Dienstag, 30. Mai 2023

Marsyas - oder: Der feurige Ehrgeiz der antiken Griechen

Eine Deutung der antiken Griechen durch Friedrich Nietzsche
- Ein Blick in die antik-griechische Volksseele
- Die größte Stärke des antik-griechischen Volkes war womöglich zugleich seine größte Schwäche - an der es schließlich untergegangen ist: Der Ehrgeiz im Wettkampf, der Neid und die Vermessenheit im Erfolg
- Die größte Stärke und größte Schwäche von uns Abendländern könnten andere sein

Die antik-griechische Volksseele ist in weiten Teilen noch völlig unerforscht. Das heißt, die Gesetzmäßigkeiten und die Grundkräfte, aus denen heraus die antik-griechische Kultur gelebt hat, aus der heraus ihre kulturschöpferische Begabung zu verstehen ist. Wenn man erst einmal einen Einblick in diese Thematik genommen hat, wird einem das erst bewußt - nämlich als Fragesstellung, als Problem. Und zwar von unermeßlichen Dimensionen. Wir hatten schon - mit Hölderlin - danach gefragt: Was unterscheidet den "südlichen Menschen" des antiken Griechenland von dem "hesperischen Menschen", dem "Abendländer" des Nordens (Stgen2023)? Und zwar auf einer grundlegenden Ebene, auf einer Ebene, aus der heraus künstlerisches, kulturelles Schaffen möglich wird.

Bei Hölderlin fanden wir eine erste Antwort. Bei Friedrich Nietsche finden wir nun noch eine weitere Antwort, die weit über Hölderlin hinaus geht, ihn vielleicht aber auch zusätzlich deutet und ergänzt (1).

Marsyas

Zunächst waren wir bei einer Zusammenstellung von antik-griechischen Porträts (WikiC, WikiCo) (für einen noch unveröffentlichten Beitrag) auf eine Skulptur des Marsyas (Wiki) (Abb. 1) gestoßen. Auf eine nicht genau zu bestimmende Weise kann sie einen irgendwie ansprechen. Es gibt ja viele, sehr eindrucksvolle Porträts der damaligen Zeit. Aber das, was dieses Porträt sagt, findet man so nicht so leicht in anderen wieder. Aber was es einem eigentlich sagt, will einem auf den ersten Blick gar nicht aufgehen. Nur daß es etwas zu sagen hat.

Abb. 1: Kopf des Flußgottes Marsyas - Nach einem Original aus der Zeit zwischen 150 und 100 v. Ztr. - Gefunden 1867 in den Bädern des Caracalla, Altes Museum Berlin (Wiki) (Fotografiert von Ophelia2)

Erst wenn man sich mit dem Mythos rund um Marsyas (Wiki) beschäftigt, bekommt man eine Ahnung davon, was dieses Porträt aussagen könnte, so wie es aus unbewußten, unterbewußten oder bewußten Triebkräften des (unbekannten) Künstlers heraus geschaffen worden sein mag: Ein Satyr und Flußgott, der es gewagt hat, in einen musischen Wettstreit mit Apollon zu treten und der von diesem dafür grausam bestraft worden ist, der von ihm bei lebendigem Leibe gehäutet worden ist. Eine Idylle, die sich in Entsetzen wandelt. Man ist schlichtweg nur entsetzt. 

Läßt man diesen Mythos eine Weile in sich nachwirken, bekommt man womöglich auf den zweiten Blick eine Ahnung, daß dieser einen tiefen Blick werfen lassen könnte in die antik-griechische Volksseele überhaupt.

Denn schon in der Antike gab es vielfältige, eindrucksvolle Darstellungen von diesem Flußgott und Satyr, der die von der Göttin Athena weggeworfene Flöte fand und sich vermessen hat, mit Hilfe derselben in einen musikalischen Wettstreit mit dem Gott Apollon zu treten und mit der von diesem gespielten Kithara, und der dafür, nachdem Apollon nur mühsam hatte siegen können, nämlich unter Zuhilfenahme seines Gesanges, bei lebendigem Leibe gehäutet worden ist. Was für eine Rache. Warum? Es ging doch nur um Musik. Der Neid der Götter eben ....? Der sehr menschlich anmutende?

Die Vielfalt der künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser Thematik und mit dieser mythologischen Figur über die Jahrhunderte hinweg macht deutlich, daß diese Figur die antik-griechische Volksseele "umgetrieben" hat. Dasselbe möchte man aus jenem Kopf des Marsyas ablesen, der uns zuerst aufgefallen war (Abb. 1). Man liest so viel Zustimmung zu diesem Marsyas in diesem Porträt, so viel Sympathie für ihn, so viel Ergriffenheit. Man ahnt die vollumfängliche Zustimmung des Künstlers zum Gesamtgeschehen rund um Marsyas. Er sieht die Notwendigkeit seines Schicksals ein. Er ist ergriffen von diesem Marsyas, der es ein wenig unüberlegt gewagt hat, einen Gott herauszufordern. Und zwar nicht irgendeinen Gott. Sondern ausgerechnet Apollon.

Wie gewöhnlich ist es bei den antiken Griechen bei ihrer lebhaften und lebendigen Auseinandersetzung mit ihren religiösen und mythologischen Überlieferungen auch zu unterschiedlichen Deutungen und Interpretationen gekommen. Die Deutungen konnten einmal gemessener, mehr "im Rahmen" bleiben, fast schlicht bleiben, einmal exzentrischer sein. Wobei der Mythos selbst und an sich wohl durchaus als exzentrisch aufgefaßt werden kann. Und wobei der Späthellenismus womöglich eher dazu neigte, wieder ein Verständnis für diese Exzentrizität zu gewinnen als das in der klassischen Zeit der Fall gewesen sein mag. Hier eine kleine Auswahl von Auseinandersetzungen:

  • 450 v. Ztr. schuf der Athener Bildhauer Myron die Athena-Marsyas-Gruppe (Wiki) (WikiCom1, 2), die auf der Akropolis aufgestellt wurde, und deren Bekanntheit bis heute kaum hinter seinem freilich noch bekannteren Diskus-Werfer zurück steht (Abb. 2, 3).
  • 340 v. Ztr. entstand in Athen ein Relief zu dieser Thematik (Wiki).
  • Im frühen 3. Jahrhundert v. Ztr. entstand eine weitere Skulptur des Marsyas (WikiCom).
  • Am Ende des 2. Jhrdts. v. Ztr. ebenfalls (WikiCom).

Und so gibt es noch viele weitere Darstellungen von ihm.

Abb. 2: Athena und Marsyas von Myron - Marsias entdeckt die von Athena fortgeworfene Flöte - Nachbildung im Pushkin-Museum in Moskau (Wiki) (Fotografiert von: user:shakko)

In der berühmten, wohlkomponierten Schrift "Symposion" von Platon, einem der Höhepunkte der Philosophiegeschichte der Menschheit, vergleicht Alkibiades, der vergeblich versucht hatte, den Sokrates homoerotisch zu verführen (Wiki),

"die Wortgewalt des Sokrates mit der Wirkung der Aulosmusik und Sokrates direkt mit Marsyas".

Schon an dieser Stelle wird deutlich, auf welch schmalem Grad zwischen Zustimmung und Ablehnung sich die antiken Griechen gegenüber dem Flußgott und Satyr Marsyas und der ganzen Wesensart bewegten, die er verkörperte. Man war geneigt, auch den Sokrates in einer Tradition mit diesem Marsyas zu sehen - und das wurde nicht zwangsläufig als eine Beleidigung oder Herabsetzung erachtet. Im Gegenteil. Immerhin weisen ja auch antike Porträts des Sokrates (WikiCom) mancherlei Ähnlichkeit auf mit dem hier gebrachten Porträt des Marsyas (Abb. 1). Dieser schmale Grad in Zustimmung und Ablehnung scheint uns auch aus vielen anderen künstlerischen Auseinandersetzungen mit Marsyas zu sprechen (z.B. Abb. 2 und 3). 

War es nicht womöglich einfach so: In diesem Marsyas sahen die antiken Griechen sich selbst? In ihrer ursprünglicheren, "unverfälschteren" Form?

Den Griechen war es bewußt, daß naturhafte Musik und Triebhaftigkeit, wie sie von Satyren verkörpert werden konnte, gerne einmal von einem ihrer Hochgötter Apollon grausam bestraft werden konnten. Das hielt sie nicht davon ab, dieser naturhaften Musik und Triebhaftigkei Hochachtung entgegen zu bringen. So viel Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in einem mythologischen Bild zugleich! Und zwar auf den Seiten beider, auf der Seite des "tierhaften" Marsyas ebenso wie auf Seiten des "hochkultivierten" Apollon. Eine Dialektik zwischen beiden in doppeltem Sinne!

Spiegelt sich nicht genau darin ein Grundzug der antik-griechischen Kultur?

Anhand dieses Marsyas kann man sich klar machen, daß die antiken Griechen die zügellose, ungehemmte Lust und wilde Leidenschaft, die die Satyren verkörperten, nicht nur anhand der Dionysos-Figur thematisiert haben, sondern daß das Thematisieren wilder Leidenschaft, Triebhaftigkeit und Gesetzlosigkeit überhaupt in der griechischen Kunst und Philosophie eingebettet war, und zwar zugleich in dem Wissen darum, daß solche - gegebenenfalls -  von dem Gott Apollon bei Gelegenheit würde "gehäutet" werden können, und daß sich die Göttin Athene - wie von Myron dargestellt - in Schamhaftigkeit von ihr würde abwenden können (Abb. 2, 3). Und zugleich in Zustimmung zu all diesem Geschehen. Obwohl es sie, die Griechen, selbst betraf, dieses "Häuten" bei lebendigem Leibe.

Für die antiken Griechen war eben diese Dialektik zwischen naturhafter, wohltönender Triebhaftigkeit einerseits und gemessenem Maß und Selbstbeherrschung andererseits etwas durchgängig Mitgedachtes in allem mythischen Denken, sowie künsterlischen und philosophischen Schaffen, und zwar offenbar von Anfang an in sehr nuancierten Mischungen. Und zwar wiederum zugleich auch in Mischungen von Ernst und Heiterkeit zugleich.

Wie viel zutiefst Menschliches an sich läßt sich in Auseinandersetzung mit solchem künstlerischen Schaffen thematisieren!

Man wird wohl nicht fehlgehen, in dieser Dialektik einen tieferen Wesenszug der antik-griechischen Kultur überhaupt zu suchen.

Nietzsche

Im weiteren Nachdenken stellt sich die Frage, was eigentlich Friedrich Nietzsche über Marsyas gesagt haben könnte, er, der über den Gegensatz zwischen dem Dionysischen und Apollinischen so viel Bedeutsames zu sagen gehabt hat (Wiki)*).

Und indem wir dieser Frage nachgehen, stoßen wir auf einen uns bislang unbekannten Nietzsche-Aufsatz, in dem wir mit Erstaunen feststellen, daß selbst Nietzsche sich noch entsetzt zeigte von der Grausamkeit der antiken Griechen (1) (Zeno). Entsetzter noch als wir es heute zu sein gewohnt sind, wenn wir - ebenfalls immer einmal erneut erstaunt - auf diesen Umstand aufmerksam werden (z.B.: Stgen2013). 

Abb. 3: Athena und Marsyas von Myron - Marsias entdeckt die von Athena fortgeworfene Flöte - Nachbildung im (Wiki) (Fotografiert von Zserghei)

Aber gerade durch die Archäogenetik - zusammen mit den zahlenmäßig anwachsenden archäologischen Befunden zu Massenmorden an Frauen und Kindern seit dem Neolithikum - haben wir in den letzten Jahren erst eine umfassendere Ahnung bekommen davon, daß jenes "genetic replacement", das in der Völkergeschichte immer einmal wieder beobachtet werden kann, viel mit einer solchen Grausamkeit, mit der physischen Ausrottung und Versklavung ganzer Völker und Stämme zu tun haben könnte, mit Verelendung und Streßzeiten in der Völkergeschichte. Davon handeln viele Blogbeiträge der letzten vier Jahre hier auf dem Blog (hier nur als Beispiel: Stgen2021a, b).

So daß wir es hier mit einem Charakterzug zu tun haben, der nicht nur auf die antiken Griechen zutrifft, sondern mit der Welt seßhafter, Ackerbau treibender Völker insgesamt. Daß in der Völkerwelt der Menschheitsgeschichte sich das Recht des Stärkeren und das Prinzip des Wettkampfs der Völker miteinander viel unverblümter geltend machte, als wir uns das lange Zeit hatten eingestehen wollen.**)

Es handelt sich aber um einen Charakterzug, der auch in Jäger-Sammler-Völkern anzutreffen ist, zum Beispiel bei den Kopfjägern in Tibet (Stgen2007). Es handelt sich zugleich auch um ein Bündel von Verhaltenstendenzen, von dem Peter Sloterdijk schon 2006 in seinem Buch "Zorn und Zeit" und in einem damaligen Cicero-Interview forderte, daß es in der Psychologie unserer Zeit mehr Berücksichtigung finden sollte, von ihm zusammen gefaßt unter dem sehr umfassenden Begriff der "thymotischen Energien" (Stgen2007).

Es handelt sich um einen Charakterzug und um ein Verhaltensbündel, die durch monotheistischen Eifer - oder später durch atheistisch-ideologischen Eifer - nur noch einmal erneut entflammt und angefacht worden sind und werden, die aber schon zuvor als ein Eifer noch etwas anderer Art in der Welt waren, als ein Eifer zum Beispiel, der Beste zu sein - worauf uns Nietzsche hier aufmerksam macht (siehe gleich).

Zunächst ist man - aus heutiger Sicht - fast verwundert, daß ausgerechnet Nietzsche ein solches Entsetzen aufweist gegenüber den oft außerordentlich schrecklichen Phantasien und Taten, die sich in den antik-griechischen Mythen (Orpheus-Mythos, Dionysos-Mythos u.a.) ebenso wiederspiegeln wie in vielfältigen Taten der antik-griechischen Geschichte.

Nietzsche macht dann aber im weiteren Verlauf seiner Überlegungen Beobachtungen, die noch heute tiefer in die Volksseele der antiken Griechen blicken lassen könnten (1):

Das gesamte griechische Altertum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegeneinander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur Tat reizt, aber nicht zur Tat des Vernichtungskampfes, sondern zur Tat des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohltätigen Gottheit.

Was für ein schöner Gedanke in diesem letzten zitierten Satz enthalten ist. Er zaubert uns ein Lächeln auf die Lippen. Vielleicht ist der Grieche ja auch nur ehrlicher als wir, geht einem dabei durch den Kopf. Eine Eigenschaft, die man ehrlich auslebt, läßt sich auch ehrlich überwinden. Eine Eigenschaft, deren Vorhandensein man neigt hinwegzuleugnen, weil man sie gar zu sehr verdammt, wird man viel schwerer überwinden können. Denn sie wird dann nur doppelt so stark wirken in unserer heutigen, so durch und durch von ätzendem Ressentiment durchtränkten Kultur. 

Wie viel Neid mag in der heutigen Welt sein. Und wie viel Neid mag das Leben der Menschen angefressen, verbittert und verzerrt sein lassen. Womöglich waren die antiken Griechen davor durch ihren sehr ehrlichen und offenen Umgang viel besser geschützt. Sie thematisierten diesen Neid ganz ehrlich. Und sprachen ihm gute Kräfte zu. 

"Willkommen Gewinn!"

Lesen wir nicht an der Eingangstür eines Geschäftes in Pompeji den so wunderschönen Spruch "Willkommen Gewinn!" - ? Welcher so ganz und gar andere Geist spricht aus diesen beiden Worten als der Geist des christlichen Abendlandes mit all seinem verkniffenen Ressentiment, der es einerseits wegleugnet, daß wir uns über Gewinn freuen, sich andererseits dann aber klammheimlich um so mehr darüber freut und ihn dem anderen neidet. Oder der in offener Frivolität und egoistischem Materialismus keine anderen Lebensziele kennt als diesen rein materiellen Gewinn. Oh, was für ein verfluchtes, unehrliches, orientierungsloses, gottloses Jahrhundert, Jahrtausend. 

Wann sie wohl wieder kommen werden, die Zeiten von Pompeji?

Ehrlich und offen freut sich hier ein Geschäftsmann über seinen Gewinn. Amazon, du Steuerhinterzieher in allergrößtem Umfang, wie wäre das, wenn du offen und ehrlich als Titelzeile über deine Seiten setzt: "Willkommen Gewinn!" Denn um nichts anderes geht es. 

Auch dir. Sei ehrlich. Wenigstens das. Wenn dich die Regierungen weltweit schon so auffällig schonen und dir keine Steuerbeamten auf den Hals hetzen. Dir und unzähligen anderen, weltweit agierenden Konzernen.

In dem hier herangezogenen Text von 1872 ist Friedrich Nietzsche denkbar weit entfernt von seinem Gedanken vom "Willen zur Macht", der doch zwangsläufig einher gehen muß mit "Streit", "Abwehr", "Kampf", "Antagonismus". Die Götter fordern doch für sich Macht ein. Deshalb ist es doch ganz selbstverständlich, daß sie diese gegenüber den Menschen, Halbgöttern und Satyren auch durchsetzen - auf welche Weise auch immer. Aber wir lesen aus diesem Text immerhin heraus, wie sich dieser sein späterer Gedanke vom "Willen zur Macht" zu formen begann. 

Der Wettstreit - Er hatte eine so ganz andere Bedeutung in der antik-griechischen Kultur

Sein Text erhält im weiteren Verlauf unglaubliches Gewicht, wenn er darauf aufmerksam macht, daß es der Wettkampf ist, der zu den tieferen Grundkräften des antik-griechischen kulturellen Schaffens gehört (1):

Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfen im großen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, daß selbst ein Toter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältnis des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder große Hellene gibt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder großen Tugend entzündet sich eine neue Größe. Wenn der junge Themistokles im Gedanken an die Lorbeeren des Miltiades nicht schlafen konnte, so entfesselte sich sein frühgeweckter Trieb erst im langen Wetteifer mit Aristides zu jener einzig merkwürdigen, rein instinktiven Genialität seines politischen Handelns, die uns Thukydides beschreibt.

Es handelt sich also um den Eifer, der Beste sein zu wollen. Diesen Geist des Wettkampfes, der so viel Herrliches in der Kultur und Geschichte der antiken Griechen hervorgebracht haben mag, ist nicht genügend gebändigt worden durch "das Vaterländische", so hatten wir uns schon durch Hölderlin belehren lassen. Aber da er zugleich eine so starke Triebkraft war zu kulturellem Schaffen - wie möchte man ihn da noch verdammen? War da die antik-griechische Kultur nicht geradezu zwangsläufig zum Untergang verdammt? Da ihr der Wettkampf untereinander, nicht zuletzt der leidenschaftliche Wettkampf - auf vielen Ebenen - zu einer so wichtigen kulturellen Antriebskraft nötig war?

Wir verdammen diesen Ehrgeiz heute. Und das zu vielen Teilen auch zurecht. Wir verdammen ihn auch deshalb, weil wir spüren, daß es seiner nicht bedarf, um höchste kulturelle Leistungen hervor zu bringen. Wollte Beethoven "besser" sein als alle anderen und wurde er insbesondere deshalb dieses "Genie"? Nein, wir empfinden hier stark den Unterschied zwischen der antik-griechischen und der abendländischen Kultur. Wir spüren geradezu, daß die abendländischen Antriebskräfte zum kulturellen Schaffen, der Natur desselben näher stehen als die antik-griechischen Antriebskräfte. Freilich stehen die abendländischen Antriebskräfte zugleich auch in größerer Gefahr, "einzuschlafen", weil sie sich durch Wettstreit untereinander womöglich nicht genügend anspornen lassen.

Wie kam es uns schon beim ersten Studium der griechischen Geschichte***) so sonderbar vor, daß die antiken Griechen gar zu sehr herausragende Größe einzelner Persönlichkeiten im politischen Leben nicht ertragen konnten und gegen sie immer und immer wieder das Mittel der Verbannung, des Ostrakismos anwendeten. Wie unweise, ja töricht kam uns das wieder und wieder vor. Ja, deshalb sogar abstoßend. Wie uns überhaupt die rein politische Geschichte der antiken Griechen allezeit abstoßend erschienen ist. Und jetzt erkennen wir, warum sie - einem Abendländer - abstoßend erscheinen muß. Allein um der politischen Geschichte und Kultur der antiken Griechen willen würden wir ihnen jedenfalls längst nicht jene große Hochachtung entgegen bringen können, wenn wir nicht zugleich davon wüßten, daß sie von der Sonne des Homer beschienen war und daß sie zugleich so herrliche Kunst, Philosophie und Wissenschaft hervor gebracht haben. Hier bei Nietzsche aber finden wir nun eine gute Erklärung für dieses elendige Verbannen der besten Politiker, Staatsmänner und Feldherren (1):

Der ursprüngliche Sinn dieser sonderbaren Einrichtung ist aber nicht der eines Ventils, sondern der eines Stimulanzmittels: man beseitigt den überragenden einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der "Exklusivität" des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß in einer natürlichen Ordnung der Dinge es immer mehrere Genies gibt, die sich gegenseitig zur Tat reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie - ein zweites Genie.

Nietzsche ist hier ebenso genial wie die antiken Griechen. Beide zaubern uns an dieser Stelle ein Lächeln auf die Lippen. Wie heiter und voller Sonnenschein wird Weltgeschichte und Kulturgeschichte, wenn wir sie aus ihren tieferen Antriebskräften heraus verstehen. Wie lösen sich dann alle Widersprüche auf - oder erscheinen doch wenigstens in einem milderen, nicht mehr so grell-widersprüchlichen Licht. Nietzsche sagt so richtig (1):

Dort, wo der moderne Mensch die Schwäche des Kunstwerks wittert (nämlich im persönlichen Ehrgeiz des Künstlers), sucht der Hellene die Quelle seiner höchsten Kraft! 

Wir spüren deutlich: In diesem Umstand können uns die Hellenen nicht Vorbild sein. Wir sind in diesem Punkt - eigentlich - weiter. Und waren es immer schon. Vielleicht schon - sozusagen - "von Natur aus". Soll Tilman Riemenschneider in Wettstreit getreten sein mit den anderen Bildhauern seiner Zeit und nur um dieses Wettstreites willen ein so ergreifender Künstler geworden sein? Nein. Wie sehr würden wir hier das Wesen seiner Kunst verkennen. Kunst ist uns vielmehr die Abwesenheit von Wettstreit und Ehrgeiz. Und doch: Mit diesem Gedanken darf man sich den Künstlern der griechischen Antike durchaus nähern, ohne an sie Unangemessenes heran zu tragen.

Und daran wird deutlich erkennbar, daß die griechische Antike aus anderen Grundkräften lebte als das Abendland (1):

Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende Tat plötzlich dem Wettkampfe entrückt wurde und hors de concours (außer Konkurrenz), nach seinem und seiner Mitbürger Urteil war. Die Wirkung ist, fast ohne Ausnahme, eine entsetzliche.

Ob man an dieser Stelle nicht richtig liegt, wenn man in diesem Wesenszug die "orientalischen", "mediterranen" Charakterzüge zu finden glaubt, die die vorgriechische Kultur der Pelasger geprägt haben werden - so wie den ganzen übrigen Orient? Und ob die indogermanisierten Griechen mit ihren 92 % mediterraner Herkunft nur auf diese Weise diese Verhaltenstendenz in Schach halten konnten, kultivieren konnten, bändigen konnten, daß sie den Wettstreit zuließen als Mittel der Kultivierung und der Einhaltung des Maßes? 

Ist dies - in den Worten Hölderlins (s. Stgen2023) - "die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten", bzw.: zugleich behüteten wie entfachten?

Abb. 4: Porträtbüste des Miltiades d. J. (554 bis 459 v. Ztr.), Nationalmuseum von Ravenna (Wiki)

Auf eine Art, die zugleich in sich die Gefahr des Untergangs barg, weil sie über dem Wettstreit untereinander die Gemeinsamkeit vergessen konnten? 

Miltiades

Nietzsche erläutert seine Erkenntnis anhand des Lebensschicksals des Feldherrn Militades (554-489 v. Ztr.), das genau zu jenem Verstörendsten gehört, auf das man beim Studium der antik-griechischen, politischen Geschichte überhaupt stoßen kann (1):

Es gibt kein deutlicheres Beispiel als die letzten Schicksale des Miltiades. Durch den unvergleichlichen Erfolg bei Marathon auf einen einsamen Gipfel gestellt und weit hinaus über jeden Mitkämpfenden gehoben, fühlt er in sich ein niedriges rachsüchtiges Gelüst erwachen gegen einen parischen Bürger, mit dem er vor alters eine Feindschaft hatte. Dies Gelüst zu befriedigen, mißbraucht er Ruf, Staatsvermögen, Bürgerehre und entehrt sich selbst. Im Gefühl des Mißlingens verfällt er auf unwürdige Machinationen. Er tritt mit der Demeterpriesterin Timo in eine heimliche und gottlose Verbindung und betritt nachts den heiligen Tempel, aus dem jeder Mann ausgeschlossen war. Als er die Mauer übersprungen hat und dem Heiligtum der Göttin immer näher kommt, überfällt ihn plötzlich das furchtbare Grauen eines panischen Schreckens: fast zusammenbrechend und ohne Besinnung fühlt er sich zurückgetrieben, und über die Mauer zurückspringend stürzt er gelähmt und schwer verletzt nieder. Die Belagerung muß aufgehoben werden, das Volksgericht erwartet ihn, und ein schmählicher Tod drückt sein Siegel auf eine glänzende Heldenlaufbahn, um sie für alle Nachwelt zu verdunkeln. Nach der Schlacht bei Marathon hat ihn der Neid der Himmlischen ergriffen. Und dieser göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich - und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten ihn zu einer Tat der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen.

Genial gedeutet. Wir für uns müssen sagen, daß wir damit - mehr als dreißig Jahre nach Beginn unseres Studiums der Alten Geschichte im Nebenfach und dabei der politischen Zerrissenheit der griechischen Poliswelt endlich eine Deutung für diese finden, der wir Befriedigung entgegen bringen können. Wir saßen damals in Seminaren über die politische Geschichte des antiken Griechenland und konnten wieder und wieder nur den Kopf schütteln darüber, warum ein solches Wirrwarr und eine Geschichte voller Widersprüche nun als etwas "Besonderes" sollte angesehen werden. Erst als wir die erste große Liebe in unserem Leben erfuhren und uns - damit in Verbindung stehend - auf die Lektüre des Homer eingelassen haben, war uns die antik-griechische Kultur innerlich näher gekommen. Im politischen Leben der antiken Griechen findet man ihre Seele am wenigsten. Da ist sie überschattet von den widersprüchlichen Lebensschicksalen solcher bedeutender Persönlichkeiten wie der des Miltiades. Und Nietzsche geht noch weiter (1):

Bemerken wir wohl, daß so, wie Miltiades untergeht, auch die edelsten griechischen Staaten untergehen, als sie durch Verdienst und Glück aus der Rennbahn zum Tempel der Nike gelangt waren. Athen, das die Selbständigkeit seiner Verbündeten vernichtet hatte und mit Strenge die Aufstände der Unterworfenen ahndete, Sparta, welches nach der Schlacht von Ägospotamoi in noch viel härterer und grausamerer Weise sein Übergewicht über Hellas geltend machte, haben auch, nach dem Beispiele des Miltiades, durch Taten der Hybris ihren Untergang herbeigeführt zum Beweise dafür, daß ohne Neid, Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos, kurz, er wird "vorhomerisch" - und dann bedarf es nur eines panischen Schreckens, um ihn zum Fall zu bringen und zu zerschmettern. Sparta und Athen liefern sich an Persien aus, wie es Themistokles und Alkibiades getan haben; sie verraten das Hellenische, nachdem sie den edelsten hellenischen Grundgedanken, den Wettkampf, aufgegeben haben: und Alexander, die vergröbernde Kopie und Abbreviatur der griechischen Geschichte, erfindet nun den Allerwelts-Hellenen und den sogenannten "Hellenismus". –

Das von dem "Allerwelts-Hellenen" möchten wir so nicht unterstreichen. Auch noch der Hellenismus hat als kulturelle Erscheinung eine so viel größere, überragende Herrlichkeit im Vergleich zu einem großen Teil all dessen, was sich christliches Abendland schimpft, daß wir in der Bewertung hier sehr behutsam sein sollten. Aber ansonsten: Wie genial gedeutet. Ob die Bedeutung dieses Textes von Nietzsche wohl jemals genügend gewürdigt worden ist? Oder gibt es noch bessere Deutungen zu den tieferliegenden Lebensgesetzen der antik-griechischen Kultur?

Wir verstehen auch gleich, warum Griechenland gegen das Perserreich bestehen konnte. Weil es einen edlen Wettstreit gab zwischen allen Poleis, im Kampf gegen die Perser zu bestehen und sich hervorzutun. Wir verstehen, warum es diesen Wettstreit gab zwischen Athen und Sparta. Wir verstehen, warum das antike Griechenland nicht in einen ähnlichen Wettstreit treten konnte mit dem persischen Großreich: Es lebte aus ganz anderen Triebkräften heraus als die antiken Griechen. Wie oft sind die Spartaner aufgefordert worden, Krieg gegen das persische Großreich zu führen, das militärisch leicht zu besiegen wäre. Sie ahnten vermutlich nur zu gut, daß diese Hybris ihnen nicht gut tun würde.

Und der "panische Schrecken", den wir bei den antiken Griechen wieder und wieder finden, auch bei den größten Helden, und der schon so manchem Kulturpsychologen als so sonderbar fremd und nicht-germanisch erschienen ist - auch er wird nicht nur Ausfluß des damaligen Aberglaubens sein, nein, er wird Ausfluß der fortbestehenden angeborenen Verhaltenstendenzen der 92 % mediterraner Herkunft sein. Wenn wir solche Dinge verstehen, verstehen wir gleich so viel anderes außerdem.

2.200 v. Ztr. - Als die "Häutung" der Pelasger durch Apollon begann

Aber kommen wir auch noch einmal auf die Häutung des Marsyas bei lebendigem Leibe zurück durch den erhabenen griechischen Gott Apollon: Man möchte fast sagen, daß so die griechische Kultur entstand während der zerstörerischen Zuwanderung der Indogermanen um 2.200 v. Ztr., die grob 50 % Steppengenetik in sich trugen (so wie heute noch die Skandinavier): sie häuteten die Vorgängerbevölkerung, die der Pelasger, sie wandelten sie dabei um in ein Volk von Apollon-Verehrern und -Anhängern. Aber das war nur möglich durch "Häutung". Ob eine solche Deutung richtig ist, angemessen ist? Ob die Ahnung von einer solchen Vergangenheit in diesem Mythos mitschwingt? 

Ob den antiken Griechen unterschwellig bewußt war, daß sie vom Typ her eigentlich mehrheitlich "Marsyas" sind, und daß sie erst grausam gehäutet werden mußten, bevor sie "Apollon" werden konnten, apollinisch, homerisch? Wir möchten diesen Gedanken als Hypothese in den Raum stellen.

Völkergeschichte ist - mitunter - so grausam. Und - mitunter - entspringt solcher Grausamkeit, solcher grausamen Mißhandlung höchste Kultur. Eigentlich sprechen alle mythologischen Vorstellungen der antiken Griechen über ihre dunkle Vorzeit von solcher Grausamkeit, von solcher Mißhandlung, insbesondere der Mythos rund um Orpheus und Dionysos.

Ergänzung 10.6.23: Darf man es womöglich so sagen: Wollten die mediterranen Menschen von heute in den kulturschaffenden Sog von einst kommen, wollten sie in den kulturschaffenden Sog ihrer antik-griechischen Vorfahren zurück kehren: Womöglich müßten sie dafür in sich jenen feurigen Ehrgeiz entfachen und jene Wettkämpfe wiederbeleben, die den antiken Griechen für ihr kulturelles Schaffen und politisches Wirken so nötig und unabdingbar waren.

Trauma und Trauma-Heilung bei den antiken Griechen

(1.7.23) Wir möchten noch weitere Gedanken anfügen, die sich inzwischen bei uns ergeben haben. Wenn wir im Folgebeitrag (Stgen2023) hören, wie Sokrates im "Phaidros" die Worte zitiert

"Von dem, was etwa altem Götterzorn entsprang
In einzelnen Geschlechtern,"

werden wir ganz überraschend aufmerksam auf den Umstand, daß Traumata auch schon in vorgeschichtlichen und antiken Zeiten von Generation zu Generation weiter gegeben worden sein können, nein, weitergegeben worden sind - so wie heute (siehe z.B. Thema "Kriegsenkel" [Wiki], zu dem wir mehrere Artikel in Vorbereitung haben). Aber wie viel "schöner", angemessener erscheint es, diese Traumata als einen "Götterfluch" zu interpretieren, an dem der einzelne gar keine "Schuld" hat, an dem er schuldlos leidet - so wie heute. 

Wie viel schöner ist es überhaupt, Traumata in Beziehung zu setzen zu dem Verhältnis des Menschen zu den Göttern, als Traumata - so wie heute - allein aus einem atheistischen Weltbild heraus "heilen" zu wollen. Oh, ihr unseligen Menschen von heute! Ihr wollt Traumata nicht mehr als einen "alten Götterfluch" erachten? Ihr wollt so viel klüger sein als die antiken Griechen? Nie und nimmermehr. Die Griechen waren viel dichter am Kern der eigentlichen Thematik dran. In allem geht es immer um das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott, um die Erschütterung dieses Verhältnisses, um die Entwurzelung aus Gottvertrautheit, aus Gottgeborgenheit. Wie soll Traumaheilung möglich werden, wenn wir orientierungslos im wabernden Raum der Beliebigkeit weltanschaulicher Möglichkeiten mehr taumeln als gehen? Während allein eine klare und entschiedene Ausrichtung auf das Göttliche selbst heilsam sein könnte?  In entschiedener Abwendung, Abstoßung von allem Gottlosen, Kulturlosen - ?

Jedenfalls werden wir damit zugleich aufmerksam darauf, wie die antiken Griechen Traumata - unter anderem - "heilten". Nämlich - unter anderem - durch das Theater, das sie - womöglich vor allem zu diesem Zwecke - erst "erfunden" haben. In der Tragödie wird ein erschütterndes Geschehen auf eine Bühne gestellt, wird auf dieser "nachgespielt". (Und zwar in "Dionysien". Dionysos also, der Gott des Spiels und der Verwandlung, sowie der Ekstase ist zugleich der Gott der Heilung.) Die gesamte Stadt, die gesamte Gemeinschaft nimmt erschüttert Anteil an dem Geschehen auf der Bühne. Gerade jene, die besonders traumatisiert worden sind durch irgendein Geschehen oder die ein Trauma in der Familie über Generationen hinweg ererbt erhalten haben, können - inmitten der Gemeinschaft sitzend - Heilung, "Katharsis" erfahren während der Aufführung. Und in ihrer Ausrichtung auf das Göttliche eine innere Erneuerung und Verlebendigung finden.

Und zwar - letztlich - ganz ähnlich wie Trauma-Heilung auch bei den heutigen Turkana-Kriegern in Ostafrika - traditionellerweise - geschieht (2). Nämlich indem die Traumatisierten in die Mitte der Gemeinschaft genommen werden, und indem man ihnen zuhört, an ihrem Schicksal Anteil nimmt. Und zwar die gesamte Gemeinschaft (auch dazu haben wir seit 2020 einen Artikel in Vorbereitung).

Welche ganz neue Bedeutung würden Theater heute erhalten, wenn man sie bewußt als Mittel der Trauma-Heilung nutzen würde. (Und nicht für all die erbärmlichen, völlig sinnlosen, nutzlosen oder seichten Spielereien und Schreieren, für die sie heute - viel zu oft - genutzt werden.)

Google Scholar-Suche zu dem Thema "psychological trauma ancient greece" liefert tatsächlich überraschend viele und konkrete weiterführende Ergebnisse, die zu vielen neue Gedanken Anlaß geben können und die Perspektive bedeutend erweitern. So allein der Gedanke in dem Aufsatz "Phäaken-Therapie in der Odyssee des Homer", in dessen Zusammenfassung es so schön prägnant formuliert wird (3, S. 47):

Stellen Sie sich einen von der normalen Gesellschaft isolierten Ort vor, dessen Bewohner einen erschöpften, mittellosen Veteranen aufnehmen, ihm Kleidung geben, ihm zu Essen geben und baden, ihre ganze Aufmerksamkeit seiner Anwesenheit widmen, für Geschenke, Unterhaltung und sportliche Erholung sorgen und zusehen, wie er in Tränen ausbricht, wenn er an seine Vergangenheit erinnert wird, die sich seine persönliche Geschichte aufmerksam anhören, die ihn sogar nach weiteren Einzelheiten fragen und die ihn weiter reisen lassen mit einem Vorrat an Reichtümern versehen, die er bei seiner Rückkehr nach Hause verwenden kann. Wie könnte man einen solchen Ort nennen? Ein Sanatorium? Eine Reha-Einrichtung?

Was für ein herrlicher Gedanke. Man möchte es erst gar nicht glauben. Man blickt sofort in das entsprechende Kapitel von Homer's Odyssee bei den Phäaken hinein. Und findet alles bestätigt! Und findet in diesem einen Kapitel eine Beschreibung, wie Traumaheilung stattfinden sollte, wie eine Reha-Einrichtung eingerichtet sein sollte. Und wir merken allein durch dieses eine Buchkapitel, wie viele neue Erkenntnisquellen uns aufgetan sind, wenn wir uns mit dem Thema "Trauma und Traumaheilung bei den antiken Griechen" beschäftigen. 

Uns kommt aus den Zusammenhängen des bisherigen Nachdenkens über die antiken Griechen auch der folgende Gedanke: Während mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit in geheimen, elitären satanistischen und okkulten Psychosekten, die hinter den Geheimdiensten weltweit stehen, aufgrund Jahrhunderte langer "Erprobung" bei der "traumabasierten Bewußtseinsontrolle" durch zahllose Folterungen von Geburt an gezielt und methodisch die multiple Persönlichkeitsstörung hervorgerufen wird, um "willige Vollstrecker" der Befehle geheimer Schattenregierungen in den weltweiten "gelenkten Demokratien" von heute heranzuziehen, könnten in früheren Jahrtausenden schwere Traumatisierungen auch dazu  geführt haben, ganze Völker hinauf zu reißen zu Edelsinn und Schönheits-Trunkenheit - so wie die antiken Griechen, und zwar durch "Häutung bei lebendigem Leibe". Wobei sie dann später - dennoch - gelegentlich mit einer leichten Trauer auf ihr früheres Dasein als "Marsyas" zurück schauen konnten.

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*) Eine Schrift, die - nebenbei gesagt - auch Thema der mündlichen Abschlußprüfung im Nebenfach Philosophie des Verfassers dieser Zeilen bei Professor Rudolf Malter in Mainz im Jahr 1993 war.
**) Unter anderem auch in Zurückweisung des materialistischen Sozialdarwinismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der so viele üble Folgen mit sich gebracht hatte. Darunter unter anderem den Gedanken vom "Volk ohne Raum" auf deutscher Seite und umgekehrt die Umvolkungen aufgrund des Deutschenhasses in den freimaurerischen, sowjetischen und nach-sowjetischen Eliten weltweit zwischen 1914 und 1945, sowie weiterwirkend bis heute.
***) Am Seminar für Alte Geschichte der Universität Mainz bei Professor Bellen (1927-2002) (Wiki) und anderen in den Jahren zwischen 1989 und 1993.

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  1. Nietzsche, Friedrich: Homers Wettkampf (1872). In: Fünf Vorreden zu ungeschriebenen Büchern. Für Frau Cosima Wagner in herzlicher Verehrung und als Antwort auf mündliche und briefliche Fragen, vergnügten Sinnes niedergeschrieben in den Weihnachtstagen 1872. In: ders.: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 263-267 (Zeno)
  2. Matthew R. Zefferman, Sarah Mathew: An evolutionary theory of moral injury with insight from Turkana warriors. In: Evolution and Human Behavior, Available online 16 July 2020, https://doi.org/10.1016/j.evolhumbehav.2020.07.003, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1090513820300829
  3. Meineck, P., Konstan, D. (eds) Combat Trauma and the Ancient Greeks. The New Antiquity. Palgrave Macmillan, New York 2014, https://link.springer.com/book/10.1057/9781137398864

Montag, 8. Mai 2023

Die Abfolge der Völker in der europäischen Eiszeit

Die Gravettien-Kultur (34.000 bis 24.000 vor heute) der Eiszeit war von zwei Herkunftsgruppen getragen:
"Fournol"-Herkunft im Westen und "Věstonice"-Herkunft im Osten
Die östliche der beiden Herkunftsgruppen - zwischen Rußland und Sizilien - starb auf dem Höhepunkt der Eiszeit aus
- Sie wurde durch die Völkergruppe der "westeuropäischen Jäger und Sammler" ersetzt, die vom Balkan kam (Villabruna/Oberkassel)
- Nach 14.000 vor heute breitete sich eine modernere Variante dieser Völkergruppe von Nordwest-Italien aus
- In Rußland wurde die "Věstonice"-Herkunft ersetzt durch die Völkergruppe der "osteuropäischen Jäger und Sammler" (Sidelkino)

Bislang deutet sich durch die Archäogenetik an, daß es in der Menschheitsgeschichte keinen Kontinent weltweit gegeben hat, auf dem es so viele genetische und kulturelle "Total"-Umbrüche im Völkerleben gegeben hat wie in Europa. 

Abb. 1: Grafische Zusammenfassung der Ergebnisse zur Völkergeschichte der europäischen Eiszeit a) aus Sicht der Archäogenetik, b) aus Sicht der Archäologie (aus 1) - Für die Übergangsphase 25.000 bis 20.000 gibt es noch keine sequenzierten Menschenfunde

In Ostasien scheint es zum Beispiel von der Eiszeit bis heute viel mehr genetische und - gegebenenfalls auch - kulturell-sprachliche Kontinuität gegeben zu haben - zumindest im Vergleich mit Europa. Eine ähnliche größere Kontinuität deutet sich auch für den Vorderen Orient an: Trotz der vielen Völker und Kulturen, die dort kamen und gingen, scheinen noch heute die Menschen im Vorderen Orient genetisch Nachkommen von im wesentlichen drei mesolithischen, bzw. frühneolithischen Völkergruppen zu sein, die in genetischer und - gegebenenfalls - auch in kulturell-sprachlicher Kontinuität bis heute fortbestehen. 

All das kann für Europa am wenigsten gesagt werden. Es mag das aber auch daran liegen, daß die Menschheitsgeschichte in Europa durch die Archäogenetik bislang besser erforscht ist als auf allen anderen Kontinenten. Jedenfalls geht die große genetische und kulturelle Diskontinuität in der Abfolge der Völker und Kulturen auch schon in der europäischen Eiszeit aus einer neue Archäogenetik-Studie hervor, und zwar überraschend prononciert (1) (Abb. 1).

Sie entdeckt eine als solche bislang unbekannte, große ausgestorbene Völkergruppe, nämlich die Věstonice-Herkunftsgruppe aus der Zeit vor 30.000 bis vor 25.000 Jahren. Sie war über einen Raum hinweg verbreitet, der von einer Region 200 Kilometer nördlich von Moskau (Fundort Sungir) über die Don-Region (Fundort Kosteniki) bis in den böhmischen Raum hinein reichte, und der sich von dort über Österreich hinweg bis hinunter ins südliche Italien erstreckte. 

Bislang hatte man diese Völkergruppe der eiszeitlichen Kultur des Gravettien zugerechnet, die auch in Westeuropa verbreitet war. Die Genetiker erkennen aber nun, daß diese große Kultur des Gravettien aus zwei genetisch sehr unterschiedlichen Völkergruppen bestand.

Wisternitz an der Thaya (tschechisch Věstonice) 

Die Věstonice-Herkunftsgruppe ist benannt nach dem tschechischen Dorf Věstonice, dem vormals deutschen Dorf Unter-Wisternitz an der Thaya in Südmähren. Bei diesem Dorf handelt es sich um ein bis zum Jahr 1919 zu 99 % deutschsprachiges Dorf, in dem auch bis 1945 nur bis zu 10 tschechische Einwohner lebten (Wiki). Es war Teil des "Sudetenlandes". 

Unter-Wisternitz liegt 13 Kilometer nördlich der heutigen, 1919 gezogenen österreichisch-tschechischen Grenze. Im deutschsprachigen Raum gäbe es also Gründe genug, diese Herkunftsgruppe nicht Věstonice-Herkunftsgruppe, sondern Wisternitz-Herkunftsgruppe zu nennen.

Abb. 2: Unter-Wisternitz an der Thaya (tschechisch Věstonice), Postkarte

Wisternitz liegt 40 Kilometer südlich von Brünn und 100 Kilometer nördlich von Wien. Die dortige Gegend an der Thaya ist Weinanbau-Gebiet (WikiCom). Wisternitz liegt am Fuße der Pollauer Berge (Wiki). Über die dortigen Ausgrabungen lesen wir (Wiki): 

Unter-Wisternitz liegt am Fuße der Pollauer Berge sowie am Ufer des "südmährischen Meeres", das in den 1980er Jahren durch die Aufstauung der Thaya entstanden ist. (...) Archäologische Ausgrabungen (seit 1924) legten Siedlungsspuren und Fossilien von Mammutjägern aus der Zeit des jungpaläolithischen Gravettiens frei. Von besonderer Bedeutung sind mehrere Bestattungen, darunter eine 1986 gefundene Dreifachbestattung. In der sogenannten "Hütte des Schamanen" wurden Tierfiguren aus gebranntem Löß sowie die Überreste zweier Brennöfen gefunden (älteste Objekte dieser Art neben Krems-Wachtberg und Krems-Hundssteig). Das berühmteste Fundstück ist die ebenfalls aus Ton gebrannte Venus von Dolní Věstonice.

Die ausgegrabene Siedlungszone der eiszeitlichen Menschen lag in der Talaue und wurde durch einen Felshang geschützt (WikiCom). Sie datiert auf 24.000 v. Ztr. (Wiki). 2.300 Keramikfiguren wurden dort gefunden, ebenso viele Mammutknochen. 

Beim flüchtigen Querlesen der archäogenetischen Studie (1) war uns überhaupt nicht klar geworden, was wir so deutlich dann erst in einer zugehörigen deutschsprachigen Presseerklärung gelesen haben, in der es heißt (MPG2023) (2):

Überraschenderweise stellte das Forschungsteam fest, daß die Menschen der Gravettien-Kultur, die vor 32.000 bis 24.000 Jahren auf dem europäischen Kontinent verbreitet war, nicht näher miteinander verwandt waren. Zwar verband sie eine gemeinsame archäologische Kultur: Sie verwendeten ähnliche Waffen und produzierten ähnliche, mit Tiergesichtern verzierte Schnitzereien. Genetisch jedoch unterschieden sich die Populationen im Westen und Südwesten (heutiges Frankreich und Iberien) von den zeitgleich lebenden Populationen in Zentral- und Südeuropa (heutiges Tschechien und Italien).
So findet sich der Genpool der Jäger und Sammler dieser Zeit aus dem Westen kontinuierlich über mindestens 20.000 Jahre: Ihre Nachkommen, die der Solutrean- und Magdalenien-Kultur zugeordnet werden, hielten sich während des Kältemaximums in Südwesteuropa auf und breiteten sich später Richtung Norden und Osten über Europa aus. „Mit diesen Funden können wir erstmals direkt die These untermauern, daß die Menschen während der kältesten Phase der letzten Eiszeit Zuflucht in Südwesteuropa suchten, das klimatisch günstigere Bedingungen bot“, sagt Erstautor Cosimo Posth.
Als weiterer Rückzugsort für die Menschen während des LGM galt bisher die italienische Halbinsel. Für diese These fand das Forschungsteam allerdings keine Belege, im Gegenteil: Die in Zentral- und Südeuropa lebenden Jäger und Sammler der Gravettien-Kultur sind dort nach dem Kältemaximum genetisch nicht mehr nachweisbar und gelten damit als ausgestorben. Stattdessen ließen sich dort Menschen mit einem neuen Genpool nieder. „Wie wir sehen konnten, unterscheiden sich die dort lebenden Individuen, die mit einer späteren Kultur (das Epigravettien) in Verbindung gebracht werden, genetisch stark von den vorherigen Bewohnern der italienischen Halbinsel“, sagt Mitautorin He Yu. „Vermutlich kamen diese Menschen um die Zeit des glazialen Maximums vom Balkan nach Norditalien und breiteten sich bis nach Sizilien aus.“

Insbesondere das Aussterben einer vormals über große Räume verbreiteten Völkergruppe (Věstonice) ist eine sehr überraschende Neuerkenntnis. Ebenso die Tatsache, daß die nachfolgenden westeuropäischen Jäger und Sammler nicht aus Italien, sondern vom Balkan stammen. 

Das weckt Interesse, sich das in der Studie selbst noch einmal genauer anzuschauen ....

Zunächst einmal gilt weiterhin, was wir schon erörtert hatten (Stgen2016): Die ersten anatomisch modernen Menschen, die zwischen 45.000 und 40.000 vor heute nach Europa zugewandert waren, sind um 40.000 vor heute dort schon wieder ausgestorben. Sie hatten sich zum Teil noch sehr stark mit den Neandertalern vermischt.

34.000 bis 24.000 vor heute - Fournol- und Věstonice-Herkunft ("Before the LGM")

Für die Zeit nach 40.000 v. Ztr. können die schon erwähnten zwei Herkunftsgruppen unterschieden werden (Nature2023) (1):

... ein Věstonice-Cluster (...) und ein Fournol-Cluster 
... (2) a Věstonice cluster including Gravettian-associated individuals from central–eastern and southern European sites (Dolní Věstonice, Pavlov, Krems-Wachtberg, Paglicci and Ostuni), and (3) a Fournol cluster (hereafter, Fournol cluster or ancestry) comprising Gravettian-associated individuals from western and southwestern European sites (Ormesson, La Rochette, Fournol and two Serinyà cave sites (Mollet III and Reclau Viver)). The previously described Věstonice cluster, including a newly reported 29,000-year-old individual from Paglicci cave (Paglicci 12) in southern Italy, is closely related to the previously published genomes from Sunghir and Kostenki 12 in western Russia, which are dated to 34 ka and 32 ka, respectively. The newly defined Fournol cluster is closely related to Aurignacian-associated individuals from Belgium dated to 35 ka (Goyet Q116-1 and the newly reported Goyet Q376-3 individual). Notably, and contrary to the report by Fu et al., another Gravettian-associated population from central–western Europe (Goyet in Belgium, n = 6 individuals) is both geographically and genetically intermediate between the Věstonice and Fournol clusters. The similarity between Goyet Q116-1 and Goyet Q376-3 and the Fournol cluster is also observed at the mtDNA level, with both groups including individuals who carried mtDNA haplogroup M, which has not been found in European individuals from after the LGM24 (Extended Data Figs. 1 and 2).

Die Věstonice-Herkunftsgruppe ist in der Zeit nach 24.000 Jahre vor heute in allen vormals von ihr besiedelten Gegenden - zwischen Tschechien und Sizilien - ausgestorben! Und das, obwohl ihre Grabsitten auf den ersten Blick ein wenig "fortschrittlicher" anmuten als die Grabsitten der westlichen Fournol-Herkunftsgruppe. Es war das auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit (Englisch "LGM") zwischen 24.500 und 18.000 vor heute (Wiki).

Abb. 3: Gravettien-Kultur - Getragen von zwei Herkunftsgruppen: Věstonice (lila) und Fournol (hellbraun) - Die nach 40.000 v. h. ausgestorbenen ersten Zuwanderer ganz links (dunkelbraun) (aus 1)

Von der Fournol-Herkunftsgruppe, die genetisch der bislang besser bekannten, jüngeren Goyet-Herkunftsgruppe nahesteht, war die Gravettien-Kultur zwischen Spanien und dem heutigen Belgien getragen (1):

Die genetischen Unterschiede spiegeln sich in Ungleichheiten der Bestattungspraxis (...) wieder. 
This genetic distinction coincides with dissimilarities in mortuary practice among genetically analysed Gravettian-associated individuals from different parts of Europe. Individuals in western and southwestern Europe related to the Fournol cluster are consistently deposited in cave sites and occasionally exhibit anthropogenic marks whereas individuals related to the Věstonice cluster are buried with grave goods and/or personal ornaments and ochre in open air or cave sites in central-eastern and southern Europe, respectively.

Menschen der westlichen Fournol-Herkunftsgruppe bestatteten ihre Toten in Höhlen und die Knochen weisen Bearbeitungsspuren auf (die zum Teil auch mit Kannibalismus in Verbindung gebracht werden können).

Die Menschen der Věstonice-Herkunftsgruppe hingegen wurden mit Grabbeigaben, sowie mit Schmuck und Ocker bestattet. 

Abb. 3a: Größte Ausdehnung des Eises auf dem letzten Höhepunkt der Eiszeit um 20.000 vor heute siehe blaue gestrichelte Linie ("Brandenburg-Phase") (Wiki)

Es macht Sinn, sich die Verbreitung des Eisschildes klar zu machen auf dem letzten Höhepunkt der Eiszeit: Während Teile Westeuropas eisfrei blieben, war Osteuropa viel stärker von den Eiszeiten betroffen.

17.000 bis 14.000 vor heute - Magdalenien - Die "westeuropäischen Jäger und Sammler" ersetzen Vorgängerpopulationen  ("Post-LGM")

Über das nachfolgende Epigravettien in Italien (17.000 bis 13.000 v. h.) schreiben die Forscher dann (1):

Wir berichten von Genom-Daten von vier Individuen ... aus Norditalien ... und Sizilien ... Alle fallen in das Villabruna-Cluster.
We report genomic data from 4 individuals, including 3 approximately 13,000-year-old genomes from northeastern Italy (Pradis 1), northwestern Italy (Arene Candide 16) and Sicily (San Teodoro 2), as well as increased genome-wide coverage from Tagliente 215 dated to 17 ka. (...) We find that all of the newly and previously reported Epigravettian-associated individuals fall within the Villabruna cluster.

Die hier erwähnte Arene Candide-Höhle (Wiki)  liegt an der italienischen Riviera zwischen Genua und Nizza, 75 Kilometer westlich von Genua.

Daß das Villabruna-Cluster in Italien verbreitet war, war zwar schon zuvor bekannt. Nicht bekannt war, daß es sich genetisch deutlich von der Vorgänger-Population, nämlich der Věstonice-Herkunftsgruppe unterscheidet, und daß man deshalb hier ein "genetic replacement" unterstellen muß. Und das, obwohl doch Italien von der Eiszeit klimatisch viel weniger betroffen war als die weiter nördlich gelegenen Regionen. Unsere Vermutung: Vielleicht war die Wiederbesiedlung vom Balkan her früher möglich als von Italien her und ist deshalb eine andere Völkergruppe den Restbeständen der Věstonice-Herkunftsgruppe in Italien zuvor gekommen. Die Villabruna-Herkunft findet sich jedenfalls sogar schon um 19.000 Jahre vor heute auch am Fundort El Miron in Spanien (1):

Unsere Stammbaum-Analyse deutet auf Norditalien als möglicher Ankunftsort dieses Epigravettien-Genpool's auf der italienischen Halbinsel. (...) Zusammen mit der genetischen Nähe der Villabruna-Herkunftsgruppe zu vorgeschichtlichen und heutigen nahöstlichen Herkunftsgruppen wird der Balkan als Quelle für die hereinkommende Epigravettien-Population nahegelegt. (...) Das letzte Eiszeit-Maximum könnte einen Korridor südlich der Alpen für Ost-West-Ausbreitung von Menschen offen gelassen haben, der genetisch Jäger-Sammler-Populationen vom Balkan bis nach Iberien miteinander verbunden hat, womöglich auch über Ausbreitung entlang der Küsten des Mittelmeeres, die damals einen niedrigeren Wasserstand aufgewiesen haben. 
Our phylogeographic analysis points to northeastern Italy as the possible entry point of the Epigravettian-associated gene pool in the Italian peninsula. This finding, in conjunction with the genetic affinity of the Villabruna cluster to ancient and present-day Near Eastern ancestries (...), suggests the Balkans as a source of the incoming Epigravettian-associated population. (...) The LGM could thus have created a corridor south of the Alps for east-to-west human movements that genetically connected hunter-gatherer populations from the Balkans to Iberia, possibly also via dispersals along existing lower-sea-level coasts.

Die reiche und lange Geschichte der Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler, der wir schon einen eigenen Blogartikel gewidmet hatten (Stgen2021), erhält damit neue zeitliche und räumliche Tiefendimensionen. Das Bild ihrer Geschichte wird noch differenzierter. Zu ihrer Frühgeschichte auf dem Balkan und ihrer Vermischung mit Jägern und Sammlern in Anatolien, die zur Ethnogenese der anatolisch-neolithischen Völkergruppe beigetragen hat, war schon 2020 eine Studie erschienen (Stgen2020).

Abb. 4: Für die Zeit nach der Eiszeit und im Mesolithikum sehen wir dann innerhalb von Europa drei Herkunftsgruppen: Goyet, Oberkassel-Villabruna und Sidelkino (aus 1)

Die Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler (nach wichtigen Fundorten auch "Oberkassel-Villabruna" genannt) stammt somit nicht - wie ursprünglich angenommen - aus einem Rückzugsraum in Italien, sondern vom Balkan. Sie ist die dominierende europäische Völkergruppe des nacheiszeitlichen Mesolithikums und hat sich in Rückzugsräumen (zum Beispiel in Höhenlagen der Mittelgebirge oder an den Ufern von Gewässern) bis in das Mittelneolithikum gehalten. 

Sie hat dann noch einmal überall in Europa zur Ethnogenese vieler bedeutender mittelneolithischer Völker beigetragen. Und sogar noch in der Frühbronzezeit treten Menschen dieser Vorfahrengruppe mitunter genetisch unvermischt auf, etwa im Ostseeraum (Stgen2021). Typisch für sie sind dunkle Haut und blaue Augenfarbe. Diese Körpermerkmale werden auch von dieser neuen Studie bestätigt (1; Anhang, S. 104f): 

Der blauäugige Phänotyp tritt in Europa zum ersten mal (...) mit der Villabruna-Herkunftsgruppe auf, in der er zu 93 % anzutreffen ist. Dieser Phänotyp wurde vererbt an die Jäger-Sammler von Oberkassel und ist ebenso in hoher Häufigkeit anzutreffen bei den baltischen und skandinavischen Jägern und Sammlern, die eine Mischherkunft zwischen Oberkassel und Sidelkino in sich tragen.  
The blue-eye phenotype first appeared in Europe in Epigravettian-associated populations carrying Villabruna ancestry, with an almost fixed alternative allele frequency at 92.6% (95% CI 78.8-98.7%). This phenotype was inherited by hunter-gatherers with Oberkassel (WHG) ancestry and is also present in high frequency among Baltic HG and SHG who carry a mixed ancestry between Oberkassel and Sidelkino.

Die hier erwähnte "Sidelkino-Herkunftsgruppe" ist nun identisch mit jener Vorfahrengruppe, die bislang "osteuropäische Jäger und Sammler" genannt wurde. Da die westeuropäischen Jäger und Sammler ein "genetic replacement" in Italien - und zu nicht geringen Anteilen in Spanien - bewirkt hat, scheint sie doch leicht andere - weiter entwickelte? - Überlebensstrategien aufgewiesen zu haben als die bis dahin in Europa lebenden Herkunftsgruppen. Vielleicht war sie auch gegenüber anderen Herkunftsgruppen - sozusagen - "aggressiver" und weniger "tolerant". Oder umgekehrt, die Věstonice-Gruppe hat sich aggressiv und intolerant gegenüber dieser neuen Herkunftsgruppe gezeigt und ist deshalb an Auseinandersetzungen mit dieser oder aufgrund der Auflösung des inneren sozialen Zusammenhangs ausgestorben, ohne sich noch mit den westeuropäischen Jägern und Sammlern zu vermischen. (Alles Hypothesen, die sich beim derzeitigen Kenntnisstand vorläufig aufstellen lassen, so möchten wir meinen.)

Die Herkunftsgruppe der westeuropäischen Jäger und Sammler hat sich mit der Fournol-Herkunftsgruppe zur Goyet-Herkunftsgruppe vermischt. Und sie hat sich in Skandinavien und im Baltikum mit der Sidelkino-Herkunftsgruppe vermischt, also mit den osteuropäischen Jägern und Sammlern (1):

Während El Miron etwa 43 % Villabruna-Herkunft aufweist, weisen alle anderen mit der Magdalenien-Kultur in Verbindung stehenden Individuen eine niedrigeren Anteil dieser Herkunft auf (19 bis 29 %).
The Goyet Q116-1 ancestry survived in all studied Magdalenian-associated genomes besides in Gravettian and Solutrean-associated individuals from southwestern and western Europe (Fig. 1). Notably, the Fournol ancestry provides a better proxy than Goyet Q116-1 for the genetic component found in the GoyetQ2 cluster and in El Mirón (Supplementary Data 2.H). However, using f4-statistics, we show that all Magdalenian-associated individuals, and not only El Mirón, carry Villabruna-related ancestry when compared to the Fournol cluster (Supplementary Data 2.H). This affinity is even stronger towards Epigravettian-associated individuals from western and central Italy and Sicily (group 2 and group 3, respectively) than to those from northern Italy (group 1) (Supplementary Data 2.F).
We thus modelled individuals belonging to the GoyetQ2 cluster and El Mirón as a mixture between the Fournol and Arene Candide genomes as proxies to represent the Fournol and Villabruna ancestries, respectively, in Magdalenian-associated groups (Fig. 4a). Besides El Mirón, who has around 43% Villabruna ancestry, all other Magdalenian-associated individuals have a lower proportion of this component (19-29%)

Die Ausbreitung der "westeuropäischen Jäger und Sammler" geht also in Italien mit einem genetic replacement einher, während es in Westeuropa und im Ostsee-Raum zur Vermischung mit Angehörigen anderer Herkunftsgruppen kommt.

Wenn man sieht, daß hier ab 17.000 vor heute eine neue Herkunftsgruppe in Europa auftritt, die vom Balkan kommt, dann stellt sich die Frage, welche Vorgänge es parallel dazu in Osteuropa gegeben hat. Dazu gleich noch mehr. 

In "Figure 4a" der Studie sehen wir auch Menschenfunde der Magdalenier-Kultur der Goyet-Herkunftsgruppe verzeichnet für die Maszycka-Höhle bei Krakau. In ihr wurde erstmals 1883-85 gegraben (Wiki) (mit Google-Übersetzer):

Die Ergebnisse ihrer Erforschung zeigen, daß sie nur für sehr kurze Zeit, für zwei oder drei Monate während des Jahres bewohnt war. Es handelte sich um ein Jagdlager, in dem dramatische Ereignisse stattfanden. Ungefähr 15.000 vor heute starb dort eine Gruppe von etwa 16 Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts eines plötzlichen Todes. Es handelte sich um einen für die damalige Zeit typischen Familienverband von umherziehenden Sammlern und Jägern. Die Toten wurden dann gegessen - davon zeugen gebrochene Knochenfragmente, auf denen Schnitte mit Feuersteinwerkzeugen, Verbrennungen und Bisse (Spuren von menschlichen Zähnen?) sichtbar sind. Wahrscheinlich wurden sie in der Höhle überrascht (vielleicht nachts durch die obere Öffnung), getötet und gegessen. Ihre Werkzeuge und andere Gegenstände wurden von den Angreifern nicht mitgenommen. Der Ausgräber Ossowski fand in der Höhle eine große Anzahl von Knochen- und Feuersteinwerkzeugen sowie Reste von Tierknochen. Unter den Tierknochen waren Knochen und Zähne von Tarpan (Equus ferus) und Rentieren (Rangifer tarandus) am zahlreichsten. Es gab auch einen einzelnen Schädel eines Bison und einer Saiga-Antilope mit Spuren von Ocker.

Das Verbreitungsgebiet der Magdalenien-Goyet-Herkunftsgruppe reichte also in der Zeit 15.000 Jahre vor heute von Spanien bis in die Gegend von Krakau. Aus dieser Völkergruppe sind die berühmten Höhlenmalereien in Frankreich hervor gegangen.

In "Figure 4a" der Studie finden wir unter anderem die Genomdaten von zwei Individuen aus der Zeit um 13.000 v. Ztr. aus der Karsthöhle "Hohle Fels" zwanzig Kilometer westlich von Ulm verzeichnet. Sie gehörten zur Magdalenien-Kultur. Auch sie weisen den genannten Anteil von 19 bis 29 % westeuropäische Jäger-Sammler-Herkunft auf.*)

So kam die Goyet-Herkunftsgruppe zustande, die aus der Fournol-Herkunftsgruppe hervorging aber mit Einmischung westeuropäischer Jäger-Sammler-Genetik (s. Abb. 4). Die vormalige Fournol-Herkunftsgruppe ist - in leicht veränderter Form - in der Goyet-Herkunftsgruppe aufgegangen. Diese hat sich in Spanien noch bis in die Bronzezeit gehalten. 

Zwischen 14.000 und 5.000 vor heute ("Post-14 ka to Neolithic")

Eine ganz neue Dynamik im Völkerleben Europas sehen wir ab der Zeit um 14.000 vor heute. Wir sehen für diesen Zeitraum innerhalb Europas drei Herkunftsgruppen: Goyet, Oberkassel-Villabruna und Sidelkino (Abb. 4), wobei aber Oberkassel (oder eine ähnliche Herkunft) früh zur Ethnogenese von Sidelkino beiträgt, während sich Sidelkino mit Oberkassel bis nach Nordspanien ausbreitet. Die Forscher sprechen von einem (1) ...

... umfangreichen genetischen Umbruch beginnend um 14.000 vor heute bei den mittel- und westeuropäischen Jägern und Sammlern, der in Verbindung steht mit vielfältigen Techno-Komplexen - Federmesser, Azilien und andere endpaläolithische Gruppen - trotz beträchtlicher technologischer Kontinuität mit dem vorhergehenden späten Magdalenien. Diese weit verbreitete Herkunft (das Oberkassel-Cluster, auch bekannt als westeuropäische Jäger und Sammler) steht in engstem Bezug zu einem Epigravettien-Individuum aus Nordwest-Italien, was nahelegt, daß eine Ausbreitung in das kontinentale Europa hinein von der Westseite der Alpen aus begann, nicht von der Ostseite. Mehr noch, das fast vollständige genetische Replacement jenes Gen-Pools, der in Verbindung stand mit der Magdalenien-Kultur, wirft die Hypothese auf, daß Teile von Europa unterschiedlich besiedelt waren während der abrupten klimatischen Veränderung, die um 14.700 vor heute mit der Bølling-Allerød-Erwärmung einher ging, wodurch Gebiete entstanden, in die hinein sich südeuropäische Bevölkerungen ausbreiten konnten. Das mag auch die genetische Einheitlichkeit des Oberkassel-Cluster über weite Teile Westeurasiens erklären.
A large-scale genetic turnover as early as 14 ka in central and western European hunter-gatherers associated with multiple techno-complexes - Federmesser, Azilian and other Final Palaeolithic groups - despite considerable technological continuity with the preceding late Magdalenian. This broadly distributed ancestry (the Oberkassel cluster (also known as WHG)) is most closely related to an Epigravettian-associated individual from northwestern Italy, suggesting that its expansion into continental Europe might have started from the west - and not the east - side of the Alps. Moreover, the almost complete genetic replacement of the Magdalenian-associated gene pool raises the hypothesis that parts of Europe were differentially populated during the abrupt climatic variation starting around 14.7 ka with the Bølling–Allerød warming period, creating areas where southern European populations could expand. This might also explain the genetic uniformity of the Oberkassel cluster across large parts of western Eurasia but genomic data from between 15 and 14 ka is needed to understand the exact dynamics of this turnover.

Damit wäre gesagt, daß die "klassischen" westeuropäischen Jäger und Sammler tatsächlich aus Norditalien stammen und vorhergehende Völker abgelöst haben, daß aber auch schon diese vorhergehenden, ihnen genetisch nahverwandten Völker vom Balkan stammten und noch ältere Völker, die vor dem Höhepunkt der Eiszeit in Europa lebten, abgelöst hatten. Über diese "modernere" Oberkassel-Herkunftsgruppe wird ausgeführt (1):

Wir konnten alle Individuen des Oberkassel-Cluster modellieren als eine gleichmäßige Vermischung von etwa 75 % Arene Candide (westeuropäische Jäger und Sammler) und 25 % Goyet Q-2. (...) Die Beobachtung, daß alle Individuen in der Zeit nach 14.000 vor heute aus West- und Mitteleuropa ebenso wie aus Britannien ein einheitliches genetisches Herkommen aufweisen statt wiederholte lokale Vermischungen mit der GoyetQ2-Herkunft aufzuweisen, legt nahe, daß das Oberkassel-Herkunftsprofil im Wesentlichen schon geformt worden ist vor seiner Ausbreitung. Das steht in scharfem Kontrast zur genetischen Geschichte der iberischen Jäger und Sammler, wo die Ausbreitung der Villabruna/Oberkassel-Herkunft in Verbindung steht mit mehrfachen lokalen Vermischungs-Ereignissen mit Gruppen mit hohen Anteilen von GoyetQ2-Herkunft. 
We could model all individuals from the Oberkassel cluster as a broadly constant mixture of approximately 75% Arene Candide and 25% Goyet Q-2 (or 90% Arene Candide 16 and 10% Fournol 85) (Fig. 4b and Supplementary Data 3.C). The observation that post-14 ka individuals from western and central Europe and also from Britain carry a homogeneous genetic makeup instead of displaying repeated local admixtures with GoyetQ2 ancestry implies that the Oberkassel-ancestry profile was already largely formed before its dispersal. This is in sharp contrast to the genetic history of Iberian hunter-gatherers, where the spread of the Villabruna/Oberkassel ancestry involved multiple local admixture events with groups carrying high proportions of GoyetQ2 ancestry.

Wir sehen also zwei Arten der Ausbreitung der Villabruna/Oberkassel-Herkunft innerhalb von Europa. Die uns schon bekannten "klassischen" westeuropäischen Jäger und Sammler wie sie dann bis in neolithische Zeit weiter bestanden in Europa, hier benannt als Oberkassel-Herkunftsgruppe, sind also eigentlich eine Mischung aus 75 % Villabruna-Herkunft und 25 % GoyetQ2-Herkunft. Oder wie es im Anhang dazu heißt (1, Anhang, S. 101):

Die Arene Candide-Herkunft ist vorherrschend in Populationen nach 14.000 vor heute in West- und Mitteleuropa mit einem Anteil von etwa 88 %.
The "Arene Candide 16" ancestry is dominant in post-14 ka populations from western and central Europe, consistent with ~88% (81.7-90.3%).

Es ist also wahrlich nicht ganz einfach, in dieser komplexen Völkergeschichte der Eiszeit den Überblick zu behalten.

Die Sidelkino-Herkunftsgruppe entsteht

Auch zur Ethnogenese der hälftigen Vorfahrengruppe der nachmaligen Indogermanen, nämlich der "osteuropäischen Jäger und Sammler" gibt es neue Mutmaßungen.

Abb. 5: Von Sidelkino nach Chwalysnk über die große Wolga-Schleife bei Samara hinweg (GMaps)

Es wird dazu das folgende ausgeführt (1):

Wir können die Annahme erhärten und bestätigen, daß die osteuropäischen Jäger und Sammler in Osteuropa eine Vermischung repräsentieren aus Villabruna/Oberkassel-Herkunft mit Ancient North Eurasian-Herkunft. (...) Das älteste Individuum, das das unverwechselbare genetische Profil der Yuhniy Oleniy Ostrov-Gruppe aufweist, ist das 11.000 Jahre alte Sidelkino-Individuum von Samara in Westrußland. 
We confirm that EHG populations in eastern Europe are a mixture of Villabruna/Oberkassel and ANE ancestries (Supplementary Information, section 11 and Supplementary Data 2.K). F4-statistics also show that the approximately 8.2 ka Yuzhniy Oleniy Ostrov group from Karelia in western Russia formed by 19 genomes has comparable or lower affinity to Villabruna ancestry than all the other EHG groups (Supplementary Data 2.K). The oldest individual revealing an indistinguishable genetic profile from the Yuzhniy Oleniy Ostrov group is the 11 ka Sidelkino individual from Samara in western Russia. For consistency with the previously discussed nomenclature, we rename the EHG ancestry as the Sidelkino cluster (hereafter, Sidelkino cluster or ancestry). The genetic distinction between the Oberkassel and Sidelkino clusters is also clearly noticeable in the diversity of uniparentally inherited markers, as the Oberkassel cluster is dominated by mtDNA haplogroup U5 and Y-chromosome haplogroup I, whereas individuals from the Sidelkino cluster show a higher frequency of mtDNA haplogroups U2, U4 and R1b, and carry uniquely Y-chromosome haplogroups Q, R and J.

In der hier genannten Ancient North Eurasian-Herkunft trat zum ersten mal blonde Haarfarbe in der Menschheitsgeschichte auf, und zwar im Afontova Gora 2-Individuum, das vor 15.000 Jahren am Jenissei in Sibirien gelebt hat (Stgen2017). Im folgenden ist aber vom Afontova Gora 3-Individuum die Rede. Diese Ancient North Eurasien-Herkunftsgruppe bildet, das muß man beachten, nicht nur die eine Hälfte der Herkunft der Indogermanen, sondern trägt auch zur Herkunft der Ureinwohner Amerikas bei. Sie ist also noch als eine sehr urtümliche Herkunftsgruppe einzuschätzen. 

Der Ausgrabungsort Sidelkino, wo vor 11.000 Jahren die bislang ältesten uns bekannten Menschen der Vorfahrengruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler lebten, liegt 380 Kilometer nördlich von Chwalynsk, also 380 Kilometer nördlich jener Region, in der diese Herkunftsgruppe - sechstausend Jahre später - durch Vermischung mit iranischen Rinderherdenzüchtern von den Ufern des Kaspischen Meeres um 4.700 v. Ztr. das Urvolk der Indogermanen bilden sollte (s. Abb. 5) (GMaps). Diese Herkunftsgruppe sollte etwa hälftig auch zur Genetik der mesolithischen Völker im Ostseeraum beitragen, sowie sich bis auf den Balkan verbreiten (ab etwa 8.000 v. Ztr.), ja, sogar in kleinen Anteilen bis nach Nordspanien. 

Im Anhang, auf den man sich im eben gebrachten Zitat bezieht, heißt es genauer (1, Anhang, S. 103):

Wir modellieren die Sidelkino-Gruppe, indem wir entweder das Villabruna-Individuum oder die Oberkassel-Gruppe als eine Herkunfts-Quelle annehmen und das Afontova Gora 3-Individuum als andere Herkunfts-Quelle. (...) Wir finden, daß für die meisten Populationen Anteile geschätzt werden können von etwa 30 % Villabruna/Oberkassel-Herkunft und 70 %  Ancient North Eurasian-Herkunft.
We therefore model the Sidelkino individuals/groups using either the Villabruna individual or the Oberkassel group as one source, and the Afontova Gora 3 individual as the other source. (...) We find that most populations are estimated to carry ~30% Villabruna/Oberkassel ancestry and 70% ANE ancestry, similar to previous studies.

Mit dieser Angabe erhält die Geschichte dieser für uns heutige Europäer so wichtigen - aber kulturell noch nicht so gut bekannten - Herkunftsgruppe der osteuropäischen Jäger und Sammler eine neue Tiefendimension. Und wir erfahren, daß die westeuropäischen Jäger und Sammler - oder eine ihnen ähnliche Gruppe - an ihrer Ethnogenese einen wichtigen Anteil hatten. Allerdings ist das das letzte Wort zur Ethnogenese dieser Vorfahrengruppe noch nicht gesprochen wie dann weiter ausgeführt wird (1, Anhang, S. 103):

Das Modellieren mißlingt aber in letzter Instanz für fast alle Kombinationen von Herkunftsgruppen, was nahelegt, daß weder Villabruna noch Oberkassel in angemessener Weise jene genetische Herkunft repräsentieren, die zur Sidelkino-Herkunft beitrug. Wir mutmaßen, daß die Ausbreitung einer bislang durch Sequenzierungen noch nicht erfaßten Epigravettien-Population das genetische Profil der osteuropäischen Jäger und Sammler beeinflußt haben könnte. (...) Die Sidelkino- und Oberkassel-Herkunftsgruppe mögen sich ungefähr in derselben Zeit geformt haben. Diese beiden (genetisch) stark unterschiedlichen Herkunftsgruppen blieben im Wesentlichen getrennt voneinander in ihren jeweiligen geographischen Regionen bis ungefähr 8.000 vor heute, ab hier sehen wir erste Ost-West-Vermischungen.  
However, the modelling fails for almost all source and population combinations (p << 0.05), suggesting that neither Villabruna nor Oberkassel appropriately represent the genetic ancestry that contributed to the Sidelkino ancestry. We speculate that the expansion of a yet unsampled Epigravettian-related population might have influenced the genetic profile of eastern European hunter-gatherers. While in western and central Europe we observe a large-scale genetic replacement with the arrival of the Oberkassel ancestry, in eastern Europe there was possibly a substantial admixture with the ANE ancestry resulting in the formation of the Sidelkino cluster. (...) The Sidelkino and Oberkassel ancestries might have formed around the same time. These two highly distinct ancestries remained largely separated in their respective geographic regions until as late as ~8 ka, when we start observing east-west admixture events.

Ein abschließendes Bild zur Ethnogenese der osteuropäischen Jäger und Sammler ist also noch nicht zu gewinnen. Und wir lesen (1):

Die Vermischung zwischen Villabruna/Oberkasse und ANE-Herkunft schätzen wir auf die Zeit zwischen 15.000 und 13.000 vor heute, was grob zusammen fällt mit dem ersten Auftreten der Oberkassel-Herkunft in Mitteleuropa. Dies wirft die Möglichkeit auf, daß das Replacement durch das Oberkassel-Cluster und die Formierung des Sidelkino-Cluster das Ergebnis von Populations-Ausbreitungen war, die durch die abrupte Klimaerwärmung während des Bølling–Allerød-Interstadial beeinflußt waren.
We estimated the admixture between Villabruna/Oberkassel and ANE ancestries in these old Sidelkino-cluster-related individuals to around 15-13 ka (Extended Data Fig. 7 and Supplementary Table 3), which coincides roughly with the first appearance of the Oberkassel ancestry in central Europe. This raises the possibility that the replacement by the Oberkassel cluster and the formation of the Sidelkino cluster might have been the result of population expansions influenced by the abrupt warming during the Bølling–Allerød interstadial.

Hier wird - wie an mehreren Stellen in der Studie - deutlich, wie sehr die Völkergeschichte Europas während der Eiszeit in Zusammenhang steht mit Klimaschwankungen. Vielleicht erstreckt sich dieser Einfluß des Klimas auch noch auf die Ausbreitung der ersten mediterranen Bauern bis an den Nordrand der Mittelgebirge (bis 5.000 v. Ztr.), die ja ebenfalls mit einem vergleichsweise warmen Klima verbunden war. Europa war damals von Lindenwäldern dominiert. Und vielleicht stehen die Ethnogenesen am Beginn des Mittelneolithikums (ab 4.900 v. Ztr.) tatsächlich auch mit einer Abkühlung des Klimas in Zusammenhang, mit der die verbliebenen einheimischen Jäger-Sammler-Bevölkerungen besser zurecht gekommen sein mögen.

Unsere Zwischenfrage: Was ist mit den Jäger-Sammlern der Karpaten?

Was uns aber bei den eben genannten Modellierungen wundert: Schon zuvor war im Anhang bezüglich einer noch unbekannten Jäger-Sammler-Herkunftsgruppe im südöstlichen Europa gemutmaßt worden. Auf deren genetisches Profil waren wir aber doch hier auf dem Blog schon mehrfach in verschiedenen Studien gestoßen, nämlich als "Körös-Jäger-Sammler", als Jäger und Sammler des Oberen Theiß-Gebietes (Stgen2022a), bzw. der Westkarpaten, bzw. als Balkan-Jäger-Sammler (Stgen2022b), deren Herkunft sich noch bei den heutigen Griechen findet. Kein Wort von dieser Herkunftsgruppe - soweit wir das übersehen - in dieser neuen Studie (1). 

Hier wird man wohl weitere Forschungen abwarten müssen. Noch einmal grundsätzlicher: Der Gang der Forschung ist ja, daß man zunächst einmal sehr viele Skelettfunde der ersten Bauern Mitteleuropas aus dem Frühneolithikum sequenziert hat (der Bandkeramiker). Man hat deren Herkunft aus Anatolien verstanden und hat sich von dort aus zunächst in das zeitlich jüngere Mittel- und Spätneolithikum und in die Bronzezeit vorgearbeitet. Und man hat geographisch auch die Außenbereiche Europas und darüber hinaus durch Sequenzierungen von Skelettfunden erkundet. Mit dieser neuen Studie nun arbeitet man sich im Verständnis der Zeit nach erstmals umfangreicher in umgekehrte Richtung vor, nämlich immer tiefer in die Eiszeit hinein. Daß sich das Bild der Völkergeschichte von vielen Jahrtausenden - entsprechend dieses Ganges der Forschung - erst schrittweise und allmählich formen kann, ist völlig klar. Und daß scharf umrissene mesolithische Völker auf Vorgänger-Völker zurückzuführen sein müssen, die mitunter bis jetzt noch nicht so klar umrissen sind, wird zumindest in dieser Studie schon einmal recht deutlich.

Es ist dann noch die Rede von der Ausbreitung von Sidelkino-Herkunft bis nach Nordspanien und umgekehrt Oberkassel-Herkunft bis in die Samara-Region um 4.500 v. Ztr.. Das ist nun schon diesselbe Zeit, in der sich in Mitteleuropa die Bandkeramiker ausbreiteten (1):

Nach 5.500 v. Ztr. (...). In dieser Zeit breitet sich die Oberkassel-Herkunfts-Vermischung noch weiter nach Osten aus, wobei sie die Samara-Region um 4.500 v. Ztr. erreicht. Gleichzeitig wird ein Zuwachs an Sidelkino-Herkunft bei den Jägern und Sammlern in den baltischen Ländern beobachtet, was bislang in Verbindung gebracht worden ist mit einem Übergang der Narva-Kultur zur Kammkeramischen Kultur.    
After 7.5 ka, as ANF ancestry had reached regions north of the Alps, individuals carrying a hunter-gatherer genetic profile were primarily restricted to the northern fringes of Europe (Fig. 5). In this period, the Oberkassel-ancestry admixture spread further east, reaching Samara by around 6.5 ka, and an increase in Sidelkino ancestry was detected in hunter-gatherers from the Baltic region, which was previously associated with the transition from the Narva culture to the Comb Ceramic culture.

Also zur selben Zeit, in der sich osteuropäische Jäger und Sammler südlich der großen Wolga-Schleife bei Samara mit iranischen Rinderzüchtern vom Kaspischen Meer vermischen, vermischen sich also nördlich der großen Wolga-Schleife ihre genetischen Verwandten mit einem Jäger- und Sammler-Volk, das von Westen kommt. - Wir hatten ja schon gesehen, daß sich auch die Goyet-Herkunftsgruppe vergleichsweise weit bis Osten ausgebreitet hatte, bis in die Gegend von Krakau. 

Altertümlich: Dunkle Haut und helle Augen - Helle Haut und dunkle Augen

Von den angeborenen Körpermerkmalen haben sich die west- und die osteuropäischen Jäger und Sammler - das war schon zuvor bekannt - deutlich unterschieden. Die neue Studie bekräftigt diese Erkenntnis (1):

Was die helle Augenfarbe betrifft, zeigen Individuen des Villabruna-Cluster, des Oberkassel-Cluster, der baltischen und skandinavischen Jäger und Sammler hohe Häufigkeiten des abgeleiteten Allels (>90%), das für grüne oder blaue Augenfarbe verantwortlich ist, während das Sidelkino-Cluster, die ukrainischen Jäger und Sammler und Jäger und Sammler-Gruppen vom Eisernen Tor eine niedrige Häufigkeit dieses Allels aufweisen (10 bis 25 %). Dagegen zeigen die beiden SNP's, die mit Hautfarbe in Verbindung stehen, für das Sidelkino-Cluster und die ukrainischen Jäger und Sammler eine hohe Häufigkeit von abgeleiteten Allelen, die mit heller Hautfarbe in Verbindung stehen, während diese im Oberkassel- und Villabruna-Cluster fast gänzlich fehlen.   
For the SNP associated with light eye colour (HERC2/OCA2 (rs12913832)), individuals from the Villabruna cluster, Oberkassel cluster, Baltic HG and SHG groups show high frequencies of the derived allele (>90%), which is responsible for the green or blue eye phenotype, whereas Sidelkino cluster, Ukraine HG and Iron Gates HG groups show low occurrence of this allele (10–25%). Instead, for the two SNPs associated with skin colour (SLC24A5 (rs1426654) and SLC45A2 (rs16891982)), Sidelkino cluster and Ukraine HG groups show a higher frequency (>90% for SLC24A5 and 29–61% for SLC45A2) of the derived alleles related to light skin colour, compared with Oberkassel and Villabruna clusters, where those alleles are almost completely absent (<1%). 

Beide Kombinationen von Körpermerkmalen gibt es im heutigen Europa eher selten. Dieser Umstand macht darauf aufmerksam, daß es zwischen Neolithikum und Bronzezeit bezüglich von angeborenen Körpermerkmalen - und auch von hier noch nicht behandelten angeborenen psychischen Merkmalen - viele "Umgruppierungen" gegeben hat, die zur Ethnogenese der heutigen, modernen Völker beigetragen haben, wobei sich in Völkern dann auch noch seit der Bronzezeit Häufigkeiten von angeborenen Merkmalen deutlich ändern konnten. 

Das sind alles Vorgänge von "jüngster Humanevolution", von "Gen-Kultur-Koevolution", die innerhalb von etwa tausend Jahren deutliche Änderungen mit sich bringen kann, wie es Charles Lumbsden und Edward O. Wilson schon 1981 theoretisch vorausgesagt hatten (4) (was damals von S. J. Gould in sehr auffälliger Weise schlecht gemacht worden war [NYBooks]), für die man aber seit etwa dem Jahr 2000 immer mehr empirische Daten findet, seit nämlich das menschliche Genom vollständig sequenziert ist (5). 

Die Generation von Konrad Lorenz war stattdessen noch vom "Mammutjäger in der Metro" ausgegangen, der sich in angeborenen Verhaltensmustern nicht wesentlich geändert habe. Wir sehen jedoch heute in Bezug auf viele wichtige Merkmale (auch Intelligenz, psychische Sensibilität, Verdauung) sehr deutliche genetische Häufigkeitsverschiebungen in den letzten 6000 Jahren.

Somit werden wir hier darauf aufmerksam, daß wir zwar von diesen beiden sehr urtümlichen Völkergruppen noch Erbgut in uns tragen, daß wir aber von unserem eigenen genetischen Profil her dennoch zu ganz anderen Völkern gehören. 

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*) Im Anhang verzeichnet als (1, Anhang, S. 20f): 

Hohle Fels, Germany - Nicholas Conard Analyzed individuals: HohleFels10_79 (HF 79 IIb 876,HF 10 Ic 405): 15975-14286 calBP calBP; HohleFels49 (HF 49 Ib1 66): 15878-15311 calBP. Archeological description previously published in Posth et al., 2016 and Fu et al., 2016.

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  1. Posth, C., Yu, H., Ghalichi, A. et al. Palaeogenomics of Upper Palaeolithic to Neolithic European hunter-gatherers. Nature 615, 117–126, 1.3.2023. https://doi.org/10.1038/s41586-023-05726-0 (Nature2023)
  2. Jacob, Sandra: Überleben in der Eiszeit. Größte Genomanalyse eiszeitlicher Vorfahren zeigt Wanderbewegungen der Jäger und Sammler über einen Zeitraum von 30.000 Jahren. Presseerklärung, MPI für evolut. Anthropologie, 1.3.23, https://www.mpg.de/19929890/0222-evan-ueberleben-in-der-eiszeit-150495-x.
  3. Zimmer, Carl: Ancient DNA reveals History of Hunter-Gatherers in Europe. NYT, 1.3.23, https://www.nytimes.com/2023/03/01/science/dna-hunter-gatherers-europe.html
  4. Charles J. Lumsden, Edward O. Wilson: Genes, Mind and Culture: The Coevolutionary Process. Harvard University Press, 1981
  5. Bading, Ingo: 200.000 Years of Human Evolution. 2007 (Academia, Researchgate, Lulu)