Dienstag, 5. Dezember 2023

Waldweide im Böhmischen Paradies - Schafe im Neolithikum, Schweine in der Bronzezeit

Waldweide in der Vorgeschichte
- Sediment-DNA - Neue Erkenntnismöglichkeiten in der Archäogenetik
- Hatten die Indogermanen eine besondere Vorliebe für Schweinefleisch?
- Im "Böhmischen Paradies" südlich des Sudentenlandes 

Innerhalb von Dörfern, Weilern oder Siedlungsstellen, sowie deren unmittelbarer Umgebung können - über die Jahrtausende hinweg - mehrheitlich andere Tiere gehalten worden sein als in weiter entfernt gelegenen Triften (DWB) und Wäldern. Letztere sind über die Jahrtausende hinweg oft vor allem auch als "Waldweide" (Wiki) genutzt worden. So zum Beispiel noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein zur "Eichelmast" (Wiki). 

Abb. 1: Der Felsüberhang im Böhmischen Paradies, genannt "Großes Mammut" ("Velký Mamuťák" [VM]) im Jahr 2017 - Seit Jahrtausenden gern aufgesucht von Tier und Mensch (aus: Resg2021)

Ein eindrucksvolles Beispiel von Überresten solcher Eichelmast stellen beispielsweise die "Schwanheimer Eichen" (Wiki) im Südwesten von Frankfurt am Main dar. Naturdenkmäler wie die "Schwanheimer Eichen" gibt es in vielen Teilen Deutschlands und Europas. Dem Autor dieser Zeilen sind sie erstmals in Schwanheim bewußter begegnet.

Sediment-DNA

Mit welchen Tieren die Wälder in früheren Jahrtausenden "beweidet" wurden, kann gegebenenfalls mit der Erforschung von Sediment-DNA (Wiki) geklärt werden. Sie ist eines der neuesten Forschungsfelder im Bereich der Archäogenetik. Sie weist Überschneidungen auf mit der ebenfalls sehr neuen Erforschung von "Umwelt-DNA" (Wiki). Diese Forschungsrichtungen sind alle ermöglicht worden durch die enorme Beschleunigung und kostengünstige Vereinfachung der Sequenzierung von DNA-Material in den letzten 25 Jahren. 

Die Erforschung vieler Bodenschichten unter einem Felsüberhang in Nordböhmen, im abgelegenen sogenannten "Böhmischen Paradies" (Wiki) inmitten der "Pschichraser Felsen" (Wiki) verdeutlicht die Erkenntnismöglichkeiten dieses neuen Forschungsbereiches (1).*) Es handelt sich um einen Felsüberhang namens "Velký Mamuťák" (VM) zu Deutsch "Großes Mammut" (s.a. Fb2023) (s. Abb. 1) (1):

VM sticht hervor aufgrund seiner günstigen Erhaltungsbedingungen für organische Materialien und aufgrund seiner tiefreichenden archäologischen Schichtenfolge, die alle bedeutenden Epochen umfassen vom Mesolithikum bis zur Gegenwart.
VM is remarkable for its exceptional organic preservation, and deep occupation layers spanning all significant periods from the Mesolithic to the present.

Der Felsübergang liegt im dichten Wald und Naturschutzpark eineinhalb Kilometer nördlich des Dorfes Branžež (Wiki) (GMaps), wie gesagt inmitten der "Pschichraser Felsen" (s.a. Yt2023), 16 Kilometer südlich der Burg Waldstein (Wiki), 60 Kilometer südlich von Zittau im Landkreis Görlitz in Sachsen (Abb. 2).

Abb. 2: Von Zittau über Reichenberg und Liebenau nach Turnau und südlich davon ins "Böhmische Paradies" mit seinem vielen Wald und seinen Felsformationen - Im Osten liegt Schlesien (Grafschaf Glatz) und Österreichisch-Schlesien, im Westen liegt das Egerland

In derselben Region gibt es viele sehenswerte Burgruinen und Felsen, deshalb der Name "Böhmisches Paradies". 

Waldweide mit Ziegen in der Bandkeramik

Es ist wichtig, sich bewußt zu machen, daß Böhmen zur Kernregion der frühneolithischen Bandkeramik-Kultur gehörte (Abb. 3) (2). Die Kultur der Bandkeramik scheint nun eine solche Waldweide - zumindest in so vergleichsweise abgelegenen Gebieten wie im Böhmischen Paradies - anders genutzt zu haben als die späteren Gesellschaften und Kulturen der Bronzezeit. Wir lesen als Forschungsergebnis (1):

Unsere Ergebnisse bei Velký Mamuťák (VM) unterstreichen, daß die vollständige Verbreitung der ganzen Artenbandbreite von Viehhaltung in Wäldern erst im späten Neolithikum statthatte, während man sich bei den anfänglichen Management-Praktiken auf Schafe (Ovis) konzentrierten. Vor allem stellen wir bezüglich der vorherrschenden Arten (mit denen die Waldweide genutzt wurde), einen allmählichen Übergang fest von Schafen zu Schweinen bis zur Späten Bronzezeit. Dies korreliert mit der mittelholozänen Transformation der Waldstruktur und kann möglicherweise die Folge dieser Verschiebung der Waldsukzessionsmuster sein, des Nährstoffmangels und der Habitatkonnektivität.
Our results at VM support the understanding that the full expansion of herding to forested ecoregions did not take place until the Late Neolithic, with initial management practices focused on sheep (Ovis). Importantly, we identify a gradual change in dominant species from sheep to pigs (Sus) by the Late Bronze Age. This correlates with the mid-Holocene transformation of forest structure and can potentially be the consequence of this shift in forest succession patterns, nutrient depletion, and habitat connectivity.

Mit dem letzteren Satz könnte auf Überweidung verwiesen sein. 

Der beigegebenen Grafik (Abb. 4) ist zu entnehmen, daß die Forscher Hinweise auf Ziegenhaltung an dem Felsüberhang schon ab 5.000 v. Ztr., also in der Hochzeit der Bandkeramik, finden:

Ziege oder möglicherweise Steinbock (Capra sp.) erscheinen als einziges Taxon in der frühneolithischen Schicht um 5.000 v. Ztr..
Goat or possibly ibex (Capra sp.) appears as the only taxon in the Early Neolithic layer (∼7.0 kyr BP).

Die Bandkeramiker also, die den Urwald in Mitteleuropa rodeten, zogen offenbar vor allem mit Ziegen in die Wälder.

Abb. 3: Dichte frühneolithische, bandkeramische Besiedlung Nordböhmens und des mittleren Sudetenlandes (aus: "The Neolithic Site of Hrdlovka", 2019) (Resg)

Die Forscher stellen für die Waldweide folgende vorherrschende Tierarten in Nordböhmen je nach Zeitepoche fest (siehe Abbildung 4):

  1. Bandkeramik (Frühneolithikum): Ziegen
  2. Mittelneolithikum: Unterbrechung der Waldweide (haben wieder mehr Jäger und Sammler in der Region gelebt???)
  3. frühes Spätneolithikum: Schafe, Rinder, Ziegen, Schweine - Bewuchs: Ahorn (Acer) und Ulme (Ulmus)
  4. spätes Späthneolithikum: Schafe, Schweine, Rinder - Bewuchs: Taubnessel (Lamium) 

Eine Verringerung der Siedlungsdichte im Mittelneolithikum ist für die Region Nordböhmens auch anderweitig festgestellt worden (2). 

Hat es im übrigen während der Endphase des Spätneolithikums eine Überweidung und Übernutzung der Wälder vor allem durch Schafe gegeben, so daß an dem genannten Felsüberhang schließlich vorwiegend Taubnesseln gewachsen sind (die für Schafe sogar giftig sind, wie es im Text heißt)? 

Waldweide mit Schweinen in der Bronzezeit

Wir folgen weiter den Angaben der Abbildung 4:

  1. Frühbronzezeit: Schweine, Schafe, Rinder, sowie auch Ziegen und Menschen - Bewuchs: Weizen (Triticum) (!), Fichten (Picea), Ulmen, Eichen und anderes
  2. Mittelbronzezeit: Schweine, Schafe, Rinder - Bewuchs: Buche (Fagus), Ahorn (Acer)
  3. Spätbronzezeit: nur Schweine

Womöglich ist erkennbar, daß solche Felsen vor allem im Frühneolithikum besonders vielfältig genutzt wurden. Schnurkeramiker haben auch in Oberfranken beispielsweise den abgelegeneren "Hohlen Fels" genutzt, in seiner Nähe gesiedelt und am Felsen auch wilde Pferde bestattet. 

Der Umbruch vom Spätneolithikum zur Bronzezeit geht - wie in vielen Beiträgen hier auf dem Blog behandelt - einher mit dem genetischen und kulturellen Umbruch der Ausbreitung der Indogermanen über ganz Europa hinweg, also mit den genannten Schnurkeramikern und Glockenbecherleuten. 

Von nun an tritt das Schwein bis zur Bronzezeit immer mehr in den Vordergrund was Waldweide betrifft. So daß sich die Frage anschließt: Haben die Indogermanen etwa eine besondere Vorliebe für Schweinefleisch gehabt? Für "Borstenvieh und Schweinespeck"?

Abb. 4: Tier-DNA im Sediment unter dem Felsüberhang über die Jahrtausende hinweg (aus 1)

Daß in der Bronzezeit Schweine in der Waldweide eine viel größere Rolle spielen als im Neolithikum, könnte ja womöglich ein grundlegenderes Kennzeichen der Epoche der europäischen Bronzezeit sein.

Die Bedeutung der Schweinehaltung tritt ja auch noch - zumindest für die Region um Hallstatt in Oberösterreich - während der Eisenzeit hervor, als über das Dachstein-Gebirge hinweg Schweinefleisch samt Salz in größeren Mengen Richtung Süden gehandelt wurde (s. Fb2023). Womöglich war Schweinehaltung die kostengünstigere Variante der Tierhaltung bei den steigenden Bevölkerungszahlen in ganz Europa in der Spätbronzezeit.

Abb. 5: Der Felsübergang liegt inmitten der "Pschichraser Felsen" (Wiki), im Wald eineinhalb Kilometer nördlich des Dorfes Branžež (Wiki) (GMaps)

Man darf gespannt sein, ob sich diese ersten Ergebnisse einer ganz neuen Forschungsrichtung künftig bestätigen werden, und ob solche Forschungsergebnisse insgesamt künftig zu einem deutlich detaillierten Bild der Wirtschaftsweise der jeweiligen Gesellschaft beitragen werden.

Wo liegt das "Böhmische Paradies"?

Abschließend noch einiges zur räumlichen und zeitgeschichtlichen Einordnung der Region des "Böhmischen Paradieses": Von Zittau in Sachsen nach Turnau in Böhmen sind es 55 Kilometer. Auf dem Weg fährt man durch den einstigen deutsch-österreichischen Gerichtsbezirk Reichenberg (Wiki). Dessen Bevölkerung bestand bis 1945 zu 91 % aus Deutschen. 

Hauptort des Bezirkes war Reichenberg (Wiki). Auf dem genannten Weg liegt auch die bis 1945 deutsche Stadt Liebenau (Wiki). Sie gehörte ebenfalls zum Bezirk Reichenberg. Südlich von Liebenau verlief ab 1938 - nach dem Godesberger Abkommen - die Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Resttschechien, bzw. ein halbes Jahr später die Grenze zum "Protektorat Böhmen und Mähren". Südlich dieser Grenze lebten zwar seit dem Mittelalter auch Deutsche. Auch die dortigen mittelalterlichen Städte, Dörfer und Burgen sind oft von Deutschen gegründet und bewohnt worden. Zumindest in der Neuzeit (insbesondere seit den Hussitenkriegen) bildeten sie aber in diesen Regionen nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit. 

Jedenfalls wenige Kilometer südlich dieser Grenze liegt - grob auf dem Weg Richtung Prag - das "Böhmische Paradies" (Wiki), und zwar südlich eines Hauptortes dieser Region, nämlich Turnau in Böhmen. Über die deutsche Besiedlung des Bezirkes Reichenau als mittlerer Teil des Sudentenlandes lesen wir (Wiki):

Die Gegend um Reichenberg gewann im 13. Jahrhundert an Bedeutung, als deutsche Siedler das bislang kaum bewohnte Gebiet erschlossen und die Wälder im Bereich des alten Handelsweges vom Zentrum Böhmens zur Ostsee rodeten. Die älteste belegte Siedlung der Gegend neben der Johanniterkommende von Böhmisch Aicha ist Friedland, von wo aus die Fürsten, denen unter anderem auch Reichenberg unterstand, jahrhundertelang herrschten.

Friedland liegt 25 Kilometer nördlich von Reichenberg, Böhmisch Aicha liegt acht Kilometer westlich von Liebenau. Friedland ist durch den Feldherrn Wallenstein bekannt geworden, der zum "Herzog von Friedland" ernannt worden war, weil sich die Jesuiten so sehr freuten über seine militärischen Erfolge bei der Rekatholisierung Deutschlands.

Durch diese Gegend zogen im Jahr 1866 auch die preußischen Truppen in die Schlacht von Königgrätz 70 Kilometer weiter südlich. 

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*) Schon im Mai dieses Jahres hatten wir uns mit einer Studie aus dieser neuen Forschungsrichtung beschäftigt (2). Wir hatten im Entwurf einen Blogartikel verfaßt, der den Titel tragen sollte "Auferstanden aus dem Dreck". Aber ob die Erkenntnisse der von uns behandelten Studie schon ausreichend tragfähig waren, wagten wir nicht zu beurteilen. Deshalb ist dieser Blogartikel bis heute unveröffentlicht geblieben.

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  1. Early Pastoralism in Central European Forests: Insights from Ancient Environmental Genomics. Giulia Zampirolo, Luke Earl Holman, Rikai Sawafuji, Michaela Ptáková, Lenka Kovaiková, Petrída, Petr Pokorný, Mikkel Winther Pedersen and Matthew Walls. bioRxiv. posted 3 December 2023, http://biorxiv.org/content/early/2023/12/03/2023.12.01.569562?ct=ct.
  2. Pere Gelabert, Susanna Sawyer, Anders Bergström, Ashot Margaryan, Thomas C. Collin, Tengiz Meshveliani, Anna Belfer-Cohen, David Lordkipanidze, Nino Jakeli, Zinovi Matskevich, Guy Bar-Oz, Daniel M. Fernandes, Olivia Cheronet, Kadir T. Özdoğan, Victoria Oberreiter, Robin N.M. Feeney, Mareike C. Stahlschmidt, Pontus Skoglund, Ron Pinhasi, Genome-scale sequencing and analysis of human, wolf, and bison DNA from 25,000-year-old sediment, Current Biology, Volume 31, Issue 16, 2021, Pages 3564-3574.e9, https://doi.org/10.1016/j.cub.2021.06.023. (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982221008186)
  3. Rolandstouren: Felsenstadt Příhrazy im Böhmischen Paradies in Tschechien / Příhrazské skály / Český ráj ( Yt2023)

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