Samstag, 22. Juli 2023

"500 Jahre früher als erwartet" - Die Indogermanen an der Unteren Donau

4.100 v. Ztr. - Fürsten der Chwalynsk-Kultur erobern mit ihren Heeren die Untere Donau, ihre Krieger vermischen sich zu 50 % mit den einheimischen Bauern

An der Unteren Donau im heutigen Rumänien und Bulgarien gab es die bedeutende mittelneolithische Gumelniţa-Kultur (4.600 bis 4.250 v. Ztr.) (Wiki). Sie bestand zeitgleich zur ebenfalls großartigen Cucuteni-Tripolje-Kultur im Osten der Karpaten und war aus derselben anatolisch-neolithischen Völkergruppe hervor gegangen (Abb. 1a). Sie wies eine hohe Siedlungsdichte auf.

Abb. 1: Unterer Donau-Raum 4.500 bis 3.500 v. Ztr. - a) Vorherrschen der anatolisch-neolithischen Herkunft (aber schon vereinzelt Steppengenetik!), b) Die Steppengenetik kommt massiv ab 4.100 v. Ztr., c) Die Indogermanen vermischen sich auch mit Karpaten-Jäger-Sammlern 

Sie ging aber viele hundert Jahre früher unter als die Cucuteni-Tripolje-Kultur östlich der Karpaten. Eine der Großsiedlungen der Gumelniţa-Kultur war der Siedlungshügel Magură Gorgana bei Pietrele (Wiki) in Rumänien (4550-4250 v. Ztr.) am Nordufer der Unteren Donau. Dieser Siedlungshügel liegt 230 Kilometer nordwestlich von Warna und 50 Kilometer südlich von Bukarest (GMaps). Seit 2002 wird er von deutschen Archäologen rund um Svend Hansen (Berlin) ergraben (DaInst2020).

4.500 v. Ztr. - Ein dünner Schleier indogermanischer Ausbreitung donauaufwärts

Eine gerade neu erschienene archäogenetische Studie zeigt auf, daß sich vereinzelte Angehörige dieser Kultur schon früh mit Angehörigen der Indogermanen der Chwalynsk-Kultur von der Mittleren Wolga vermischt haben (Abb 1a), ein Geschehen, das schon in früheren Beiträgen hier auf dem Blog Thema war (z.B. Stgen2021Stgen2022). Sozusagen ein erster dünner Schleier von indogermanischer Ausbreitung ab 4.700 v. Ztr. bis in die Donau-Region von Ungarn hinein.

4.100 v. Ztr. - Die Indogermanen kommen massiv ins Donau-Delta

Die grundlegendere Neuerkenntnis dieser Studie ist, daß die der Gumelniţa-Kultur ab 4.100 v. nachfolgende Cernodova-Kultur (4100 bis 3.200 v. Ztr.) (Wiki) von Menschen getragen wurde, die vergleichsweise einheitlich mehr oder weniger als 50 % indogermanische Steppengenetik aufgewiesen haben (1) (Abb. 1b). Es sind insbesondere Skelette des Fundortes Kartal (4150-3400 v. Ztr.) im Donau-Delta am nördlichen Rand der vormaligen Gumelniţa-Kultur untersucht worden. Dieser gehörte zur Cernodova-Kultur. Die deutschen Archäogenetiker aus Leipzig schreiben (1):

Ein Hauptergebnis unserer Studie legt einen frühen Kontakt und eine Vermischung zwischen kupferzeitlichen Bauern-Gruppen des südöstlichen Europa mit spätneolithischen Gruppen aus der Steppenzone der heutigen südlichen Ukraine nahe, beginnend vermutlich ab der Mitte des fünften Jahrtausends v. Ztr., als sich die Siedlungsdichte weiter nach Norden verlagerte und die Region der Unteren Donau in Verbindung kam mit der Steppenregion an der Küste und mit Gruppen der Cucuteni-Tripolje-Kultur in der Waldsteppe. 
A principal finding from our study indicates early contact and admixture between CA farming groups from SEE and Eneolithic groups from the steppe zone in today’s southern Ukraine, possibly starting in the middle of the fifth millennium BC when settlement densities shifted further north, connecting the lower Danube region with the coastal steppe and Cucuteni–Trypillia groups of the forest–steppe.

In diesen neuen Sequenzierungen von Kartal, die auf die Zeit nach 4.100 v. Ztr. weisen, wird also eine zweite, deutlich massivere Einwanderungs-Welle von indogermanischen Steppen-Gruppen sichtbar. Weiter heißt es (1):

Während des vierten Jahrtausend v. Ztr. kam es in der nordwestlichen pontischen Raum zu verstärktem Kontakt mit spätneolithischen Gruppen der Steppe, während diese wiederum auch Kontakt mit Gruppen im Nordkaukasus wie der Maikop-Kultur hatten, was sich alles in den hier vorgelegten Genom-Daten widerspiegelt.
During the fourth millennium BC, the northwestern Pontic region experienced intensified contact with Steppe Eneolithic groups, while these in turn also had contact with groups in the North Caucasus, such as Maykop, all of which are mirrored by the genomic data presented here.

Diese Erkenntnis wirft natürlich auch einen neuen Blick auf jenen Eroberungszug, jene Militärinvasion der Maikop-Kultur um 3.500 v. Ztr. über das gesamte Gebiet der Cucuteni-Tripolje-Kultur hinweg, wie sie letztes Jahr von dem moldawischen Archäologen Valentin Dergachev jüngst herausgearbeitet worden war (Studgen2022). Diese war also - von dem Geschehen im Donau-Delta her gesehen - kein besonders "frühes", sondern schon ein vergleichsweise "spätes" Eroberung-Geschehen. Diesem war jedenfalls schon die vergleichsweise massive Eroberung der Unteren Donau-Region durch Angehörige, bzw. Nachkommen der Chwalynsk-Kultur voraus gegangen.

Nach den Daten, die bis heute vorliegen, war also die Einmischung indogermanischer Steppengenetik um 4.100 v. Ztr. innerhalb der Cucuteni-Tripolje-Kultur noch deutlich geringer. Die Cucuteni-Tripolje-Kultur begann in jener Zeit auch eine zweite Blütezeit, während es an der Unteren Donau schon zu viel umwälzenderen kulturellen und genetischen Umbrüchen gekommen ist.

Karpaten-Jäger-Sammler als Verbündete der Indogermanen?

Ein weiteres Ergebnis dieser neuen archäogenetischen Studie der Forscher rund Ringbauer, Stockhammer, Svend Hansen, Johannes Krause und Wolfgang Haak (Penske et al 2023) ist, daß in der mittelneolilthischen Siedlung Magură Gorgana bei Pietrele in Ausnahmefällen auch Menschen lebten (hier ein Individuum, das "PIE060" benannt wird), die neben der sonst für diese Region für das Mittelneolithikum typischen und gut bekannten anatolisch-neolithischen genetischen Herkunft um die 35 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft aufwiesen (1) (s. Abb. 1a). 

Man möchte annehmen, sie stammten von den Karpaten-Jäger-Sammlern ab, die ja zwischen Böhmen und Griechenland über viele Jahrtausende an den Ethnogenesen zahlreicher Völker und Kulturen dieser Region Anteil hatten, da sie sich offenbar in den Höhenlagen der Karpaten über lange Zeiträume hinweg unvermischt erhalten haben. Es könnte sich unserer Meinung nach um dieselbe Herkunftsgruppe handeln, die ursprünglich als "Körös-Jäger-Sammler" bezeichnet worden war (s. z.B. Stgen2021, Stgen2022). Die Forscher schreiben (1):

Die Herkunftsmodellierung (...) unterstützt ein Zwei-Wege-Modell (Abb. 3d ) mit südosteuropäisch-neolithischer Herkunft (SEE N) (ca. 65 %) und Jäger-Sammler-Genetik vom Eisernen Tor oder KO1 (osteuropäische Jäger-Sammler-Genetik von Kosteniki) (ca. 35 %) als besten Annäherungen. (...) Was darauf hindeutet, daß PIE060 aus einer Gemeinschaft außerhalb von Pietrele stammte, die kürzlich Kontakt mit Jäger-Sammlern hatte. Tatsächlich wurde von Individuen mit ähnlich hohen Anteilen an Jäger-Sammler-Abstammung auch aus nahegelegenen Orten wie Malak Preslavets (ca. 70 km) und Dzhulyunitsa (ca. 140 km) berichtet.
Ancestry modelling with qpAdm supports a two-way model (Fig. 3d) with SEE N (around 65%) and Iron Gates HG or KO1 (around 35%) as the best proxies. Using DATES33 to determine the time of admixture between SEE N and Iron Gates HG as a local HG ancestry, we obtained an admixture estimate of 16.3 ± 13.4 generations (Z = 1.213), which corresponds to around 81–832 years before the mean 14C date of PIE060, when a generation time of 28 years is assumed34. A flat decay curve (Extended Data Fig. 3a) supports the interpretation of a recent admixture date, which suggests that PIE060 came from a community outside Pietrele with recent contact with HGs. Indeed, individuals with similarly high amounts of HG ancestry have been reported from nearby sites in Malak Preslavets (around 70 km) and Dzhulyunitsa (around 140 km)29.

Man könnte auch hier der These nachgehen, die wir hier auf dem Blog schon mehrfach formuliert und verfolgt haben, nämlich daß einheimische Jäger und Sammler als "Randkulturen" und "Unterschichten" der großen mittelneolithischen Bauernkulturen und Königreiche sich mit den halbnomadischen Indogermanen von auswärts verbündet haben und es auf diese Weise zum vergleichsweise frühen Zusammenbruch der mittelneolithischen Gumelniţa-Kultur gekommen ist. 

In der neuen Studie fanden sich für die frühe Bronzezeit auch Menschen, die nur Karpaten-Jäger-Sammler-Genetik und Steppen-Genetik aufwiesen (s. Abb. 1c), was auch ein Hinweis auf das Bestehen eines solchen "Bündnisses" angsesehen werden könnte.

4.100 v. Ztr. - Entstehungszeit des indogermanisch-ägäischen Götter-Pantheons?

Diese neuen Erkenntnisse unterstreichen noch einmal die bedeutende Rolle, die schon frühe Wellen der indogermanischen Westausbreitung für die betroffenen Kulturen haben konnten, auch für die östlich benachbarte Cucuteni-Tripolje-Kultur. Womöglich erwies sich aber die Cucuteni-Tripolje-Kultur noch für mehrere Jahrhunderte - bis 3.500 v. Ztr. - als kulturell und militärisch stabiler und anpassungsfähiger im Vergleich zu der zeitgleichen Gumelniţa-Kultur in Rumänien, die eben schon vor 4.100 v. Ztr. vollständig scheint zusammen gebrochen zu sein und von der indogermanisierten Cernodova-Kultur ersetzt worden ist, die nun schon ein ganz anderes kulturelles und genetisches Gepräge aufwies. 

Man möchte auch meinen, daß jene indogermanische-mediterrane Mischkultur, als die sich uns die antiken Griechen in klassischer Zeit religiös, sprachlich, kulturell und genetisch zeigen, ihre Wurzeln haben könnten in einer Geschichte, die bis in das Geschehen um 4.100 v. Ztr. zurück weist. Ab 4.100 v. Ztr. könnte sich jedenfalls erstmals der Götter-Pantheon der Ägäis-Bauern mit dem Götter-Pantheon der Indogermanen von der Mittleren Wolga vermischt haben, grob gesagt: Zeus einerseits mit Apollon und Dionysos andererseits.  

"500 Jahre früher als erwartet"

In der Presseerklärung des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig äußert sich die Erstautorin ähnlich überrascht von ihren Ergebnissen wie wir es sind (MPG2023):

„Die größte Überraschung für uns war, daß wir eine Beimischung der typischen genetischen Steppensignatur nun mehr als 500 Jahre früher als erwartet fanden“, sagt Erstautorin Sandra Penske vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

In der Studie selbst wie auch in der Presseerklärung wird ausdrücklich betont, daß es aktuell keine Beweise gäbe dafür, daß es die Indogermanen waren, die die mittelneolithische Kultur im Donauraum zum Zusammenbruch gebracht hätten.

Das ist ja sehr nett von Seiten der Forscher. Aber wer möchte das glauben? Sie haben scheinbar einfach ein Problem damit, auch noch in diesem Punkt Marija Gimbutas recht zu geben, nachdem sie ihr schon sonst so viel Recht hatten geben müssen. Aber das wirkt dann wahrlich ein wenig kleinkariert.

Gewiß, so viel dürfte stimmen: Damit Großkulturen zusammen brechen, bedarf es mehr als nur einer Bedrohung von außen. Sie müssen auch von innen heraus - sozusagen - "reif zum Zusammenbruch" sein. Aber daß das Waffenarsenal, das die Indogermanen jener Zeit in so besonders auffälliger Weise - und im Gegensatz zu allen anderen Kulturen ihrer Zeit - mit sich führten, überhaupt nichts mit diesem Zusammenbruch zu tun gehabt haben soll, das möchte einem wahrlich nicht als besonders wahrscheinlich in den Sinn kommen .....

Aber vielleicht standen an den Bahnsteigen der ankommenden Indogermanen im Bereich der Unteren Donau um 4.100 v. Ztr. ebenfalls viele Menschen, schwenkten Fahnen und riefen: "Refugees welcome". Alles ist möglich. (Wir könnten uns ja vorstellen, daß das die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Karpaten-Jäger-Sammler waren ...)

/ leicht überarbeitet: 
31.7.2023 /

__________________

  1. Penske, S., Rohrlach, A.B., Childebayeva, A. et al. Early contact between late farming and pastoralist societies in southeastern Europe. Nature (2023). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06334-8, Published 19 July 2023, https://www.nature.com/articles/s41586-023-06334-8.

Dienstag, 4. Juli 2023

Euripides - Der griechische Tragödien-Dichter

Der letzte der drei großen Tragödien-Dichter Griechenlands

Indem wir Friedrich Nietzsche lesen und bei ihm nach Einsichten suchen zum Verständnis der antik-griechischen Kultur, erhalten wir Anregung, uns mit dem Tragödiendichter Euripides (485-406 v. Ztr.) (Wiki) zu beschäftigen. Von den Tragödien des Euripides sind mehrere Übersetzungen zugänglich (WikiS). Sie sind schon in der griechischen Antike fast ebenso häufig gelesen worden wie die "Ilias" des Homer.

Abb. 1: Büste des Euripides, 330 v. Ztr. (Wiki), Pio Clementino Museum, Vatikan, Rom

Sie erschüttern auch zutiefst. In der Tragödie "Die Troerinnen" wird in epischer Breite das Schicksal geschildert, das den trojanischen Frauen zuteil wurde, die nach dem Fall Trojas in die Gefangenschaft der Griechen geraten sind. Erst wenn man solche Tragödien gelesen hat, wird einem bewußt, warum Schiller, Hölderlin und so viele andere mit so großer Selbstverständlichkeit von so vielen Personen der griechischen Geschichte sprechen konnten. Einfach weil sie all diese Tragödien gelesen hatten.

Schiller beispielsweise hat "Iphigenie in Aulis" (Wiki) übersetzt und gibt in Anmerkungen dazu ein differenziertes Urteil. Er kreidet Fehler in der Psychologie des Stückes an, lobt aber auch die Größe der zum Ausdruck gebrachten Gesinnungen (Gutbg):

Die Gesinnungen in diesem Stücke sind groß und edel, die Handlung wichtig und erhaben, die Mittel dazu glücklich gewählt und geordnet. Kann etwas wichtiger und erhabener sein, als die – zuletzt doch freiwillige – Aufopferung einer jungen und blühenden Fürstentochter für das Glück so vieler versammelten Nationen? Konnte die Größe dieses Opfers in ein volleres und schöneres Licht gestellt werden, als durch das prächtige Gemälde, das der Dichter durch den Chor (in der Zwischenhandlung des ersten Aktes) von der glänzenden Ausrüstung des griechischen Heeres gleichsam im Hintergrund entwerfen läßt? Wie groß endlich und wie einfach malt er uns Griechenlands Helden, denen dieses Opfer gebracht werden soll, in ihrem herrlichen Repräsentanten Achilles?

Die Tragödien sind - neben ihrem sonstigen Gehalt - immer wieder unterschwellig oder auch deutlich erkennbar beeinflußt von dem philosophischen Nachdenken der Zeit des Euripides, insbesondere von dessen Freund Sokrates. Sokrates im übrigen ist 16 Jahre jünger als Euripides. Und durch diesen Umstand bekommt man eine Ahnung davon, daß auch Sokrates umgekehrt - sozusagen - auf Euripides reagiert haben könnte, auf die Skepsis desselben im Begleiten des Hochmuts und Falls seiner Heimatstadt Athen. Eine solche Skepsis hört man bei Sokrates und Platon eigentlich so deutlich nicht heraus. Euripides teilt - offenbar - auch viel vollständiger die Werte seiner Heimatstadt. So ist er zum Beispiel ein entschiedener Verteidiger der athenischen Demokratie, während die Philosophen dieser gegenüber doch deutlicher ihre Zweifel äußern. Euripides gibt aber zugleich auch deutlicher als die Philosophen dem Unheil Ausdruck, das unter dem äußeren Glanz seiner Zeit hindurchschimmert. 

Jedenfalls bringt der philosophische Zeitgeist, der sich in beiden - in Euripides wie in Sokrates - verkörpert, es mit sich, daß viele Dinge, unter anderem auch die reale Existenz von Göttern infrage gestellt sind. Euripides kommt darauf immer wieder zurück. In der Regel haben seine Tragödien zwar Themen der Geschichte oder der Mythologie zum Inhalt. Ihre geistige Haltung wird aber unter anderem folgendermaßen charakterisiert (Wiki):

Der Dialog kontrastiert oft so stark mit der mythischen und heroischen Umgebung, daß es wirken kann, als ob Euripides sie parodieren wolle. Beispielsweise löst das rationalisierte Gebet der Heldin in "Die Troerinnen" eine Bemerkung von Menelaos aus:
Hekabe: (...) Zeus, ob du die Notwendigkeit der Natur oder der Geist sterblicher Menschen bist, ich wende mich im Gebet an dich! Indem du einen stillen Weg beschreitest, lenkst du alle sterblichen Angelegenheiten hin auf Gerechtigkeit!
Menelaos: Was bedeutet das? Wie seltsam ist ihr Gebet zu den Göttern!

Nun, es ist seltsam deshalb, weil das Gebet einen philosophischen Gedanken enthält, der vor der Zeit des Euripides so selbstverständlich vermutlich nicht geäußert worden wäre  In der Tragödie "Orestes" fallen die Worte (nach der neuesten Übersetzung von Raoul Schrott (zit. n. Helmut Böttiger, Dtschlf2021): 

„Die Zeit der Heroen ist vorbei:
am Gipfel des Glücks gleicht der Mensch einem Gott.
Doch der duldet keinen neben sich und übergießt uns mit Spott -
den Rest besorgen Niedertracht und Heuchelei.“

Aus solchen und ähnlichen Worten spricht immer wieder auch viel von jenem Geist der Ernüchterung, der in Athen zur Vorherrschaft gekommen sein mag am Ende des Peloponnesischen Krieges, der mit einer vernichtenden Niederlage Athens endete. Euripides erlebte sie nicht mehr, die Vorführung einer seiner Tragödien soll aber die siegreichen Spartaner davon abgehalten haben, die schon beschlossene Zerstörung der Stadt Athen durchzuführen. Euripides hätte also seine Stadt - dennoch - gerettet (Wiki):

Seine Zeitgenossen assoziierten ihn mit Sokrates als Führer eines dekadenten Intellektualismus. Beide wurden häufig von komischen Dichtern wie Aristophanes verspottet. Sokrates wurde schließlich als korrumpierender Einfluß vor Gericht gestellt und hingerichtet.

Auch hier wird wieder erkennbar, aus welch innerlich angespannter, geistiger Haltung heraus die griechische Kultur zu verstehen ist: Dasselbe Prinzip, das als zerstörend wahrgenommen wird, trägt zugleich - unter leicht verschobenen Umständen - zur Rettung bei. 

Mit Euripides erhalten wir einen Blick in die geistigen Wandlungen im antiken Griechenland in jenem grundlegendsten Jahrhundert der antik-griechischen Geschichte, nämlich dem 5. Jahrhundert v. Ztr., in der Zeit nach den Perserkriegen. Wir lesen (Wiki):

Euripides war der Jüngste in einer Gruppe von drei großen Tragikern, die fast Zeitgenossen waren: Sein erstes Stück wurde dreizehn Jahre nach Sophokles‘ Debüt und drei Jahre nach Aischylos‘ Orestie aufgeführt. Die Identität des Trios wird durch eine patriotische Darstellung ihrer Rollen während des großen Sieges Griechenlands über Persien in der Schlacht von Salamis deutlich unterstrichen - Aischylos kämpfte dort, Sophokles war gerade alt genug, um den Sieg in einem Knabenchor zu feiern, und Euripides wurde geboren am selben Tag der Schlacht.

In diesen drei Tragödien-Dichtern verkörpert sich der schnelle Wandel der Zeit und ihres geistigen Gehaltes in den Jahrzehnten nach den Perserkriegen. All dies vollzieht sich vor der heroischen Vergangenheit der Perserkriege. An sein Mitkämpfen in diesen wollte Aischyolos allein in der von ihm selbst formulierten Inschrift auf seinem Grab erinnern, nicht an seine Erfolge in den Tragödien-Wettbewerben.

Während Nietzsche in den Tragödien des Aischylos und des Sophokles die gelungene Synthese zwischen apollinischem und dionysischem Prinzip sieht und darin den Höhepunkt der antik-griechischen Tragödie, bzw. Kulturentwicklung überhaupt, macht er Euripides nun für die Zerstörung dieses heiligen Tempels der Tragödie verantwortlich (Wiki):

In "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" vertritt Friedrich Nietzsche die Auffassung, daß die Tragödie aus dem rituellen Chortanz des Dionysoskultes entstanden und nach dem Tod von Sophokles und Euripides vom kritischen sokratischen Geist zerstört worden sei.

Schon Euripides selbst macht Nietzsche dafür verantwortlich (Zen):

Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen - dies ist die - jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende - Tendenz des Euripides.

Nietzsche identifiziert Sokrates in seinem Werk durchgehend mit der positivistischen Wissenschaft seines eigenen Zeitalters. Diese Deutung muß man allerdings nicht übernehmen. Viel zu vieles von dem, was Sokrates - nach der Wiedergabe von Platon - gelehrt hat, widerspricht einer solchen einseitigen Deutung. Sokrates war weder atheistisch, noch positivistisch. Ebensowenig Platon

Abb. 2: Aischylos, Sophokles und Euripides - In Kopenhagen in der Ny Carlsberg Glyptothek (Wiki)

Deshalb möchten wir vielmehr die Meinung vertreten, daß Nietzsche das Philosophieren von Sokrates und Platon in zu einseitiger Weise sieht. Der Platonismus selbst enthält doch das dionysische Element. Das rationale Raisonieren führt doch immer wieder auf dieses zurück, zum Beispiel auf den "göttlichen Wahnsinn". 

Nietzsche schreibt stattdessen weiter (Zen):

Die Gottheit, die aus ihm (Euripides) redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zugrunde. (...) Der herrlichste Tempel liegt in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein Geständnis, daß es der schönste aller Tempel gewesen sei?

Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Euripides ist bislang inhaltlich noch sehr schlicht gehalten.  

Zur geistigen Biographie des Euripides

Erst auf dem englischsprachigen finden wir sehr differenzierte und darum echt belehrende Inhalte (wir nutzen zum Lesen praktischerweise den auf Google-Chrome eingebauten Übersetzer, der nur mit Rechtsklick eine gesamte Internetseite übersetzen kann) (Wiki):

Ordnet man die Stücke des Euripides in zeitlicher Reihenfolge an, wird deutlich, daß sich seine Einstellung im Laufe der Zeit möglicherweise geändert hat, sie liefern so eine „spirituelle Biographie“:

  • eine frühe Periode großer Tragödien (Medea, Hippolytus)
  • eine patriotische Zeit zu Beginn des Peloponnesischen Krieges (Kinder des Herakles, Die Schutzflehenden)
  • eine mittlere Phase der Desillusionierung über die Sinnlosigkeit des Krieges (Hekuba, Die Trojanerinnen)
  • eine eskapistische Zeit mit Schwerpunkt auf romantischen Intrigen (Ion, Iphigenie auf Tauris, Helena)
  • eine letzte Zeit tragischer Verzweiflung (Orestes, Phönizische Frauen, Die Bacchantinnen)

Wir lesen über Euripides weiter (Wiki): 

In den "Bacchantinnen" stellt er den Chor und die Botenrede wieder in ihre traditionelle Rolle in der tragischen Handlung, und das Stück scheint der Höhepunkt einer regressiven oder archaisierenden Tendenz in seinen späteren Werken zu sein (...). Vermutlich in der Wildnis Makedoniens entstanden, dramatisieren die Bacchantinnen auch eine primitive Seite der griechischen Religion, und einige moderne Gelehrte haben dieses besondere Stück daher biografisch interpretiert als:

  • eine Art Bekehrung auf dem Sterbebett oder Abkehr vom Atheismus;
  • der Versuch des Dichters, den Vorwurf der Gottlosigkeit abzuwehren, der später seinem Freund Sokrates gemacht werden sollte;
  • Beweise für eine neue Überzeugung, daß Religion nicht rational analysiert werden kann.

Es finden sich aber auch Stimmen, die die "Bacchantinnen" des Euripides genau gegenteilig interpretieren (Wiki):

Die außergewöhnliche Schönheit und Leidenschaft der poetischen Chorbeschreibungen weisen darauf hin, daß der Autor durchaus wußte, was die Anhänger von Dionysos anzog. Die lebhafte Grausamkeit der Bestrafung des Pentheus legt nahe, daß er auch diejenigen verstehen konnte, die von der Religion geplagt wurden.

1997 ist die schon in der Antike berühmte "Höhle des Euripides" (Wiki) auf der Insel Salamis wieder entdeckt worden. Vor ihr stehend hat man einen weiten Blick auf das Meer und auf die Insel Ägina. Hier soll Euripides in einsamer Zurückgezogenheit Werke verfaßt haben. Es wird berichtet, daß sich Euripides mehrfach aus der Gesellschaft in die einsame Natur zurück gezogen hat. Im Grunde mutet es auffällig an, daß auch Nietzsche, der dem Euripides so wenig günstig gesonnen ist, seinen Zarathustra Jahre lang eine ähnliche einsame Höhle fern ab der menschlichen Gesellschaft bewohnen läßt. Jedenfalls äußert Nietzsche auch sehr viel Verständnis für das Geschehen in den "Bacchantinnen" in einsamen Bergwäldern. 

Daß dieses Stück sehr unterschiedlich gedeutet werden kann, zeigt womöglich schon deutlich genug, auf welcher Höhe Euripides stand. Er scheint uns die antik-griechische Tendenz oder Fähigkeit zu verkörpern, alle Dinge auch von ihrem gegenteiligen Prinzip her durchdenken und durchdeklinieren zu können und sogar eine Lust daran zu haben. Dadurch kann ja viel Einseitigkeit und auch viel seelische Schläfrigkeit vermieden werden. Auf diese Weise wurden die antiken Griechen ja eben auch jene großen Philosophen und Lehrer der Menschheit, die sie waren. 

Das weniger "spannungsreiche" Seelenbild der heidnischen Römer und Germanen

Die heidnischen Römer in der Zeit, bevor sie hellenisiert wurden, ebenso wie die heidnischen Germanen vor ihrer Christianisierung wiesen ein so weites seelisches Spannungsfeld wie es die antiken Griechen aufgewiesen haben, nicht auf. Das wird der Grund dafür sein, daß es in ihrer Kulturgeschichte über Jahrtausende hinweg noch vergleichsweise weniger Dynamik gab als im griechischen Bereich. Und deshalb konnte der - dann schon hellenisierte - Tacitus die Germanen seiner eigenen Gesellschaft als ein so außerordentlich anrührendes Kontrastprogramm vor Augen stellen.

Da die antiken Griechen schon während ihrer Ethnogenese um 2.200 v. Ztr. einen Umsturz, eine Umwertung aller Werte erlebt haben, es erlebt haben, daß Götter, die ihnen vormalig heilig waren, zu Titanen wurden, die zu stürzen waren oder zu Satyren und Nymphen wurden, die nur in heiterer Harmlosigkeit geduldet wurden, und da zugleich ihr ursprüngliches kulturell-genetisches Element dennoch so stark in ihnen lebendig blieb (das "dionysische"), zugleich aber die Verehrung der indogermanischen (apollinischen) Welt ihnen über alles ging, lag in ihnen immer "zugleich alles" bereit, jede Tendenz menschlichen Verhaltens, waren sie so gut in der Lage, ein Geschehen von zwei sehr widersprüchlichen Seiten aus zu betrachten, gab es ein so großes Spannungsfeld in ihnen und waren sie deshalb zu einer solchen Vielfalt kulturellen Ausdrucks fähig. Dieser Umstand könnte es vor allem sein, der ihre Genialität ausgemacht hat.

Sie konnten vieles verstehen - aber in allen Zeugnissen wird deutlich, daß sie den Gebräuchen und Denkweisen der antiken Juden immer wieder mit völligem Unverständnis gegenüber standen. An dieser Stelle endete ihr seelisches Spannungsfeld. Durch die Christianisierung der Germanen wurde das Spannungsfeld der Mittel- und Nordeuropäer bis heute nach dieser Richtung hin erweitert, allerdings bis heute immer nur ansatzweise nach der gesamten Spannweite der antiken Griechen hin. Letzteres könnte deshalb noch die große Aufgabe der Zukunft sein.

Ein Krampus als Gott?

Wir lesen über "Die Bacchantinnen" und eine Neuübersetzung derselben aus dem Jahr 2021 (zit. n. Helmut Böttiger, Dtschlf2021):

Die Lesarten dieses Stückes sind seit jeher sehr unterschiedlich. (...) Ist die dionysische Ekstase eine Alternative zu dem machtbewußten Herrscher Pentheus? Die Offenheit des Stücks hat etwas Radikales und Verstörendes. Der Chor bereitet mit vielsagenden Sätzen das Ende vor:
„Ein Gott erklärt sich -
doch er erklärt sich nicht.“
Das letzte Wort hat der siegreiche Dionysos. Euripides hinterläßt der Nachwelt durch den Mund des maskierten Gottes ein Orakel, das eher beklemmend wirkt:
„Ein in die Erde geschlag'ner Pflock und die Masken, drangehängt,
eine aus dem Stock der Rebe, eine andre aus dem Stamm der Pinie,
Larven, die sich innen aus dem Holz schälen, um an dem Brocken Gestalt zu nehmen:
ein Stier, der unter der Borke seine Schnauze bleckt, Hörner, die durch ein Astloch stoßen, Hauer, Zweige, die sich zu Schlangen häuten, die Krallen eines Luchses,
Zähne, Zungen, und hinter all den Masken das schwarze Fell von einem Ziegenbock,
das zu Boden hängt: dieser Pflock, in der roten Furche eines Ackers,
das ist meine Gegenwart, ist ich, hier, vor der Mauer Thebens.“

Was für grausige Worte. Man fühlt sich an die Krampusse des Alpenraumes erinnert (Wiki). Dionysos erklärt sich - und er erklärt sich nicht. Selbst er hält sich noch eine Maske vor. Eine grausige. Oder gerade er.

Soll man parallel zugleich sagen: Die antik-griechische Volksseele erklärt sich - und sie erklärt sich nicht. Hält auch sie sich eine Maske vor? Euripides erklärt sich - und er erklärt sich nicht - ? Oder hält er es für nötig, den Griechen einen einschüchternden Krampus als Gott zu geben - anstelle des Apollon? Damit sie endlich zur Besinnung kommen?

Ergänzung 12.1.24: Der vielleicht bedeutendste Hölderlin-Deuter des 20. Jahrhunderts Peter Szondi arbeitet die Dionysos-Deutung Hölderlins anhand der Bacchen des Euripides hervorragend heraus in seinen Hölderlin-Studien von 1961. Das wird hier auf dem Blog noch einmal Thema werden. 

/ Erweitert: 5.7.23 /