Montag, 31. Mai 2021

Britische Fairness in der Archäologie? - Colin Renfrew verkörpert sie

"Gustaf Kossinna lacht," so hatte man es 2017 gehört (1). Ein Wissenschaftler aber behielt Haltung: Colin Renfrew. Er war und blieb "very british", "very old school", vom Geist wissenschaftlicher Fairness durchdrungen. Er hielt einen Vortrag in Chicago, betitel "Marija Gimbutas quicklebendig" . . . (2).
- Ein Jahr später brachte ein anderer Archäologe in Wien die Dinge ebenfalls sehr klar auf den Punkt (4).

Nur wenige Wissenschaftler wird es geben in der Welt, die das Scheitern des wichtigsten Grundgedankens ihres wissenschaftlichen Lebens mit einer solchen Gelassenheit, Ruhe und inneren Überlegenheit zur Kenntnis nehmen und vortragen wie das der britische Archäologe Sir Colin Renfrew (geb. 1937)  in einem Vortrag in Chicago im Jahr 2017 getan hat (2).*)


Der weltweit sehr angesehene britische Archäologe Sir Colin Renfrew, sollten wir ergänzen. Die hier eingenommene menschliche Haltung darf man vorbildlich nennen. Keineswegs überall begegnet man ihr. In diesem Vortrag referiert Colin Renfrew schwere bis schwerste Einschläge auf dem Schlachtschiff seines wissenschaftlilchen Grundgedankens, genannt "Anatolien-Hypothese" (nämlich für die Ausbreitung der indogermanischen Sprachen). 

Für völlig gesunken hält er das Schlachtschiff am Ende seines Vortrages noch nicht. Aber man merkt dem Vortrag schon an, daß dem Vortragenden Zukünftiges schwant und daß er auf vieles gefaßt ist ....  Und der Vortrag fand statt im November 2017 . . .

Mit welcher Großzügigkeit Renfrew spricht. Das mutet uns nicht nur "very british" an, sondern geradezu "very old school". .... Gelassener Freiraum, gelassene Fairness im Ideen-Wettbewerb ....   Gelassene Fairness im Erkenntnisstreben auch rund um große Perspektiven zur Menschheitsgeschichte. Wie kann man in der Nähe solcher Menschen aufatmen. 

Kein Millimeter "Ideologe"

Von "Ideologie" und von Klammern an ideologische Grundpositionen keine Spur. Nicht die geringste. (Denn was ist Ideologie? Das Aufrechterhalten von Grundeinsichten auch dann, wenn sie längst vom wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt widerlegt und überholt sind ....) In Minute 11 sagt Renfrew als Kernsätze seines Vortrages (zitiert in Paraphrase) (2):

Die Archäogenetik hat einige der Theorien von Marija Gimbutas wiederbelebt. Hätte ich diese Vorlesung vor drei oder vier Jahren gehalten, hätte ich sie mit sehr vielen kritischen Äußerungen über Marija Gimbutas beendet. Aber Sie werden sehen, daß gerade sie am Ende als der trimphierende Vorläufer dessen dastehen wird, was wir heute an Erkenntnissen in den wissenschaftlichen Laboren gewinnen.

Wie er einleitend erzählte, kannte Renfrew Marija Gimbutas persönlich und verbindet schöne Erinnerungen mit ihr. Seinen Vortrag hat er beitelt "Marija Revidiva". Das ist Latein und könnte etwas frei übersetzt werden mit: "Marija - jung und quicklebendig".

Der Bloginhaber hatte just zur selben Zeit - im November 2017 - in seinem Aufsatz "Kossinna lacht - Er lacht und lacht und lacht" neben einer Fülle von neuen Detail-Erkenntnissen (Wiki) auch menschlichen Gefühlen einen Ausdruck gegeben, die man haben kann im Angesicht dieser großen Wende in der Wissenschaftsgeschichte (2). Gefühle des von Renfrew schon genannten Triumphes waren hier ebenso beigemischt wie Gefühle von mancherlei Trauer und Scham über das kleingeistige Verhalten von so vielen "besiegten" deutschen Archäologen. 

Marija - jung und quicklebendig

Deren dort referiertes Verhalten sticht ja nun noch einmal um so deutlicher ab, um so mehr man sehen kann, wie ruhig und gelassen der "große" Colin Renfrew im Angesicht dieser Wende der Wissenschaftsgeschichte bleibt, wie er Fassung und Haltung völlig bewahrt.

Wie außerordentlich integer - nobel, "britisch", weit über der Sache stehend, humorvoll, großzügig, sachlich - einfach angemessen auf die Neuerkenntnisse dieser Revolution reagierend spricht Renfrew.  Er hadert nicht lange. Er redet nicht lange um den heißen Brei herum. Er vesinkt nicht in Ohnmacht. Er schreit nicht die Himmel an in Verzweiflung. (Man erinnere sich an die damalige verzweifelte Frage eines deutschen Archäologen: "Wolf im Schafspelz oder Schaf im Wolfspelz?" [1] Wer so fragt, schreit in der Tat die Himmel an in Verzweiflung.)

Eine solche Art mit den Dingen umzugehen und einen solchen Vortrag wie den von Renfrew (2) darf man feiern. So geht Wissenschaft. So geht Wissenschaft also - auch. Doch. Das ist eine Größe, die ihr - dem Prinzip nach - innewohnt und der sich anzunähern uns wissenschaftsnahen Menschen allen möglich ist, wozu wir auch aufgefordert sind.

Und was für eine exzellentes Oxford-Englisch Renfrew spricht! Entspringt sie diesem Oxford-Englisch, diese britische Fairness? Oh, Sprache ist voller Geheimnisse. Schon aus diesem Grund jedenfalls ist es ein Genuß, ihm zuzuhören.

Renfrew gab Dergachev Anregung

Und all das sagt er, obwohl gerade er, er - mit seiner Anatolien-Hypothese - als der "Haupt-Leidtragende" jener Revolution zu benennen ist, die er referiert. Er ist derjenige, der den größten Verlust zu bedauern und zu betrauern hat, den wichtigsten Grundgedanken seines Lebens. Und Renfrew erkennt den - etwaigen - Tod seines Lebenswerkes mit einer solchen Weite des Herzens an, ohne alles Zaudern, ohne alles Zagen, ohne alle Bitternis, ohne jede Häme. 

Von nicht vielen Wissenschaftler erfährt man eine solche Haltung. Wir geben zu: Renfrew (und den Genetiker Cavalli-Sforza, mit dem er zusammen arbeitete), sie hatten wir beide nie für voll genommen - gerade weil sie (in unseren Augen verbohrt und so viele Detail-Erkenntnisse unberücksichtigt lassend) die Anatolien-Hypothese so lange Jahre vertreten hatten.

Aber dieser Vortrag beeindruckt uns jetzt doch. Und dieser Umstand ruft uns in Erinnerung, daß es ja gerade auch Colin Renfrew war, der den moldavischen Archäologen Vladimir Dergachev im Sommer 1999 um einen Tagungsbeitrag gebeten hatte, auf daß der Forschungsstand auf einer Tagung auch im Sinne der Thesen von Marija Gimbutas vorgetragen würde. Und aus diesem Tagungsbeitrag erst ist später das wertvolle Buch von Dergachev des Jahres 2007 hervorgegangen. Renfrew stand offenbar schon immer über gar zu kleinlichem Hader. So kann  offenbar aus diesem Umstand abgelesen werden. 

Noch blieb eine Hintertür . . .

Ab Minute 47 (2) behandelt Renfrew die Genetik. Er berichtet, daß der Titel der wichtigsten archäogenetischen Studie des Jahres 2015, die die wissenschaftsgeschichtliche Wende einleitete

"Massive Ausbreitungsbewegungen aus der Steppe heraus sind die Quelle für die indoeuropäischen Sprachen in Europa"
den beteiligten Archäologen in dieser Form zu voreilig gewesen wäre ("jumping to many guns"). Deshalb sei der Titel umformuliert worden und deshalb sei in der Veröffentlichung im Titel nur noch von "einer Quelle" die Rede. Allerdings fragt man sich auch an dieser Stelle wieder erstaunt: Welche andere Quelle für sie sollte es geben? 

Nun, in Minute 56 läßt Renfrew die Frage offen, ob nicht doch die Steppen-Genetik zuerst in Anatolien beheimatet war, sich von dort nach der Steppe ausgebreitet hat und dann erst von dort aus weiter ausgebreitet hat. In diesem Sinne wäre es also recht zu sagen, daß es eine "weitere Quelle" für die indoeuropäischen Sprachen geben könnte.

Ob im Jahr 2021, dreieinhalb Jahre nach diesem Vortrag das noch jemand glaubt, bleibe dahin gestellt. Aber dieses kleine Schlupfloch gab es 2017 wohl tatsächlich noch.

Und übrigens: Aus der Grafik in Minute 59:38 (2) wäre zu folgern: Die Glockenbecher entstanden im nördlichen Ungarn und in der Slowakei.

"Gold, Genetik, Gesellschaft" (2017)

Abb. 1: Gold, Genetik ...

Ergänzung 24.9.21: Schon am 30.9.2017 hatte die Wiener Archäologin Barbara Horejs (geb. 1976) (Wiki) in Traunkirchen einen Vortrag gehalten mit dem spannenden Titel "Gold, Genetik, Gesellschaft - Aktuelles zu Naturwissenschaften und Technik in der Archäologie" (Salzi). 

Sie organisierte mit anderen Fachkollegen am 14. und 15. Dezember 2018 in Wien eine Archäologen-Tagung zu dem Thema "Genes, Isotopes and Artefacts - How should we interpret the movements of people throughout Bronze Age Europe?" (3).

Zu dieser sprach sie auch die einleitenden Worte (Yt), in denen sie klar von einer Revolution in der Archäologie durch die Archäogenetik spricht. Horejis forscht vornehmlich zur kupfer- und bronzezeitlichen Archäologie Griechenlands, Anatoliens und des Balkans. Ihren Magister Artium hat sie 2002, ihren Dr. phil 2005 an der FU Berlin bei Bernhard Hänsel abgelegt (CV pdf).

2013 bis 2020 war sie Direktorin des Instituts für Orientalische und Europäische Archäologie, seit 2021 ist sie Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts, beide an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (OEAW, Uni Tübingen). In einem Podcast, der jüngst mit ihr gesendet wurde, kann man erleben, wie differenziert sie sich ausdrückt und die Forschungsergebnisse beschreibt (4).

Den wichtigsten Vortrag auf der genannten Konferenz in Wien im Dezember 1918 hielt aber der dänisch-schwedische Archäologe Kristian Kristiansen (5). Von den neun eingestellten Vorträgen dieser Tagung ist sein Vortrag der am häufigsten aufgerufene (über 3000 mal).

Er faßt den Erkenntnisstand des Jahres 2018 in der Tat auch schon sehr eindruckvoll zusammen und ist recht sozusagen "unverfroren", was Deutungen dieses Forschungsstandes betrifft. Er spricht klarer Worte aus zu ihm als die meisten anderen Wissenschaftler bis heute (Abb. 2). 

Abb. 2: Aus der Zusammenfassung des Vortrages von Kristian Kristiansen (5)

Kristiansen sagt (Abb. 2) (5):

Ausbreitungsbewegungen und ethnische Gewalt vollziehen sich entsprechend einem Jahrtausende alten Muster von 1) Massenmord ganzer Gemeinschaften/Gruppen, 2) dem Töten von Männern und der Entführung von Frauen jeweils von außerhalb der eigenen ethnischen Gruppierung.
- Ethnische Identitäten sind stark während der Ausbreitung und der Ansiedlung, ebenso wie das Kriegertum der Männer (Schnurkeramiker)
(...)
- Die Ideologie spricht Belohnung durch die Götter zu, wenn Krieger neue Territorien erobern. So ist es enthalten in den mythischen Erzählungen und Ritualen indoeuropäischer Erzählungen von Krieger-Heroen.

Am Ende führt Kristiansen noch einmal aus, in welcher Hinsicht Marija Gimbutas recht behalten hat.

_______________

*) Auf diesen Vortrag wird man übrigens aufmerksam, wenn man den Anfang des neuesten Interviews mit dem Sprachhistoriker Harald Haarmann hört. Ein Interview, das ansonsten aber der Eigenwilligkeiten, ja, des Festhaltens an längst erkannten Irrtümern von Seiten von Haarmann genügende aufzeigt - aber das gehört ganz woanders hin.

_____________________________

  1. Bading, Ingo: Kossinna lacht, er lacht und lacht und lacht, November 2017, https://studgendeutsch.blogspot.com/2017/11/kossinna-lacht-er-lacht-und-lacht-und.html.
  2. Lord Colin Renfrew: Marija Rediviva - DNA and Indo-European Origins. The First Marija Gimbutas Memorial Lecture. The Oriental Institute, Chicago, 8.11.2017; veröffentlicht 14.03.2018, https://youtu.be/pmv3J55bdZc?t=330.  
  3. "Genes, Isotopes and Artefacts - How should we interpret the movements of people throughout Bronze Age Europe?" Archäologen-Konferenz unter der Leitung von Barbara Horejs (Direktorin der OREA), Claudio Cavazzuti und Benjamin Roberts, organisiert von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 14./15.12.2018 in Wien, https://www.oeaw.ac.at/detail/news/bronzezeit-in-bewegung, https://www.oeaw.ac.at/en/detail/news/genes-isotopes-and-artefacts
  4. Erklär mir, wie wir sesshaft wurden, Barbara Horejs. Podcast, 22. Juni 2021, https://erklaermir.simplecast.com/episodes/172
  5. Kristiansen, Kristian: Genes, diseases, and migrations: what relationship? Indo-European expansions reconsidered. Vortrag auf der Archäologie-Konferenz "Genes, Isotopes and Artefacts - How should we interpret the movements of people throughout Bronze Age Europe?" am 14./15.12.2018 in Wien (siehe 3.) (Eingestellt 14.1.2019), https://youtu.be/oi1C1XMYU2Q.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen