Dienstag, 12. September 2023

"Auf feuchter Wiese der Charente"

"Das Nächste Beste" - Der Zug der Stare als geschichtsphilosophisches Gleichnis

In dem häuslichen Bücherschrank findet sich - eher zufällig - das Hölderlin-Jahrbuch des Jahres 1998/99. Darin blätternd fällt einem ein Aufsatz ins Auge mit dem Titel (1): 

"Wie ein Hund - Zum „mythischen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‘Das Nächste Beste’".

Die ersten drei Worte spielen auf die Zeile eines jener Gedichtentwürfe Hölderlins an, die einen immer schon in besonderem Maße angesprochen haben, nämlich des Gedichtentwurfes "Vom Abgrund nämlich". Es handelt sich um die Zeilen:

               Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn
In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich.
Erst unlängst war uns der Gedanke gekommen, daß gerade auch dieser Gedichtentwurf inhaltlich zu der geschichtsphilosophischen Thematik "Griechenland - Hesperien" paßt, die hier auf dem Blog inzwischen mehrfach erörtert worden ist.

Abb. 1: Ein Schwarm Stare auf der Nordseeinsel Juist, September 2010 (Wiki) (Fotograf "4028mdk09") 

In seiner Gesamtheit lautet der Gedichtentwurf folgendermaßen:

Vom Abgrund nämlich haben
Wir angefangen und gegangen
Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgernis,
Denn sinnlicher sind Menschen
In dem Brand
Der Wüste
Lichttrunken und der Tiergeist ruhet
Mit ihnen. Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn
In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich.
Der Schöpfer.
Frankfurt aber, nach der Gestalt, die
Abdruck ist der Natur zu reden
Des Menschen nämlich, ist der Nabel
Dieser Erde, diese Zeit auch
Ist Zeit, und deutschen Schmelzes.
Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang
Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Odem aber wehet
Um die Löcher des Felses. Allda bin ich
Alles miteinander. Wunderbar
Aber über Quellen beuget schlank
Ein Nußbaum und ... sich. Beere, wie Korall
Hängen an dem Strauche über Röhren von Holz,
Aus denen
Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, befestigter Gesang von Blumen als
Neue Bildung aus der Stadt, wo
Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt
Zitronengeruch auf und das Öl, aus der Provence, und es haben diese
Dankbarkeit mir die Gasgognischen Lande
Gegeben. Gezähmet aber, noch zu sehen, und genährt hat mich
Die Rappierlust und des Festtags gebraten Fleisch
Der Tisch und braune Trauben, braune
... und mich leset o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall an dem
Das Licht sich prüfet wenn ... Deutschland

Wenn solche Worte fallen, möchte man selbst ganz verstummen. Hier hat sich jemand bis an die Grenze des Sagbaren gewagt, womöglich noch darüber hinaus. 

Dieser Gedichtentwurf ist voller Bezüge, und zwar unterschiedlichster Art. Natur und Geschichte sind auf verschiedenerlei Beziehungsebenen miteinander in Verbindung gebracht. 

Auf die Erwähnung von Frankreich folgt gleich in der übernächsten Zeile die Erwähnung von Frankfurt und zum Schluß von Deutschland. Das Wechselspiel zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Süd und Nord innerhalb Europas, zwischen Gascogne und Hessen, der Gedanke von diesem Wechselspiel bildet allzu deutlich einen Hintergrund zu diesem Gedichtentwurf.

Eine der wichtigsten Zeile zur inhaltlichen Deutung desselben scheint uns dann aber - unter den Vorzeichen der Griechenland-Hesperien-Erörterungen - die Zeile:

"Denn sinnlicher sind Menschen / In dem Brand / der Wüste". 

Damit scheint uns doch - einmal erneut - der "südliche Mensch" angesprochen zu sein. Er lebt - nicht zuletzt - auch in Bordeaux, in der Gascogne. Er lebt nahe an Afrika und seiner Wüste. Aber der "Tiergeist", der zugleich das Feuer vom Himmel ist ("lichttrunken"), der schläft mit ihm, mit dem Menschen des Südens. So wie Cerebus schläft, der Hund, der den Eingang der Unterwelt bewacht, so daß die Toten sich ungehindert unter die Lebenden mischen können und umgekehrt (1). Die Nacht herrscht, die Dunkelheit.

Der Tiergeist ist eingeschlafen in jenem Abgrund, der sich mit dem Untergang der antiken Mittelmeerkultur und mit dem Heraufkommen des Abendlandes aufgetan hat. Die Welt der Wirklichkeit ist zu Träumen der Nacht geworden.

Und nun haben "wir" - die Menschen des Abendlandes - aus dem Abgrund, der sich in dieser Dunkelheit, in dieser Nacht aufgetan hat, "angefangen" und "sind gegangen / dem Leuen gleich". 

So dieses geschichtsphilosophische Bild, bzw. eine erste Ausdeutung dieser Zeilen des Gedichtentwurfes.

Der Leu, der Löwe steht hier, soweit uns das derzeit - vom Rhythmus des Gedichtes und seines Gedankenganges her - verständlich ist, für den hesperischen Menschen, den nüchternen Menschen. Er geht nüchtern und ernüchtert - in Zweifeln und in Ärgernis - seinen Gang. Es ist der mittelalterliche Mensch und jener Mensch, der mit Restbeständen von "Mittelalter" noch zu Zeiten von Hölderlin ringt.

Von diesem nüchternen, ernüchterten Menschen erwartet Hölderlin - aktuell, für die Zeit seines Lebens und seines Dichtens - keine gar zu umwälzenden Dinge. Hölderlin aber harrt einem umwälzenden gesellschaftlichen Geschehen entgegen, einer Umwälzung aller Dinge. Er verkündet es in seinen Dichtungen,. Er möchte den Weg bahnen für diese Umwälzung. Er möchte die Menschen vorbereiten - auf diese Umwälzung.

Abb. 2: Die Verbreitung des Gemeinen Stars (Wiki) - Dunkle Farben einheimisch, helle Farben eingeführt; grün Heimat, gelb Sommergast, blau Wintergast

Zu seiner eigenen Zeit erwartet Hölderlin von den sinnlichen Menschen des Südens - trotz ihres Schlafes - noch eher etwas. Sie haben ja auch zu seiner Zeit - in Revolution und Gegenrevolution - heftig für umwälzende Dinge gekämpft in der Weltgeschichte.

Hölderlin glaubt offenbar auch, den Menschen des Südens selbst erneut und leichter entflammen zu können - durch seine Dichtung, durch seine Gedanken. Und womöglich hat er auch damit recht behalten: Der Marxismus, der - über Hegel - in letzter Instanz auf ihn, auf Hölderlin, zurück geht, sollte recht bald umgehen "in der Hitze" in den Städten, in denen wohnen Menschen, in Frankreich. Noch auf länger hin sollten sich viele weltgeschichtlichen Umwälzungen in Frankreich früher und wenigstens zum Teil auch heftiger vollziehen als in Deutschland. Man könnte in diesem Zusammenhang an die Pariser Commune des Jahres 1871 denken.

Zu dem Zeitpunkt als wir in unseren Vorüberlegungen an diesem Punkt angelangt waren, stießen wir auf den Eingangssatz des eingangs genannten Aufsatzes. Er lautet (1):

Hölderlins poetischer Spätstil nach der Rückkehr aus Frankreich, der Inhalt des "Homburger Folioheftes", wirft nicht nur in editorischer Hinsicht gewaltige Probleme auf, unklar ist auch, wie der bis heute schockierende Tonfall dieser Verse angemessen zu beschreiben wäre.

Die hier gewählte Charakterisierung "schockierender Tonfall" erscheint uns selbst schon eine angemessene Beschreibung zu sein. Deshalb, immerhin, eine Hölderlin womöglich sehr gerecht werdende Fragestellung: Wie kann das Aufwühlende dieser Verse, wie kann die ihnen zugrunde liegende tiefere Wahrheit gedeutet, umschrieben werden, verständlich gemacht werden? 

Auf die Thematik des Homburger Folienheftes insgesamt waren wir erstmals 2019 gestoßen (DVHS2019). Seither ist uns klar, daß wir uns mit diesem Thema nach und nach noch ausführlicher beschäftigen müssen.

Die Abfolge der Gedichte in diesem Folioheft, steht, so fanden wir 2019 schon sehr interessant, womöglich in einem sinnvollen Zusammenhang miteinander. Vielleicht wollte Hölderlin nämlich - so war zu erfahren - sie in genau dieser Reihenfolge auch veröffentlichen (Wiki). 

Im Dezember 1801 war Hölderlin nach Bordeaux aufgebrochen, Ende Mai 1802 war er von dort nach Nürtingen zurück gekehrt. Von 1804 bis zum 11. September 1806 lebte er dann auf Einladung seines Freundes Isaac von Sinclair in Bad Homburg. Isaac von Sinclair bestritt auch die Kosten seiner Anstellung an der dortigen Bibliothek aus seinem eigenen Einkommen. Am Ende dieser Zeit stand die Anklage wegen Hochverrat, die Anklage, von Sinclair, Hölderlin und andere hätten Pläne verfolgt, den Herzog von Württemberg zu ermorden ...

"Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn / In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten / In denen wohnen Menschen / In Frankreich."

Wenn noch heute der Tonfall solcher Verse als "schockierend" wahrgenommen werden kann, dann wird man sich womöglich auch nicht wundern, wenn Strafverfolungsbehörden damaliger Zeit unruhig wurden, wenn sie einen Dichter im stillen Kämmerlein solche und andere Worte dichten sahen und ihn befreundet sahen mit einem politisch, revolutionär umtriebigen Minister eines kleines deutschen Duodez-Fürstentums. Da mag es niemanden mehr wundern, daß Hölderlin in jenen Tagen begann, den Verrückten zu spielen und hinaus in die Gassen von Bad Homburg rief: "Ich will kein Jakobiner sein. Ich bin ein getreuer Untertan meines lieben Herzogs." 

Schlafende Hunde waren nämlich schnell geweckt. Mitunter sogar im schläfrigen Deutschland ...

Etwa am Anfang des dritten Drittels dieser Gedichte und Gedichtentwürfe des Homburger Folienheftes, die fast allesamt berühmt sind, finden sich die Entwürfe "Das Nächste Beste" und "Vom Abgrund nämlich". Mit diesen beiden Gedichtentwürfen vor allem ist der genannte Aufsatz befaßt. Er sieht sie in einem gedanklichen Zusammenhang miteinander stehen (1).

Abb. 3: "Auf feuchter Wiese der Charante" - Hier die Charente bei Rochefort, schon fünfzehn Kilometer vor ihrer Mündung in den Atlantischen Ozean (Wiki) (Fotograf: Jean-Pierre Bazard, 2014)

Immer erneut ist es ein poetisches Bild, wenn sich die Stare im Herbst sammeln. Wenn sie schließlich in den Süden, ans Mittelmeer ziehen. In großen Schwärmen fliegen sie zum Himmel auf. Und der Schwarm bricht immer wieder nach einer neuen Richtung aus, so daß ganz ungewöhnliche Formationen entstehen. Ein umtriebiges, schnelles Völkchen, diese Stare. 

Ebenso poetisch dürfte das Bild sein, wenn sich die Stare im März und April in vielen Teilen des Mittelmeerraumes und des südlichen Frankreich sammeln, um wieder zurück in den Norden ziehen. 

Die Stare als Mittler zwischen Süden und Norden

In diesem Bild vom Zug der Stare hat Hölderlin einen tiefen philosophischen, geschichtsphilosophischen Gedanken gefaßt, er hat diesem Gedanken durch dieses Bild eine ganz besondere Färbung, Tönung und Stimmung gegeben. Die Natur und die Geschichte verschmelzen in diesem Bild in eines. 

Das Sammeln der Stare und der Zug der Stare - im Herbst nach Süden und im Frühjahr nach Norden - ist ihm ein Bild für den engen Zusammenhang, für das enge Zusammenspiel, für die "Verwandtschaft", die "Dialektik" zwischen der Geisteswelt und dem kulturellen und revolutionären Wollen des "südlichen Menschen" in Südeuropa und der Geisteswelt und dem kulturellen und revolutionären Wollen des nördlichen Menschen in Mittel- und Nordeuropa. Es ist ihm ein Bild für: 

"Das Nächste Beste". 

Denn es handelt sich um zwei Geisteswelten, die geographisch nah beieinander liegen und jede der Geisteswelten bildet - womöglich - für die jeweils andere "Das Nächste Beste". Die Dialektik zwischen beiden Großräumen hat die Geistesgeschichte Europas in den letzten eineinhalb Jahrtausenden jedenfalls wieder und wieder bestimmt. 

Das "germanische" Element, in dem der Protestantismus seine stärksten Wurzeln hat, und das "romanische" Element, in dem der Katholizismus viel länger überleben konnte. Damit sollen nur zwei der wesentlichsten Geistestendenzen des letzten Halbjahrtausends heraus gegriffen sein.

Das Nächste ist das Beste, das ist der Grundgedanke. Die romanische Welt ist das Beste, was der germanischen Welt geschehen konnte, die germanische Welt ist das Beste, was der romanischen Welt geschehen konnte. Obwohl der protestantische Mensch des Nordens letztlich im Protest gegen den Süden zu diesem protestantischen Menschen wurde, in der Abgrenzung zum Süden, spürt Hölderlin doch zugleich auch die Nähe zwischen beiden Welten. Er spürt, daß das Nächste für den jeweils anderen zugleich das Beste sein könnte. Obwohl der protestantische, deutsche Mensch den revolutionären Gedanken Frankreichs von 1789 eher ins Geistige verschoben wissen wollte (im Sinne der damaligen umwälzenden deutschen Philosophie), war doch das revolutionäre Geschehen in Frankreich für das damalige Deutschland "Das Nächste Beste".

Doch kehren wir zunächst noch einmal zum Gemeinen Star zurück. Auf Wikipedia lesen wir über ihn die trockenen Angaben (Wiki):

Der Großteil der Stare Europas überwintert im Mittelmeerraum und in Nordwestafrika sowie im atlantischen Westeuropa. (...) Anfang September beginnt der eigentliche Wegzug, er erreicht seinen Höhepunkt Mitte Oktober und ist Ende November weitgehend abgeschlossen. Der Heimzug beginnt im Februar und ist in Mitteleuropa meist Ende März, im Norden Europas erst Anfang Mai beendet.

97,5 % aller Stare in der Schweiz und in Süddeutschland, sowie 92 % aller Stare östlich der Elbe und östlich des Böhmerwaldes wandern in den Süden. Nur je 2,5 % bis 8 % der Stare bleiben während des Winters in den jeweils genannten Gegenden vor Ort. 

Abb. 4: Eine Bauernfähre über die Charente bei Roffit, Südwestfrankreich, gemalt von L-E May, 1866, Museum der Schönen Künste Angoulême (Wiki)

Welch ein schönes Bild, dieses Wandern des menschlichen Geistes hinüber und herüber über die Jahrhunderte hinweg als Staren-Zug zu beschreiben und zu charakterisieren. Dieser Staren-Zug rückt weit entfernte Gegenden nah zueinander, beläßt ihnen dabei jedoch zugleich ihre jeweilige Eigenart und ihren Abstand zueinander. 

Der Weg von Bordeaux nach Paris

Im Mai 1802 war Hölderlin mit dem "schönsten Zeugnis" von seinem dortigen deutschen Brotgeber, in dessen Haus er nur wenige Monate als Hauslehrer gelebt hatte, geschieden. Bordeaux gehört zum Departement Gironde. Und 1802 waren die Erinnerungen noch frisch daran, daß aus den Gegenden des Departments Gironde vor allem die Girondisten (Wiki) stammten, jene einflußreiche Gruppierung von Abgeordneten des revolutionären Frankreich, die aus dem südlichen und westlichen Frankreich stammten, und die zwischen 1791 und 1793 - also erst zehn Jahre zuvor - die Revolution in Frankreich voran getrieben hatten. Auf dem englischen Wikipedia ist über sie zu lesen (Wiki):

Sie setzten sich für das Ende der Monarchie ein, widersetzten sich dann aber der rasanten Dynamik der Revolution. Das führte zu einem Konflikt mit den radikaleren Montagnards. Sie dominierten die Bewegung bis zu ihrem Sturz im Aufstand vom 31. Mai bis 2. Juni 1793. Dieser führte zur Vorherrschaft der Montagnards und zur Säuberung und schließlich zur Massenhinrichtung der Girondisten. Dieses Ereignis steht am Beginn der Schreckensherrschaft.

Man kann vielleicht - in einem sicherlich sehr unzulänglichen Vergleich - sagen, daß die Girondisten so etwas wie die gemäßigten "Mehrheitssozialdemokraten" der russischen Revolution von 1917 und der deutschen Revolution von 1918 waren. Auch die Sozialdemokraten befürworteten die Abdankung des Zaren von Rußland und der Kaiser von Deutschland und Österreich. Aber auch die Sozialdemokraten wurden schließlich in Rußland von den "Kommunisten" "überrannt" und ersetzt, bzw. standen in Deutschland in Gefahr, von den Kommunisten ersetzt zu werden. (Vor letzterem bewahrte sie nur das Bündnis mit einer stärkeren demokratischen Mitte und mit den politisch rechtsstehenden Freikorps. Das Überrennen der Sozialdemokraten gelang östlich der Elbe erst nach einem verheerenden Zweiten Weltkrieg.)

In Deutschland hat ein großer Teil der fortschrittlicher denkenden Kreise nach 1789 sicherlich mit den Girondisten sympathisiert. Hölderlin kam in Bordeaux also - von diesem Blickwinkel her gesehen - in eine "Heimat seines Geistes", nämlich in die Heimat des Geistes der Revolution von 1789 bis 1791. 

Von Bordeaux nach Paris sind es 550 Kilometer. Über 75 Kilometer hinweg wird dieser Weg von dem romantischen kleinen Flüßchen Charente (Wiki) begleitet, grob gesagt zwischen Angoulême und Civray (s. Abb. 5). Die Charente fließt durch viele anmutige kleinere und größere Ortschaften. An ihrem Ufer reihen sich entlang: romantische Mühlen, Schlösser und stille Parks (WikiCom).

Der direkte Fußweg nach Paris überquert diesen Fluß (nach Google Maps) erstmals bei Châteauneuf-sur-Charente, einige Kilometer flußabwärts von Angoulême. Er führt dann flußaufwärts an der Charente entlang. Sie schlängelt immer wieder wechselnd einmal rechts, einmal links des Weges parallel und muß deshalb mehrere male überquert werden. So bei Montignac-Charente, bei Mansle, bei Verteuil-sur-Charente und zum letzten mal bei Civray. Dort schließlich läßt der Wanderer den Fluß hinter sich. Der Wanderer hat das Ziel "Paris" vor Augen. Auf diesem Weg sind - sicherlich - auch viele "Girondisten" zuvor schon gen Paris gewandert oder gefahren.

Abb. 5: Die Charente (Wiki)

Über mehr als 300 Kilometer hinweg fließt die Charente - insgesamt gesehen - von Osten nach Westen durch Frankreich und mündet unterhalb von Rochefort in den Atlantischen Ozean. Etwa 130 Kilometer weiter im Norden der Charente findet sich einer ihrer Parallelflüsse, nämlich die Vendée (Wiki). Und mit ihr fällt erneut ein geschichtsträchtiger Name. Dieses Flüßchen hat jenem Departement Vendée seinen Namen gegeben, in dem es nach Beginn der oben erwähnten Schreckensherrschaft 1793 bis 1796 die schwersten gegenrevolutionären Aufstände innerhalb Frankreichs gegeben hat, in denen die Menschen am Heftigsten im Für und Wider des "patriotischen Zweifels" lebten (so der Ausdruck von Hölderlin dazu).

Diese mußten somit bei den fortschrittlicher denkenden Menschen in Frankreich und Deutschland ebenfalls viel Anteilnahme finden. Man kann sagen, daß der Weg von Bordeaux nach Paris zwischen Châteauneuf-sur-Charente und Poitiers "in der Nähe" des Aufstandsgebietes der Vendée viele Gedanken in Hölderlin aufwühlen konnte. So jedenfalls hat es Hölderlin selbst ja dargestellt.

Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr, im November 1802, hat Hölderlin ja von Nürtingen aus an seinen Freund Böhlendorf jenen Brief geschrieben, den wir schon einmal zitiert hatten (s. Stgen2023), der aber - wie uns jetzt klar wird - viel mehr noch von den Eindrücken seiner Rückreise geprägt gewesen sein wird als von den Eindrücken seiner Hinreise (auf die wir diese Ausführungen vor allem bezogen hatten). Mögen also diese Worte aus dem Blickwinkel der Erfahrungen der Rückreise noch einmal gelesen werden:

"Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn, die Hirten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind.
Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels, und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt und seinen Durst, zu wissen, erfüllt.
Das Athletische des südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter. ..."

So die Kernsätze dieser Ausführungen.

Es kommt einem beim Lesen der Gedanke, daß Hölderlin seinen Freund Isaac von Sinclair, durch den er 1806 in die Hochverrats-Anklage hinein geraten sollte, mit solchen, soeben beschrieben südlichen Menschen, Männern identifiziert haben könnte, da ihn doch auch an ihm - sozusagen - "das Wilde, Kriegerische, rein Männliche" interessiert haben wird, ungefähr all das, was er in seinem Roman "Hyperion" dem Freund des Hyperion, dem Alabanda, zugeschrieben hat. 

Diesem kriegerischen, revolutionären und gegenrevolutionären Menschen traute Hölderlin für seine Gegenwart und Zukunft noch mancherlei zu. Ihn dachte er mit, wenn er die Worte formulierte 

"und sind gegangen / dem Leuen gleich / in Zweifel und in Ärgernis".

Am 10. Mai 1802 hatte sich Hölderlin also in Bordeaux den Paß nach Paris ausstellen lassen.

"Auf feuchter Wiese der Charente"

Er war dann jenen Staren nachgezogen, die schon im März und April dem "Nordost" entgegen gezogen waren, der gemeinsamen Heimat entgegen. In seiner Dichtung "Das Nächste Beste" spricht Hölderlin von den Staren, die im März und April gen Norden ziehen:

... Sie spüren nämlich die Heimat,
Wenn
Auf feuchter Wiese der Charente ....

Und ihnen machet wacker
Scharfwehend die Augen der Nordost, fliegen sie auf,



           der Katten Land
Und des Württembergers
Kornebene,

Nur Bruchteile dieses Gedichtes sind fertig gestellt worden, bzw. sind erhalten. Vieles bleibt offen, vieles ungesagt. Doch jeder spürt, daß auch schon in diesen Bruchteilen so viel enthalten ist und noch so viel mehr "zwischen" den Zeilen steht.

"Der Katten Land" - das ist das Land rund um Frankfurt am Main und rund um Homburg vor der Höhe. Dort wird diese Dichtung selbst entstanden sein. Frankfurt am Main nennt Hölderlin in dem eingangs angeführten Gedichtentwurf den "Nabel der Welt". Er ist nicht nur der Ort seiner Liebe zu Diotima, er ist auch der Ort seiner philosophischen Gespräche mit Sinclair und Hegel. Und sowohl Sinclair wie Hegel ebenso wie Hölderlin - wie später Heinrich Heine oder Karl Marx - waren sich bewußt, daß die Philosophie, die man hier untereinander erörterte, revolutionäres Potential enthielt, daß sie Gedanken enthielt, die zur Tat aufforderten, zur Tat entflammten. Dieses revolutionäre Potential sollte sich dann ja auch entfalten, als der philosophische Kreis um den Nachfolger Hegels, rund um Eduard Gans - unter anderem Heinrich Heine, unter anderem Karl Marx - ab 1831 begann, die Philosophie Hegels positivistisch und materialistisch umzudeuten ...

Damit konnte sie dann noch mehr "wie ein Hund umgeh'n" ....

Schlüsselstellung in der Philosophiegeschichte um 1795

Welches revolutionäre Potential in dem damaligen Philosophieren enthalten war, das ist erst durch den deutschen Philosophen Dieter Henrich voll entfaltet und heraus gearbeitet worden. Dazu lesen wir (2, S. 5f):

Forschungen der vergangenen Jahre, besonders die von Dieter Henrich eingeleiteten Studien zur Rolle Hölderlins im Idealismus (...) zeigen, (...) daß er geradezu eine Schlüsselstellung in der Philosophiegeschichte um 1795 einnimmt. 

Es mag Sinn machen, auch noch einen Blick zu werfen in die höchst aufschlußreiche Dissertation der Autorin jenes Aufsatzes, der Auslöser für diesen Blogartikel geworden ist (2). Im ersten Kapitel derselben behandelt sie den interessanten Gedanken, daß das philosophische Nachdenken Hölderlins schließlich - wie dasjenige Schillers - zu dem Ergebnis kam, daß ihre Zeit noch nicht reif war für einen abschließenden großen philosophischen Wurf. Dieser sei erst von künftigen Zeitaltern zu erwarten. 

Und daß die gültigsten Aussagen in ihrer Zeit nicht - wie von Schelling und Hegel versucht - in ein philosophisches System gebracht werden konnten, das dem Gesamtgeschehen in diesem Universum gerecht würde, sondern nur in poetische Form gekleidet werden könnten, und zwar in eine neue Form des Mythos. Das arbeitet die Autorin aufwühlend heraus. 

Das zweite Kapitel behandelt dann die sogenannte "intellektuale Anschauung", einen zentralen Begriff in dem Philosophieren Hölderlins, aber auch in dem Philosophieren Schellings. Dabei handelt es sich um jenes Gotterleben, das der zweiten Seite der Wirklichkeit - über das Erleben des Wahren, Guten und Schönen - zugewandt ist - nach der Deutung der Philosophie des 20. Jahrhunderts (M. Ludendorff).

René Descartes - Verkörperung von "Das Nächste Beste"

[Ergänzung 21.2.24] Es muß in den hier erörterten Zusammenhängen ohne Frage darauf Bezug genommen werden, daß Hölderlins Weg zwischen Poitiers und Paris auch zumindest in die Nähe der Kleinstadt La Haye-en-Touraine kam, der Geburtsstadt des großen René Descartes (1596-1650) (Wiki) (heute deshalb "Descartes" benannt), also nach dem Denken Hölderlins in die Nähe des Geburtsortes des modernen, neuzeitlichen Denkens überhaupt (Wiki):

In seinen Geschichtsvorlesungen lobt Georg Wilhelm Friedrich Hegel Descartes ausdrücklich für seine philosophische Innovationskraft: Bei Descartes fange das neuzeitliche Denken überhaupt erst an, seine Wirkung könne nicht breit genug dargestellt werden. (...) In Descartes’ archimedischem Denkpunkt des „cogito ergo sum“ sieht Hegel einen Beleg dafür, daß Denken und Sein eine „unzertrennliche Einheit“ bilden (vgl. Parmenides), weil an diesem Punkt Verschiedenheit und Identität zusammenfallen. Hegel übernimmt dieses „Anfangen im reinen Denken“ für seine idealistische Systematik.

Hegel hat die Unterscheidung zwischen Sein und Ur-Teilung nie so scharf unternommen wie sein Freund Hölderlin. Aber auch für Hölderlin ist dieses "cogito, ergo sum", die er eben als die "Ur-Teilung" benennt (in seinem Text "Urteil und Sein"), ohne Frage der Beginn des neuzeitlichen Denkens, das über Umwege (also dialektisch) zur Wahrheit führe, der Beginn des von ihm benannten Ganges "dem Leuen gleich in Zweifel und Ärgernis" (siehe oben). Wir lesen (4):

Auch in seinen philosophischen Schriften und in dem Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ bezog sich Hölderlin auf diese „allumfassende Gottheit“. (...) Diese Einheit sei in der Neuzeit verlorengegangen; der Verantwortliche für den Sündenfall ist für Hölderlin René Descartes, der eine Teilung der Welt in Subjekt und Objekt, in eine res cogitans und in eine res extensa vornahm. Dadurch wurde die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Reflexion vertrieb den Menschen aus dem paradiesischen „Urzustand“ und setzte ihn dem Dressurakt der Rationalisierung aus, der für die Unterdrückung der Triebe, der Emotionen, der Phantasie und der Träume verantwortlich ist (...): „Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne." (Zitat Hyperion)

Dieser Umstand war ohne Frage mitgedacht, als Hölderlin die Stare - als Verkündiger des Weltgeistes - von den feuchten Wiese der Charente her Richtung Deutschland fliegen ließ, ...

Und Eck um Ecke
Das Liebere gewahrend,
Denn immer halten die sich genau an das Nächste,
Sehn sie die heiligen Wälder und die Flamme, blütenduftend, ...

Weil es, unter anderem René Descartes war, der - in der Touraine geboren - in Paris, in den Niederlanden, in Prag, in Ulm, in England und in Kopenhagen lernte und lehrte. René Descartes ist womöglich gar die deutlichste Verkörperung von "Das Nächste Beste".


/ Im Entwurf: 17.7.2023 /

___________

Anmerkung: Wir beziehen uns in diesem Blogartikel auf Ausführungen von Annette Hornbacher. Diese hat Philosophie, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Tübingen studiert. 1993 hat sie promoviert über "Friedrich Hölderlins poetisch-mythische Kritik der Aufklärungsphilosophie". Dieses Buch enthält ebenfalls viele wertvolle philosophische Gedanken. Hornbacher hat danach eine sehr wechselhafte akademische Laufbahn angetreten, sich bewegend zwischen Philosophie, Völkerkunde und Dramaturgie. 2003 wurde sie auf eine Professur für Völkerkunde in Heidelberg berufen. Heute forscht sie über tantrisches Gedankengut und Praktiken im südostasiatischen Raum (!). 2019 hielt sie in diesem Zusammenhang - im Rahmen des "Studium generale" in Heidelberg - den Vortrag "Immaterielles Kulturerbe und seine Problematik" (Yt). Ob sie auf ihrem akademischen Lebensweg das Philosophieren und Dichten Hölderlins wirklich so weit hinter sich gelassen hat wie es dem Äußeren nach scheint? 

___________

  1. Hornbacher, Annette: Wie ein Hund. Zum „mythischen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‘Das Nächste Beste’. 222-246. In: Hölderlin Jahrbuch 1998-1999.
  2. Hornbacher, Annette: Die Blume des Mundes. Zu Hölderlins poetisch-poetologischem Sprachdenken. Königshausen, Würzburg 1995 [Diss. Uni. Tübingen 1993] (GB)
  3. Hornbacher, Annette: ‘Eines zu seyn mit allem, was lebt...’ Hölderlins intellectuale Anschauung. 24-47. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung (Hrsg.: Valérie Lawitschka). Tübingen
  4. Halmer, Nikolaus: „Eines zu sein mit Allem, was lebt“ (ORF2020)

2 Kommentare:

  1. Danke für die ausführlichen und durchdachten Beiträge

    AntwortenLöschen
  2. Selbst automatisierte Kommentare treffen manchmal das Wahre (siehe voriger Kommentar ;-) )

    Heute sei der Beitrag ergänzt um dem Abschnitt

    Der Geburtsort des neuzeitlichen Denkens - In der Touraine

    [Ergänzung 21.2.24] Es darf in den hier erörterten Zusammenhängen gerne auch daran erinnert werden, daß Hölderlins Weg zwischen Poitiers und Paris auch zumindest in die Nähe der Kleinstadt La Haye-en-Touraine kam, der Geburtsstadt des großen René Descartes (1596-1650) (Wiki) (heute deshalb "Decartes" benannt) (Wiki):

    >>In seinen Geschichtsvorlesungen lobt Georg Wilhelm Friedrich Hegel Descartes ausdrücklich für seine philosophische Innovationskraft: Bei Descartes fange das neuzeitliche Denken überhaupt erst an, seine Wirkung könne nicht breit genug dargestellt werden. (...) In Descartes’ archimedischem Denkpunkt des „cogito ergo sum“ sieht Hegel einen Beleg dafür, daß Denken und Sein eine „unzertrennliche Einheit“ bilden (vgl. Parmenides), weil an diesem Punkt Verschiedenheit und Identität zusammenfallen. Hegel übernimmt dieses „Anfangen im reinen Denken“ für seine idealistische Systematik.<<

    Hegel hat die Unterscheidung zwischen Sein und Ur-Teilung nie so scharf unternommen wie sein Freund Hölderlin. Aber auch für Hölderlin ist dieses "cogito, ergo sum", die er eben als die "Ur-Teilung" benennt (in seinem Text "Urteil und Sein"), ohne Frage der Beginn des neuzeitlichen Denkens, das über Umwege (also dialektisch) zur Wahrheit führe, der Beginn des von ihm benannten Ganges "dem Leuen gleich in Zweifel und Ärgernis". Wir lesen (4):

    >>Auch in seinen philosophischen Schriften und in dem Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ bezog sich Hölderlin auf diese „allumfassende Gottheit“. (...) Diese Einheit sei in der Neuzeit verlorengegangen; der Verantwortliche für den Sündenfall ist für Hölderlin René Descartes, der eine Teilung der Welt in Subjekt und Objekt, in eine res cogitans und in eine res extensa vornahm. Dadurch wurde die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Reflexion vertrieb den Menschen aus dem paradiesischen „Urzustand“ und setzte ihn dem Dressurakt der Rationalisierung aus, der für die Unterdrückung der Triebe, der Emotionen, der Phantasie und der Träume verantwortlich ist (...): „Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne." (Zitat Hyperion)<<

    Dieser Umstand war ohne Frage mitgedacht, als Hölderlin die Stare - als Verkündiger des Weltgeistes - von den feuchten Wiese der Charente her Richtung Deutschland fliegen ließ.

    AntwortenLöschen