrespondent der "Welt" in Brüssel, in Hamburg zusammen. Sie besprechen, wie auf die Maueröffnung zu reagieren sei. Herbert Kremp, Autor des "Bild"-Kommentars:

Als bei den Montagsdemonstrationen der Ruf erklang "Wir sind das Volk!", war es für mich - bei meinen Auffassungen - selbstverständlich, dass ich sagte, das muss eigentlich heißen "Wir sind ein Volk."

Für ihn ist auch klar:

Die Wiedervereinigung wird kommen, das war damals, also am 11.11, also genau in dieser Novemberzeit, eigentlich noch gar nicht so ein Tenor der offiziellen Politik.

Sofort nach dem Mauerfall notiert Peter Radunski, Chef der Öffentlichkeitsarbeit der Bundes-CDU, in seiner Kladde: Thema Wiedervereinigung jetzt besetzen!

Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!

Radunski: Wir haben festgestellt, das war auch stark diskutiert worden im Bundesvorstand und Präsidium, dass eigentlich die Selbstbestimmung nicht das sein kann, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann.

Hinter den Kulissen stemmt die Bundes-CDU in der Woche vom 11. bis 17. November einen Aktionsplan. Es gilt, die Meinungsführerschaft zu übernehmen:

Radunski: Eine Sitzung war am 16. abends im Adenauerhaus, eine so genannte Kommunikationsrunde. Und bei dieser Kommunikationsrunde, das kann ich aus meinen Notizen deutlich sehen, ist gesagt worden: Kinder, wir machen ein Plakat "Wir sind ein Volk". Das heißt, in Weiterentwicklung des Slogans, der in der damaligen DDR skandiert wurde: "Wir sind das Volk".

Die Geburtsstunde des eigentlichen Slogans, der Kampagne "Wir sind ein Volk!". Die "Bild"-Zeitung weiß um ihre Durchschlagkraft. Herbert Kremp, Autor des "Bild"-Kommentars:

Wir hatten natürlich eine Multiplikationskraft, die war enorm, die lag natürlich weit über irgendeiner Plakataktion.

Die Öffentlichkeitsarbeit der CDU verfährt im November 1989 ebenfalls nach dieser Formel.

Radunski: Wissen Sie, 'ne gute Politik ist ja dann ein Dialog. Das eine hört man aus dem Volk, das andere gibt man ins Volk.

Am 13. November, auf der ersten Montagsdemonstration nach dem Mauerfall in Leipzig, beobachtet Matthias Karkuschke, Lehrling in der Berufsschule der Deutschen Reichsbahn:

An dem besagten 13.11. waren auch schon Stände von Westparteien, die halt ihre Plakate oder sonstiges Informationsmaterial feilboten, dabei.

Und weiter:

Also ich hab beobachtet, dass halt diese Sprechchöre nicht zentral gesteuert waren, sondern das sehr spontan von kleinen Gruppen ausging. Das war niemals so, dass das 100.000 gerufen haben. Die Stimmung am 13.11 war halt schon so, dass die Wiedervereinigung dort 'ne Rolle spielte und das da Leute einfach auch dabei waren, die genau in diese Richtung Dinge initiierten. Und wo dann auch gesagt wurde "Wir sind ein Volk!" oder "Wir sind das Volk!". Und diese Sprüche wechselten sich halt schon ab. Das ist in meiner Erinnerung so präsent, ich kann's halt definitiv auf den 13.11 sagen, weil die Stimmung 'ne komplett andere war.

Die Meinungen auf den Montagsdemonstrationen beginnen sich zu spalten. Die CDU schwört ihre Landesverbände auf die neue "Aktion zur Deutschlandpolitik" ein.

Radunski: Wir haben das nicht zentral gemacht, aber wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft. Und dabei sind sicher auch Junge-Unions-Leute nach den einzelnen Teilen der DDR gekommen und haben sicher da auch die Wandzeitung oder das Plakat "Wir sind ein Volk" hochgehalten.

Kapitel 4: Die Verbreitung

Aus einem schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle geht hervor:

Versand an die Kreisverbände:
Plakate "Wir sind ein Volk" - Erste Auflage 12.800 Stück.
Aufkleber "Wir sind ein Volk" - Erste Auflage: 100.000 Exemplare. Zweite Auflage: 300.000 Exemplare.


Von den Aufklebern gibt es verschiedene Varianten. In einer frühen bekennt sich die CDU noch nicht zu ihrer Autorenschaft. Erst später ist im Kleingedruckten die Bundesgeschäftsstelle zu lesen. Die Aufkleber sind trapezförmig in Andeutung an eine wehende Fahne. Auf schwarz-rot-goldenem Untergrund steht in Schreibschrift, blau: "Wir sind ein Volk". In welche Stimmung fällt der Aufkleber bei den DDR-Bürgern? Der Leipziger Rudolf Kompf ist am 18. November mit seiner Familie zum ersten Mal in Westberlin. Am Abend schlendert er über den Ku-Damm.

Kompf: Plötzlich hatten wir Kontakt mit jemandem, der dort Zettel verteilte. Wir haben uns also dann so einen Zettel genommen. Und es stellte sich heraus, dass das ein Autoaufkleber war. Und auf dem stand der Text, der uns dann so schwer berührt hat: "Wir sind e i n Volk". Und das war ein Schlag für uns, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Wir haben ja nie, auch nicht zu dem Zeitpunkt - das ganze war ja gerade mal eine Woche offen -, geglaubt, dass die DDR jemals zu Grunde gehen könnte. Und jetzt auf ein Mal dieser Text "Wir sind ein Volk". Und der Blitz war da - vielleicht ist das möglich.

Zwei Tage später, am 20 November, bei der Montagsdemonstration in Leipzig. Michael Peter ist wie jeden Montag wieder dabei:

Wir kamen aus der Grimmaischen Straße und da sind wir ganz langsam über die Straße rüber. Und es wurde gerufen... also "Keine Gewalt" auf jeden Fall und "Wir sind das Volk". Und plötzlich hörte ich "Wir sind ein Volk". Ich dachte zuerst, ich hab mich verhört. Aber es kam ja wieder: "Wir sind ein Volk. Und wir guckten uns an, waren erstaunt und erfreut, dass es eben aus der Masse kam und haben dann mitgerufen, auch in dem gleichen Rhythmus. Also "Wir sind das Volk", " Wir sind ein Volk" - da war auch der Rhythmus drin. Und das war, also das war ein sehr, sehr erhebendes Gefühl.

Klaus Landowsky, damals Generalsekretär der Berliner CDU, erinnert sich:

Der Satz hat die Leute erreicht. Und Journalisten haben das vernünftigerweise auch so geschrieben, kampagnenfähig den Satz haben wir gemacht.

"Wir sind ein Volk" wird zum Motto der "Allianz für Deutschland" im letzten Volkskammerwahlkampf. Von Mitte Januar 1990 an wird er in der DDR flächendeckend plakatiert. Am 18. März gewinnt die "Allianz für Deutschland", der Ost-Verbündete der CDU, die Wahlen. Rainer Müller, Mitunterzeichner des Appells vom 9. Oktober, dazu:

Auf den Wahlplakaten warb die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Lothar de Maizère mit dem Spruch. Und es war so dargestellt, dass es ein Ausspruch wäre, den Lothar de Maizère getätigt hätte. Und er war wohl auch als Zitat gekennzeichnet. Deswegen dachten wir: Das können wir so nicht stehen lassen, da müssen mal öffentlich auftreten dafür, dass es nicht die Sache der CDU war, dieses Zitat in die Welt zu setzen und diesen Spruch "Wir sind ein Volk", sondern das wir damals am 9. Oktober auf unserem Flugblatt sagen "Wir sind ein Volk!"

Kapitel 5: Und immer noch Fragen

"Wir sind ein Volk." In der Sammlung des Deutschen Historischen Museum in Berlin findet sich ein Schmuckstück von Transparent. In Form der heutigen Landesgrenzen, auf schwarz-rot-goldenem Hintergrund, steht der Slogan in weißer Schrift. Berlin ist besonders hervorgehoben. Datiert ist das Transparent auf "Herbst 89". Aber wann und wo tauchte es auf? Die Mitarbeiter des Deutschen Historischen Museums teilten mit, sie würden es auch gerne genauer wissen.

Der 9. November kann es nicht sein. Auch wenn es im zweiten Band der von Etienne Francois und Hagen Schulze herausgegebenen aufwendigen Reihe "Deutsche Erinnerungsorte" so vermerkt ist. Der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr ist verärgert über das, was er nach dem Druck des Buches entdecken muss:

Dort habe ich einen Beitrag drin "Wir sind das Volk", hatte Bildvorschläge gemacht und dann erscheint auf Seite 261 eine Abbildung "Wir sind ein Volk", so ein Transparent, das ein Demonstrant hoch zeigt, und die Bildunterschrift lautet: "Demonstration in Berlin am 9. November 1989". Also am 9. November hat keine Demonstration in Berlin stattgefunden. Und schon gar nicht unter einem solchen Slogan. Diese Abbildungsbeigabe ist falsch.
Eine weitere Abbildung des Transparents mit der Aufschrift "Wir sind eine Volk" findet sich in dem 1989 beim Forum Verlag erschienen Buch "Jetzt oder nie. Demokratie". Der Leipziger Fotograf Matthias Hoch nimmt es am 13. November 89 auf - nach der Montagsdemonstration:

Und da habe ich dieses Plakat "Wir sind ein Volk" abgestellt am Neuen Rathaus gesehen, ich hab's aber während der Demonstration nicht bewusst wahrgenommen.

Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!

Zwar nicht zu sehen, aber zu hören ist der Satz in der langen ARD-Dokumentation, die die Ereignisse vom Herbst '89 Revue passieren lässt. Eine Koproduktion des Mitteldeutschen und des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel "Im Sog der Einheit". Erstausstrahlung 1994. Wiederum Leipzig, hier am 18. Dezember. Eine kurze Sequenz von etwa 10 Sekunden zeigt die Masse der Demonstranten. Dann eine kleine Gruppe, die eine DDR-Fahne zerreißt. Der Ruf ist zu hören. Doch Ton und Bild sind nicht synchron. Wo sind die Rufer? Wer sind die Rufer?

Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!

Die Frage stellt sich auch bei diesem O-Ton. Viele Medien bedienen sich des Tondokuments. Ein zweites war auch nach intensiver Recherche nicht aufzufinden. Der verwendete Ruf stammt aus dem Archiv des Deutschlandfunks. Ort und Datum des historischen O-Tonschnipsels konnten nicht mehr rekonstruiert werden. Als eine mögliche Quelle wird ein Fußballspiel des FC Bayern in Nürnberg im Herbst 89 genannt.

"Wir sind ein Volk" - hier und da wurde er gerufen. Als Massenruf aber ist er von Anfang Oktober bis in den Dezember 89 hinein in der DDR nicht zu hören. Dafür aber:

Deutschland einig Vaterland

"Deutschland einig Vaterland" - die es rufen, sie zitieren einen offiziellen DDR-Text. Sie können sich auf die Nationalhymne der DDR berufen, auf den Text von Johannes R. Becher. 25 Jahre lang wird der Text gesungen. Dann ist es 15 Jahre lang eine Hymne ohne Text.

1974 ändert die DDR ihre Verfassung: Aus Artikel acht wird der Auftrag der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gestrichen. Ebenso jeder weitere Hinweis auf die deutsche Nation. Der Hymnen-Text ist nicht mehr zeitgemäß:

Auferstanden aus Ruinen
und der Zukunft zugewandt (…)


In den Musikbüchern sind fortan nur noch die Noten abgedruckt. Bei offiziellen Anlässen wird die Hymne nur noch gesummt.

Deutschland einig Vaterland

Ab dem 13. November 1989 wird "Deutschland, einig Vaterland" immer lauter skandiert. Ist "Wir sind ein Volk" nicht griffiger? Bernd Lindner, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig:

Wenn er griffiger gewesen wäre für die Leute hier, dann hätten sie ihn auch gerufen. Dass sie ihn nicht gerufen haben, zeigt ja, dass es nicht ihre Losung gewesen wäre.

"Wir sind ein Volk!" - die Formel, in der alles zusammenrinnt. Der Spruch der Medien und Politiker.

Hartmut Zwahr: Wie Dinge sich ausbreiten, wie Gerüchte sich ausbreiten, wie ein Slogan sich ausbreitet, wie eine solche Sache ... im Grunde, dass sie so passförmig ist, dass sie so hineinpasst in dieses große Ereignis, das den Status quo in Europa stürzt.

"Bild am Sonntag", vom 3.10.2004, zum Tag der Deutschen Einheit:

Vor 15 Jahren fiel die Mauer zwischen Ost und West. In Berlin schlossen sich Menschen aus beiden Hälften der Stadt unter dem Brandenburger Tor in die Arme. Unter den Augen der ganzen Welt jubelten sie immer wieder den einen Satz: "Wir sind ein Volk."
Ein eindrucksvolles, legendäres Geschehen. Um so mehr zeitlicher Abstand dazu gewonnen wird, um so legendärer wird es. Am 4. Juli 2013 wurde dieser Blogartikel aktualisiert, insbesondere in der Bebilderung, da er auffallenderweise schon seit langer Zeit zu den "beliebtesten" dieses Blogs gehört.
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  1. Fischer, Vanessa: "Wir sind ein Volk". Die Geschichte eines deutschen Rufes. Dradio, 29.9.2005