Samstag, 19. Oktober 2019

"Deutschlands erste Fürsten starben wie Pharaonen"

Europäische Großreiche in der Spätbronzezeit 
- "Sie gingen weit über das hinaus, was die Römer 2000 Jahre später bei den Germanen vorfanden."

Bei der Beschäftigung mit der außerordentlich eindrucksvollen Kulturhöhe im Mittelmeerraum während der Bronzezeit - insbesondere der minoischen Kultur (Abb. 1) (7) - darf man heute immer gerne auch Schlußfolgerungen ziehen in Hinsicht auf die kulturellen Verhältnisse im zeitgleichen Mittel- und Nordeuropa. Denn das kulturelle Gefälle vom Mittelmeerraum aus Richtung Norden war keinesfalls so stark, wie das in der Forschung so lange Jahrzehnte hinweg wahrgenommen worden ist. In der Wissenschaft - und sogar in der Wissenschaftsberichterstattung - setzt sich diese neue Sichtweise derzeit immer stärker durch. Darauf haben wir schon in dem gestrigen Blogartikel hingewiesen.

Abb. 1: Die Wandmalereien von Thera, um 1600 v. Ztr. - Umschlagbild eines eindrucksvollen Buches, das auch auf Deutsch erschienen ist (1999) (7)

Und das sei hier noch einmal ergänzt. Schon 2016 hat Berthold Seewald in der "Welt" getitelt (6): "Deutschlands erste Fürsten starben wie Pharaonen" (6). Er schrieb über die Ausgrabung des "Bornhöck" genannten Grabhügels bei Halle an der Saale (Wiki) (aus der Zeit um 1800 v. Ztr.) (6):

"Hier lag das Zentrum eines hierarchisch gegliederten Reiches",

also eines solchen Großreiches wie es diese zeitgleich auch im Mittelmeerraum gegeben hat. Diese Wahrnemung bildete den Ausgangspunkt und die Grundlage für den Blogartikel von gestern. Der Erforscher des Königsgrabhügels bei Halle ("Bornhöck"), der Archäologe Harald Meller ... (6)

... vergleicht die Anlage mit den Pyramiden des pharaonischen Ägypten. Nicht nur, daß die Goldbeigaben ihn als gottgleichen Herrscher ausweisen. Sondern auch Organisation und Ressourcen, die für den Bau eingesetzt wurden, belegen bereits eine soziale Differenzierung und Arbeitsteilung, die Herrschaft ermöglichte und dabei weit über das hinausgeht, was etwa die Römer 2000 Jahre später in Germanien vorfanden.

Wären also Wandmalereien erhalten aus dem Bereich Mittel- und Nordeuropas so wie sie aus dem zeitgleichen Mittelmeerraum erhalten sind (Abb. 1, 2), würde man ähnliche Farbenfreude feststellen wie dort, vielleicht auch ähnlich ausgeprägten, geradezu "modernen" Kunstsinn wie dort. - - - Über neue Entdeckungen im Westen Griechenlands seit 2015, die die Sichtweise auf die mykenische Kultur verändern (2), soll in diesem Sinne im weiteren Blogartikel berichtet werden.

Abb. 2: Jäger und Hirsch - Wandmalerei im "Palast des Nestor" bei Pylos in Westgriechenland, um 1400 v. Ztr. (Wiki)

Weltgeschichte ist ein Atemholen und Aushauchen des Weltgeistes. So hat es der deutsche Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) zum Ausdruck gebracht. Über dieses Atemholen und Aushauchen, über das Neuentstehen von Kulturen aus dem Untergang der vorherigen heraus, über das sich auch sein Freund Friedrich Hölderlin (1770-1843) sehr bewegt Gedanken gemacht hat (9), kommt es zum weltgeschichtlichen Fortschritt. Mit jedem Atemholen wird der Weltgeist und der ihn erfahrende menschliche Geist stärker im Bewußtsein der Freiheit. So zumindest diese beiden weltberühmten, deutschen Denker und Dichter, die - im Gegensatz zu ihren Nachfahren 200 Jahre später - voller Leben und Lebenszugewandtheit, voller Zuversicht waren (voller "Fortschrittsoptimismus" wie das ein weniger beflügelter Zeitgeist heute zu nennen beliebt).

Einen Blick auf ein solches Atmen des Weltgeistes erhalten wir auch durch die Beschäftigung mit dem "Grab des Greifen-Kriegers" (Wiki, engl), das 2015 bei Pylos in Westgriechenland entdeckt worden ist, und zwar an jener Ausgrabungsstätte - dem "Palast des Nestor" (Wiki, engl), die der deutsche Archäologe Carl Blegen 1939 entdeckt und ab den frühen 1950er Jahren über viele Jahrzehnte ausgegraben hat. 

Neu entdeckt: Das Grab des Greifen-Kriegers, 1450 v. Ztr. in Westgriechenland 

Das Grab wird auf die Zeit um 1450 v. Ztr. datiert, während der "Palast des Nestor" vermutlich erst hundert oder mehr Jahre später ganz in der Nähe dieses Grabes errichtet worden ist. Aufgrund seiner reichen Beigaben wird das Schachtgrab, in dem ein 30- bis 35-jähriger König begraben war, als die bedeutendste archäologische Entdeckung auf Festland-Griechenland seit vielen Jahrzehnten erachtet (1):

Unter den Beigaben sind Schmuckstücke aus Gold, eine perlengeschmückte Kette, Siegelringe, ein Bronzeschwert mit einem Griff aus Gold und Elfenbein, Silbervasen und Elfenbeinkämme. Die Schmuckstücke sind im minoischen Stil verziert - mit Götterfiguren, Tieren wie Löwen, Stieren und Adlern und floralen Mustern. Die Qualität der Beigaben belegte den Einfluß der Minoer auf die Mykener.

Rund um den "Palast des Nestor" finden sich eine Fülle von für die mykenische Zeit typischen "Tholoi-Gräbern", die aber alle schon vor vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden ausgeraubt worden sind. Sie waren - und sind ja - markant überirdisch sichtbar. Daß sich im Gegensatz dazu das Grab des Greifen-Kriegers unzerstört bis 2015 erhalten hat, liegt daran, daß ein Tholoi ganz in der Nähe zwar ausgeraubt worden ist, daß man dabei dieses Grab aber nicht entdeckt hatte und daß auch keiner der vielen Oliven-Bäume in seiner Umgebung mit seinen Wurzeln das Grab zerstört hat.

Abb. 3: Geradezu Jugendstil-mäßig stilisiert - und deshalb hochmodern - mutet an, was 3.500 Jahre alt ist: Eine 2015 entdeckte Kampfdarstellung auf einem 3,4-Zentimeter langen Siegelstein aus dem Grab des Greifenkriegers, 1450 v. Ztr. (Wiki)*)

Die zahlreichen Grabbeigaben in diesem Schachtgrab, die in ihrer Art bislang der bronzezeitlichen minoischen Kultur auf Kreta zugeordnet worden waren, verwischen für die Archäologen nun eine bislang als trennscharf wahrgenommene Grenzziehung zwischen der minoischen und der mykenischen Kultur um 1500 v. Ztr.. Darüber berichtet ein neuer Aufsatz in der Zeitschrift "Archaeology" aus dem Oktober 2019 (2):

"Die große Konzentration von Reichtum in einem Einzelgrab ist geradezu schockierend,"
sagt der US-amerikanische Archäologe Dimitri Nakassis. Und weiter (2):
"Man hatte bislang klare Grenzen ziehen können zwischen der minoischen und der mykenischen Kultur aber viele neuere Arbeiten weisen darauf hin, daß das unsere Kategorien sind, nicht ihre."
Hierbei darf man sich übrigens wieder daran erinnern, daß es ähnliche Vorgänge zu gleicher Zeit auch in Mitteleuropa gegeben haben kann, etwa was den Austausch zwischen der Aunjetitzer Kultur und der zeitgleichen bronzezeitlichen Kultur in Süddeutschland angeht (siehe voriger Blogartikel). Deutlich wird jedenfalls, daß der Übernahme von Kreta durch die Festland-mykenisch-griechische Kultur um 1400 v. Ztr. ein Jahrhundert intensiven kulturellen und wirtschaftlichen Austausches voran gegangen war (2):
"Über sechs Monate Ausgrabung hinweg entdeckte das Ausgräber-Ehepaar Stocker und Davis Bronzewaffen, handwerklich fein gearbeiteten Goldschmuck, Siegelsteine, Elfenbein-Einlagen, Perlen und vieles mehr zusammen mit einem Individuum, das 30 bis 35 Jahre alt war als es starb."
Für Gräber aus der Zeit um 2000 v. Ztr. ist es einfach, einen Minoer von einem Mykener zu unterscheiden. Bis 1500 v. Ztr. hat sich das deutlich geändert. Um 1600 v. Ztr. ist ein Aufblühen minoischer Kulturelemente auf dem griechischen Festland festzustellen (2):
"Es wurden Paläste gebaut, Reichtum sammelte sich an und an solchen Orten wie Pylos oder Mykene festigte sich die Macht."
Für mehrere Jahrhunderte ahmten die Mykener die Minoer nach auch was die Architektur betrifft. Sie übernahmen auch die Schrift von den Minoern, das "Linear A" und wandelten sie in das "Linear B" um. Eine Gesellschaft bestehend aus kleinen Dörfern in Mykene wandelte sich immer mehr um in eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft. Ausgräber Stocker (2):
"Der Greifen-Krieger sagt: 'Ich bin Teil dieser Welt der minoischen Kultur.' Mit diesem Grab bekommen wir eine Geschichte erzählt, die uns zuvor nicht zugänglich war."

Auf Kreta wurden pro Grab aus dieser Zeit höchstens ein oder zwei Siegelsteine gefunden. Sie wurden dort als administrative Zeichen ("Stempel") gedeutet. Aber hier in diesem Grab finden 50 solcher Siegelsteine! (Der eindrucksvollste siehe in Abb. 3.) War dieser Herrscher also ein Großkönig? - - - Wir brechen an dieser Stelle ab. Es sei noch erwähnt, daß von dem letzten König von Pylos vor dem Seevölkersturm um 1200 v. Ztr. sogar der Name bekannt ist: Enkheljāwōn (Wiki). Seine regionalen Besitzungen und Einnahmen, sowie sein Besitz von zwei Kriegsschiffen samt Ruderern sind schriftlich bis heute im gefundenen Palastarchiv überliefert. Solche Könige samt Kriegsschiffen sind für dieselbe Zeit - laut Felszeichnungen (letzter Blogbeitrag) - somit auch für die Fjorde Norwegens und Schwedens, sowie für die Nordseehäfen Dänemarks und Deutschlands vorauszusetzen.

Abschluß: "Laß vergehen, was vergeht!"

Die eingangs getroffene Feststellung, daß die europäischen Großreiche der Spätbronzezeit im Nordseeraum und in Deutschland "weit über das hinausgingen, was die Römer 2000 Jahre später bei den Germanen vorfanden", wirft eine Fülle von Fragen auf, mit denen der Autor dieser Zeilen befaßt ist, seit er 2002 das Buch von Joachim Latacz "Troia und Homer" aufgewühlt gelesen hat (8).

Denn: Der Geist der Bronzezeit, der vermutlich zwischen Nordsee und Mittelmeerraum ein sehr ähnlicher gewesen ist bis 1200 v. Ztr., scheint sich durch seine Verschriftlichung in der "Ilias" im antiken griechischen Kulturraum weitaus kraftvoller erhalten zu haben und zu neuer Blüte gelangt zu sein als in allen anderen Regionen Europas, einschließlich Mittelitaliens, wo noch viel länger als in Griechenland die mündliche Kulturüberlieferung vorherrschend blieb. Nämlich über die von Latacz behandelten Heldengesänge, als welche ursprünglich vermutlich auch die Gesänge der "Ilias" überliefert worden sind (8). In diesem Umstand scheint sich uns - nicht zuletzt - die unermeßliche Bedeutung von Schriftkultur für den Geist einer ganzen Region und einer Geschichtsepoche wiederzuspiegeln. Ohne Homer kein Griechenland. Und ohne Griechenland - - -? Die Gedanken stocken und können gar nicht zu Ende denken, was damit ausgesprochen wäre. All dies dürften Umstände genug sein, um zu umfassenderer geschichtsphilosophischer Deutung und Auslotung herauszufordern. Aber halten wir uns zum Schluß an den schon erwähnten Hölderlin:

"Laßt vergehn, was vergeht! Es vergeht, um wiederzukehren, es altert, um sich zu verjüngen, es trennt sich, um sich inniger zu vereinigen, es stirbt, um lebendiger zu werden."

Erlauben wir uns in diesem Sinne einen poetischen Schluß. Denn alle großen Gedanken sind poetischer Natur und münden in die Poesie: Griechenland ist tot, ja. Die deutsche Klassik ist tot, ja. Die Bronzezeit ist lange dahin, ja. Aber Jünglinge leben noch, die all das wieder zum Leben erwecken können hochgestimmten Herzens und voller Adel in der Seele.

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*)  Bitte das Bild vergrößern, um die hochgradig eindrucksvollen Darstellungen des getöteten Kriegers links unten, des jungen, langgelockten, siegesfrohen, voranstürmenden Kriegers in der Mitte, der dem mit einer Lanze bewaffneten Krieger rechts gerade das Schwert in die Brust stößt, voll in sich aufnehmen zu können. Auf 3,5 Zentimeter Länge eine solche Fülle von eindrucksvollem Geschehen und eindrucksvoller Charakteristik. Die Stimmung der jeweiligen Personen, die Art ihrer Bewaffung, ihr muskulöser Körperbau sind genau und eindrucksvoll gekennzeichnet. Nicht ganz klar ist, ob der Stoß der Lanze des rechten Kriegers am Körper seines Gegners vorbei geht oder ihn trifft. Aber wäre letzteres der Fall, müßte das Gesicht des mittleren Kriegers wohl mehr von Schmerzen erfüllt sein. - - - Es sei denn, es sollte hier sein Tod "lachendes Auges" dargestellt sein. Nicht völlig auszuschließen ist ja, daß hier dargestellt ist, wie der 30-jährige Greifen-Krieger selbst ums Leben kam, und daß der Künstler diese Szene miterlebt hat und beim Schaffen noch ganz von ihr erfüllt war. Es wird wohl gesagt werden dürfen, daß die Darstellung von einem sehr ähnlichen Geist erfüllt ist wie die "Ilias" des Homer, die 600 Jahre jünger ist.
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  1. Schmuck, Vasen, Kämme: Archäologen entdecken antiken Grabschatz. Focus Online, 27. Oktober 2015, https://www.focus.de/wissen/mensch/antiker-grabschatz-bedeutsamster-fund-seit-65-jahren-us-archaeologen-finden-in-griechenland-einen-schatz-mit-mehr-als-1400-beigaben_id_5043436.html
  2. Curry, Andrew: World of the Griffin Warrior. A single grave and its extraordinary contents are changing the way archaeologists view two great ancient Greek cultures. In: Archaeology, September/October 2019, https://www.archaeology.org/issues/352-1909/features/7900-greece-pylos-mycenaean-warrior-grave
  3. Archäologen finden künstlerisches Meisterwerk in einem 3500 Jahre alten Grab. In: Epoch Times, 19. November 2017 Aktualisiert: 1. Dezember 2018, https://www.epochtimes.de/wissen/forschung/archaeologen-finden-kuenstlerisches-meisterwerk-in-einem-3500-jahre-alten-grab-a2270623.html
  4. https://www.smithsonianmag.com/history/golden-warrior-greek-tomb-exposes-roots-western-civilization-180961441/ 
  5. Archäologen feiern spektakulären Fund in Griechenland, 20. Dezember 2017, https://www.sueddeutsche.de/wissen/archaeologie-archaeologen-gelingt-spektakulaerer-fund-in-griechenland-1.3793390
  6. Berthold Seewald: Deutschlands erste Fürsten starben wie Pharaonen. Die Welt, 29.08.2016, https://www.welt.de/geschichte/article157889662/Deutschlands-erste-Fuersten-starben-wie-Pharaonen.html 
  7. Christos Doumas u.a.: Die Wandmalereien von Thera. Metamorphosis Verlag, München 1999
  8. Latacz, Joachim: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. Koehler & Amelang, München u. a. 2001 (2. Auflage. ebenda 2001; 3., durchgesehene und verbesserte Auflage. ebenda 2001; 5., aktualisierte und erweiterte Auflage. ebenda 2005, 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. ebenda 2010)  
  9. Hölderlin, Friedrich: Das Werden im Vergehen (um 1800) (Zeno), https://www.textlog.de/15859.html

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