Sonntag, 7. Mai 2023

Das Universum - "Eine große Synthese, die uns mit einschließt" (Stephen Hawking)

Weiteres über Stephen Hawking und Thomas Hertog, über Letzteren auch Privates

Zu unserem Beitrag von vor einer Woche zu dem neuen Buch von Thomas Hertog "On the Origin of Time" (Stgen2023) soll hier in einem zweiten Beitrag noch Ergänzendes hinzufügt werden. Vor allem soll hingewiesen werden auf sehr schöne und spannende Aufnahmen des flämischen Fernsehens aus dem Jahr 2015 mit Stephen Hawking, Thomas Hertog und James Hartle, die noch kaum bekannt sind (1). 

2015 besuchten Stephen Hawking und James Hartle nämlich Belgien. Bei dieser Gelegenheit waren sie auch eingeladen bei Thomas Hertog zu Hause in Bousval (1; 2'37-6'14). Und sie wurden dabei von einem Filmteam des staatlichen flämischen Fernsehens begleitet. Dadurch entstanden faszinierende Aufnahmen, die auch im flämischen Fernsehen ausgestrahlt wurden (Yt2015a5) (1), die aber sonst vermutlich noch kaum Verbreitung gefunden haben. 

Man erhält sie von Youtube erst vorgeschlagen, wenn man dort zuvor schon sehr viel nach Thomas Hertog und Stephen Hawking gesucht hatte. Und leider hat noch niemand die flämischsprachigen Teile dieser Aufnahmen in Deutsche oder Englische übersetzt.

Hawking besuchte bei dieser Gelegenheit auch die Universität Löwen. Dort gab er ein längeres, spannendes Interview. Und er besuchte das dortige Wohnhaus von Georges Lemaitre. Außerdem hielt er noch eine Vorlesung an der Universität Brüssel (Yt2015b). 

In den bei all diesen Gelegenheiten aufgenommenen Gesprächen bezeichnet Hertog Stephen Hawking als seinen "Soulmate", also als einen wirklich engen Freund, einen Seelenverwandten (1). James Hartle, gefragt wie er Stephen Hawking in wenigen Worten charakterisieren würde, sagt "Never give up." Aber dann werden die Aufnahmen noch spannender. Hawking bekommt die Frage gestellt (1):

Auch wenn man die (endgültige) mathematische Gleichung finden würde (für die Entstehung des Universums), würden die Menschen dann nicht dennoch weiter nach dem Sinn des Lebens zu fragen?

Darauf gibt Stephen Hawking die folgende Antwort (1): 

Die Ordnung des Universums verstehen und seinen Sinn zu verstehen, sind nicht identisch aber sie liegen nicht so weit auseinander. Meine Arbeit mit Thomas stellt einen neuen Zugang zur Entstehung des Universums dar. In unserer Theorie ist das Universum eine große Synthese. Es ist nicht etwas, in der eine Sache nach der anderen geschieht, es ist vielmehr eine Totalität, die uns mit einschließt, und in der das, was heute passiert, dem Realität gibt, was in Vergangenheit geschehen ist. Die meisten Menschen glauben, daß das Universum da draußen unabhängig von uns besteht. Unsere Theorie jedoch zeigt, daß dies nicht die Art und Weise ist, in der unsere Welt funktioniert. Wir haben einen Schritt Abstand genommen von der kalten kopernikanischen Weltsicht, die die Physik für mehrere Jahrhunderte dominiert hat, und wir haben den Menschen wieder zurück in den Mittelpunkt gestellt.

Der hierbei geäußerte Satz "Das, was heute passiert, gibt dem Realität, was in Vergangenheit geschehen ist," ist abgeleitet aus der Vielwelten-Deutung der Quantentheorie und wir hatten versucht, Mißverständnisse, die mit solchen Aussagen verbunden sein können, schon im letzten Beitrag auszuräumen.

Der Heureka-Moment (2002 oder später)

Hertog ergänzt zu diesen Aussagen (1):

Ja, das war ein Heureka-Moment für uns alle beide als wir über viele Tage hinweg mit einigen Aspekten unserer Theorie kämpften. Wir saßen dann spät am Abend zusammen und es wurde uns beiden mehr oder weniger gleichzeitig klar, daß wir vielleicht die falsche Frage stellten. Wir hatten vergessen zu realisieren, daß wir in der Kosmologie unser Universum sehr grundlegend beschreiben von unserem Standpunkt aus. Wir stehen nicht irgendwie außerhalb des Kosmos, sondern wir sind Teil desselben. Und wenn wir das in geeigneter Weise mit in Rechnung stellen, dann passen die unterschiedlichen Teile des Puzzles wunderbar zusammen. Und das ist das Modell, an dem wir seitdem immer weiter arbeiten.     

Das sind wichtige Aussagen. 

Abb. 1: Stephen Hawking (links) und Thomas Hertog (rechts) zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit im Jahr 2001 in der Brüsseler Bar La Mort Subit - in der Mitte Nathalie Boës, die Ehefrau von Hertog (2) (hier aus "LaLibre"2023)

In einer solchen dichten Weise ist ein solcher gemeinsamer "Heureka-Moment" in seinem Buch gar nicht dargestellt. Er sollte irgendwo in Kapitel 6 seines Buches dargestellt sein. Es gibt da zwei Schilderungen, einmal für das Jahr 2002 (2, S. 232-244) und einmal für eine Erörterung, für die das Jahr gar nicht festgehalten ist (2, S. 283f) (2006?). Aber für beide Situationen ist nicht eine so dichte, genaue Charakterisierung der Arbeitssituation gegeben.

"Philosophie ist tot"

In den flämischen Filmaufnahmen geht es auch um Hawking's geflügeltes Wort "Philosophie ist tot". Darauf von Seiten einer Philosophin angesprochen, sagt er (1):

Die Philosophen haben nicht Schritt gehalten mit der modernen Wissenschaft. Es sind die Wissenschaftler, die heute das menschliche Verstehen voran bringen.

Das sind starke Worte, vielleicht auch harte, herbe. Was müßt ihr euch sagen lassen, Philosophen von heute von einem der bedeutendsten Physiker unserer Zeit? Und er ist nicht der einzige unter den Physikern, der solches ausspricht. Der Autor dieser Zeilen hat ähnliches auch schon am Philosophischen Seminar der Freien Universität Berlin von Seiten von Physikern ausgesprochen gehört.

"Was ist das Wichtigste - Wissenschaft oder Liebe?" 

In einer Zusatzfrage wird Hawking gefragt, was das Wichtigste ist, Wissenschaft oder Liebe? Und er antwortet (1): 

"Ich denke, Liebe und gegenseitiges Sich-Verstehen."

Und das ist nicht nur so dahin gesagt, es ist das der Gesamteindruck, den man von seinem Leben gewinnt, und den auch Thomas Hertog vermittelt. Und es ist das übrigens auch der Gesamteindruck, den man von dem Leben von Thomas Hertog gewinnt.   

In den flämischen Aufnahmen erhält man auch einen schönen Eindruck von der Gesprächsatmosphäre, die sich rund um Stephen Hawking, James Hartle und Thomas Hertog bilden konnte. In ihnen stellt Hertog auch seine beiden zwei Söhne Stephen Hawking vor (1). 

Hintergründe zur Familie von Thomas Hertog sind leicht recherchierbar. Thomas Hertog ist mit Nathalie Boës verheiratet (Geneanet). Vermutlich spätestens seit 2001 - wie man an seinem Ehering auf Abbildung 1 erkennen kann. Auf diesem sitzt Nathalie Boës - offensichtlich - in der Mitte von drei Männern. 

Nathalie Boës hat 1993 bis 1998 Agrarwissenschaft und Bodenkunde an der Universität Löwen studiert. Dort hat sie 1998 ihren Master gemacht (LinkedIn). Vielleicht stammt sie aus Bousval bei Genappe, aus dem Ort des französischen Teiles von Belgien, in dem die Familie Hertog heute lebt, und der auch in den flämischen Filmaufnahmen von 2015 zu sehen ist. Beide mögen sich während ihres Studiums an der Universität Löwen kennen gelernt haben.

1998 bis 2002 war Thomas Hertog dann Doktorand bei Stephen Hawking in Cambridge und von 2003 bis 2005 Postdoc an der Universität von Santa Barbara in Kalifornien. Parallel dazu war Nathalie Boës wissenschaftliche Mitarbeiterin an Instituten in London und Cambridge (1999 bis 2001), sowie in Kalifornien, besonders in Santa Barbara (2003 bis 2005) (im Wesentlichen als "Soil Scientist") (LinkedIn). Sie konnte also jeweils an denselben Orten als wissenschaftliche Mitarbeiterin Arbeit finden, an denen auch ihr Ehemann arbeitete.

Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie an Forschungen zur Wiederherstellung kontaminierter Böden beteiligt, ebenso wie an Forschungen zum Regenwald und zum "Urban Gardening". Promoviert hat sie allerdings nicht und es gibt auf Google Scholar auch keine wissenschaftlichen Arbeiten von ihr. Sie scheint viel mehr die wissenschaftliche Arbeit an den jeweiligen Instituten koordiniert zu haben.

Wahrscheinlich sind schon in diesen Jahren zumindest die ersten beiden Töchter des Paares geboren worden. (Die beiden jüngeren Söhne sind in den Filmaufnahmen von 2015 etwa elf Jahre alt.)

2005 bis 2011 war Thomas Hertog dann zunächst zwei Jahre am CERN in Genf beschäftigt und dann vier Jahre in Paris. In dieser Zeit wurde Nathalie Boës nach einer beruflichen Auszeit ab 2007 und bis 2019 für die Bio-Zertifizierungs-Firma Certysis in Namur tätig. Namur liegt 45 Kilometer von Bousval bei Genappe entfernt, das vielleicht ihr Heimatort ist. Namur liegt ebenso im südlichen, französischsprachigen Teil von Belgien wie Genappe.


Abb. 2: Die Zweiteilung Belgiens in Flandern und Wallonien mit jeweils Niederländisch oder Französisch als Muttersprache (Wiki)

2011 schließlich wurde Thomas Hertog Professor für Theoretische Physik der Universität Löwen, in seiner Geburtsstadt, die im flämischen Teil von Belgien liegt (Abb. 2). So erhält man nebenbei gleich noch einen Einblick in die kulturelle und politische Geographie von Belgien (Abb. 2). Und spätestens seit 2012 leben Thomas Hertog und Nathalie Boes mit ihren Kindern in dem Dorf Bousval bei Genappe in Belgien. Es liegt 46 Kilometer südlich von Löwen. 

Genappe liegt etwa 15 Kilometer von Waterloo (bzw. Belle Alliance) entfernt (grob zwischen Namur und Brüssel). Bei Waterloo fand im Jahr 1815 jene entscheidende Schlacht statt, aufgrund deren Napoleon abdanken mußte. 

Die Hertog's leben in Bousval auf einem Biobauernhof mit Schafen, Ziegen, einer Käserei und einem Bioladen ("La ferme de la Baillerie", Rue du Try au Chêne 1, 1470 Genappe-Bousval) (Abb. 3). Auf diesem sind auch ein Teil der Filmaufnahmen aus dem Jahr 2015 entstanden. Im November 2022 hat Hertog in Genappe auch einen Vortrag über den Urknall gehalten. Seine Frau ist in Genappe seit 2017 auch ehrenamtlich im Bereich der Flüchtlingshilfe tätig. (In den Aufnahmen von 2015 ist sie unauffälliger im blauen geblümten Sommerkleid zu sehen [1].)

Abb. 3: "Ferme de la Baillerie" ("Hof der Bäckerei") (s.a. Relais)

Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, warum Hertog so ausgeglichen und durch und durch bodenständig wirkt, wenn man ihn in solchen, offenbar sehr entspannten privaten und familiären Lebensumständen sieht.

Hertog spricht nicht nur - wie in den meisten seiner Interviews und Vorträge - fließend Englisch, sondern in Interviews und Talkshows bei Gelegenheit auch fließend Französisch. Er ist aber in Löwen geboren und scheint dementsprechend von seiner Muttersprache her Flämisch zu sprechen. Jedenfalls spricht er fließend Flämisch (was wohl zugleich Holländisch ist?) (Yt2022). Womöglich ist er katholisch aufgewachsen (?). Die Stadt Löwen gehört jedenfalls zum flämischen Teil von Belgien (s. Abb. 2).

Erwähungen in deutschsprachiger Wissenschaftsberichterstattung

Forschungen von Hawking, Hartle und Hertog sind schon länger auch Gegenstand deutschsprachiger Wissenschaftsberichterstattung.

Rüdiger Vaas von "Bild der Wissenschaft" berichtete im Jahr 2002 von der Bran-Theorie, an der Hawking damals mit Hertog arbeitete (bdw2002). Schon 2008 berichtete er von dem von beiden erarbeiteten "Top Down-Ansatz" (bdw2008a), den beide nach dem oben beschriebenen Heureka-Moment bis zum Schluß weiter verfolgten. Er schrieb auch damals schon menschlich anrührend über Hawking (2008b). So berichtet er, wie er selbst auf einer Konferenz einmal überraschend von Hawking angesprochen worden ist.

Rüdiger Vaas hat 2010 auch eine Besprechung des Buches von "The Grand Design" veröffentlicht (bdw2010). Und er hat Stephen Hawking 2012 zum 70. Geburtstag gratuliert (bdw2012). Bei all dem kam er immer einmal wieder auch auf Thomas Hertog zu sprechen. 

In einem Nachruf auf Stephen Hawking aus dem März 2018 in "Spektrum der Wissenschaft" heißt es (Robert Gast in Spektr2018):

Hawking mischte bis zuletzt bei diesen Diskussionen mit. Sein letzter Fachaufsatz zur Entwicklung des Universums, den er gemeinsam mit dem Niederländer Thomas Hertog schrieb, erschien im Juli 2017. Noch vorletzte Woche stellte das Duo eine veränderte Version online.

Ebenso wird am Ende eines anderen Nachrufes auf "wichtige Veröffentlichungen" zusammen mit Thomas Hertog hingewiesen, nämlich über Quantenkosmologie, Top-down-Ansatz und Stringkosmologie (Ulrich Schnabel in Zeit2018).

Ergänzung 27.9.2023: Der Physiker Stefan Gillessen freut sich über das Buch von Hertog in überschwänglichen Worten (Spekt2023):

Ich möchte das Buch von ganzem Herzen empfehlen. Es ist nicht nur eine exzellente Einführung in die moderne Kosmologie, sondern bietet einen tiefgründigen Abriß dessen, was die Fachwelt heute diskutiert. Es wird so dem Wissenschaftler Hawking viel gerechter, als es eine klassische Biografie könnte – denn der Fokus liegt auf der Physik und somit auf dem, was Hawking interessierte. Natürlich findet sich trotzdem auch die ein oder andere nette Anekdote über Hawking im Text, denn schließlich waren der Autor und Hawking nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde. Und ganz am Ende verrät Hertog dann auch noch: Dieses Buch war gar nicht seine eigene Idee. Es war Hawking, selbst schon zu schwach geworden für so eine Aufgabe, der ihn regelrecht damit beauftragt hätte. Diesen Auftrag hat Hertog meisterhaft und würdevoll ausgeführt. Hawking selbst hätte kein besseres Buch schreiben können.

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  1. Kathleen Cools, Bart Aerts: In het spoor van Stephen Hawking, deel 1 - Terzake 2015. (Yt2015) Teil 2 (Yt2015b) Produziert von der Vlaamse Radio- en Televisieomroeporganisatie (VRT; deutsch "Flämische Hör- und Fernsehfunkorganisation" (Wiki)
  2. Hertog, Thomas: On the Origin of Time - Stephen Hawking's final theory. 2022; Deutsch: Der Ursprung der Zeit - Mein Weg mit Stephen Hawking zu einer neuen Theorie des Universums Stephen Hawkings finale Theorie, 2023, Leseprobe: https://www.book2look.com/book/9783103900163 
  3. Thomas Hertog im Interview mit Jonathan McCrea. FutureProof, 2.4.2023; ab Minute 14'58 (GoLoud)
  4. Talks by Thomas Hertog, Universität Löwen, 2005-2017, https://pirsa.org/speaker/Thomas-Hertog

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